Im Hause Bohr
Niels Bohr ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Er kommt im Oktober 1885 als erster Sohn der Familie nach seiner Schwester Jenny (1883–1933) und vor seinem Bruder Harald (1887–1951) zur Welt. Die Eltern sind großzügige und großartige Menschen. Die Mutter, Ellen Adler, wird als liberal und intelligent bezeichnet, wobei die Tatsache, dass sie Jüdin ist, ihre Kinder zu Mitgliedern dieser Religion werden lässt, ohne dass dies für sie etwas bedeutet. Über Glaubenszugehörigkeit wird in der Familie nicht einmal am Rande gesprochen. Niels bleibt sein Leben lang unberührt von religiösen Gedanken und Gefühlen, und er orientiert sich am Leben seiner Eltern, die nicht kirchlich getraut worden sind und ihren Alltag säkular und sachlich bestreiten. Sein späterer Dialogpartner Einstein hingegen, der ebenfalls aus einem jüdischen Elternhaus stammt, betont immer wieder, dass er sich auch oder gerade als Wissenschaftler von den religiösen Ideen mit den entsprechenden Empfindungen nicht lösen könne.
Ellen Adlers Vater gehörte als Bankier und Politiker zu den wohlhabenden Männern in Dänemark. Die Familie Bohr bewohnte deshalb anfangs in Kopenhagen ein schönes Haus in der Ved Stranden 14, das zu den eleganten Gebäuden der Stadt zählte und dem Sitz des dänischen Parlaments gegenüberlag. Die Kinder wuchsen also unter bevorzugten Umständen auf, und zu ihrer behüteten Kindheit gehörten stets auch Kindermädchen und Dienstpersonal – sie genossen einen Lebensstandard, der vor der Industriellen Revolution und dem damit zusammenhängenden Wirtschaftswachstum undenkbar gewesen wäre.
Vater Christian arbeitete als Wissenschaftler auf dem Gebiet der Physiologie, bei dem es darum geht, die Lebensfunktionen des menschlichen Körpers zu verstehen, etwa den Transport von Sauerstoff durch das Blut und die damit gewährleistete Versorgung der Organe mit dem gasförmigen Element. Als Professor an der Universität Kopenhagen lernte er seine künftige Frau kennen, die als Studentin seine Vorlesungen besuchte. In seiner Funktion als Lehrstuhlinhaber war Christian Bohr berechtigt, eine große Wohnung in den Räumen der Chirurgischen Akademie zu beziehen. 1886 zog die Familie mit dem neugeborenen Niels dort ein, wobei dieser Wechsel langfristig angelegt war, da die Kinder von dort aus nur einen kurzen Weg zur Schule zurücklegen mussten.
Christian Bohr steht heute natürlich im Schatten seiner Söhne Niels und Harald (der als Mathematiker berühmt wurde). Wer aber im Lexikon das Stichwort »Bohr-Effekt« nachschlägt, findet auch einen Hinweis auf den Vater. Christian Bohr hatte bei seinen Messungen und Beobachtungen mit Patienten bemerkt, dass die Neigung von Sauerstoff, sich an den roten Blutfarbstoff, das Hämoglobin, zu binden, von der Anwesenheit von Kohlendioxid (CO2) im Blut abhängt. Der Bohr-Effekt sorgt letzten Endes dafür, dass Sauerstoff vor allem in den Geweben freikommt, in denen er gebraucht wird, weil dort große Aktivität (Stoffwechsel) herrscht. Seinem Entdecker ist für diese physiologisch relevante Einsicht in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts sogar eine besondere Ehre zuteilgeworden. Als einer der ersten Physiologen wurde Christian Bohr für den damals neu eingerichteten Nobelpreis für Medizin vorgeschlagen. Sein früher Tod im Jahr 1911 hat ihm jedoch die Chance genommen, von der Schwedischen Akademie ausgewählt zu werden – was auch deshalb zu bedauern ist, weil es uns heute daran hindert, ein Bohr-Trio vom Vater über den Sohn zum Enkel als Laureaten vorzustellen.
Zu den Nebentätigkeiten von Christian Bohr gehörte die Gründung des Fußballvereins Akademisk Boldklub an der Universität, in dem sich seine Söhne gern und erfolgreich sportlich betätigten. Niels’ Bruder Harald hat es dabei sogar zu großen Ehren gebracht, da er zu dem Team gehörte, das 1908 bei den Olympischen Spielen die Silbermedaille für sein Land gewinnen konnte – was den Ruhm der Familie Bohr in Dänemark noch mehrte.
Weiteren Einfluss auf seine Söhne – vor allem auf Niels – übte Vater Christian mit der Verehrung für die Werke Goethes aus. Es war vor allem der Faust, von dem Christian Bohr zahlreiche Passagen auswendig aufzusagen wusste, und zwar in der deutschen Sprache, die er neben der englischen auch seinen Söhnen ans Herz legte. Er ermöglichte ihnen, beide Sprachen zu lernen und zugleich die dazugehörigen Kulturen besser kennenzulernen – ein Umstand, der die Physiker später verzweifeln ließ, wenn Niels Bohr in den Seminaren um die Worte rang, mit denen er seine Einsichten in den Aufbau der Atome ausdrücken wollte. Bohrs Gedanken entstanden tatsächlich beim Reden, um alle möglichen Sichtweisen zu erfassen, sprach er »minutenlang in einer traumartigen, visionären und wirklich sehr unklaren Weise«. Bei diesem zugleich rücksichtsvollen wie rücksichtslosen Vorgehen machte Bohr hemmungslos von allen drei Sprachen Gebrauch, die ihm zur Verfügung standen, was konkret bedeutete, dass er einen dänisch-deutsch-englischen Mischmasch produzierte, wobei er zumeist noch nuschelte und manchmal sogar mit der Pfeife im Mund sprach.
Klarheit beim Reden war Bohrs Sache leider nicht, was ihn aber nicht daran hinderte, ab und an überraschende Wendungen in Worte zu fassen, in denen so etwas wie Wahrheit aufschimmerte. Als sein Vater dem gerade schulpflichtigen Niels die Schönheit der Natur erklären wollte und dazu die Aufmerksamkeit auf einen Baum lenkte, um von den großen Ästen und kleinen Zweigen zu schwärmen, an deren verzweigten Enden die Knospen zu blühen begannen, hörte der Sohn andächtig zu, wunderte sich dann allerdings: »Aber wenn das nicht so wäre, dann wäre das da doch kein Baum.«
Niels Bohrs Vortragsstil wurde selbst von seinem Bruder Harald kritisiert, der ihm vorwarf, über Dinge zu sprechen, von denen er behauptete, sie später noch erklären zu wollen. Er, Harald, bemühe sich umgekehrt, über Dinge zu sprechen, die er zuvor erklärt habe. Niels Bohr wusste, dass er kein brillanter Redner war. Wenn jemand ihn allerdings auf seine Vortragsweise ansprach, pflegte er die Geschichte von einem Rabbi zu erzählen, der für seine geheimnisvollen Reden berühmt war: »Ich habe den Rabbi dreimal gehört. Beim ersten Mal war es phantastisch. Alles war für mich verständlich, und der Rabbi drückte sich klar aus. Beim zweiten Mal wurde es unheimlicher. Der Rabbi blieb souverän, aber ich kam nicht mehr so einfach mit. Und beim dritten Mal war es höchst sonderbar und bemerkenswert. Nicht nur ich, der Rabbi selbst verstand nicht mehr, was er sagte.«
Niels und sein Bruder hatten vielfach Gelegenheit, sich Gedanken beim Zuhören zu machen, da ihr Vater es liebte, mit Philosophen wie Harald Høffding und anderen Kollegen von der Universität zu diskutieren. Die Professoren trafen sich an Freitagabenden in den jeweiligen Wohnhäusern, um sich auszutauschen, wobei Christian Bohr vermutlich das Rätsel ansprach, das ihn als Physiologen beschäftigte und das man auf die Frage reduzieren kann: »Was ist Leben?«
Bereits im 19. Jahrhundert standen sich die beiden Ansichten gegenüber, die heute noch als Top-down- und Bottom-up-Erklärungen unterschieden werden. Die erste Ansicht geht vom Ganzen des lebenden Organismus aus und erörtert seine Funktionen und Fähigkeiten wie das Vermögen der Erinnerung oder die Freude am Leben selbst. Die zweite Ansicht beginnt mit der Aufzählung von Zellen, Molekülen und anderen Teilen und erklärt ihren physikalisch-chemischen Zusammenhang, der als Gedächtnis oder Erregung von Neuronen überprüft werden kann, durch die sich dann besondere Nervenbahnen bilden. Christian Bohr glaubte zum einen fest an die materielle Basis aller Lebensvorgänge, zeigte sich aber zugleich überzeugt, dass sich nicht alles – und erst recht nicht vollständig – durch Physik und Chemie erklären lassen würde. Diese abwägend duale und offen bleibende – rational keinesfalls zu entscheidende – Haltung wird sich seinen Söhnen mitgeteilt haben; Niels wird in den frühen 1930er Jahren damit gar ein eigenes Forschungsprogramm begründen, über das er in dem Vortrag mit dem Titel »Licht und Leben« spricht und wodurch er der kurz darauf sich explosionsartig aufstrebenden Molekularbiologie den Weg bahnt.