»Gott würfelt nicht«

Die Wirklichkeit ist eben anders, als selbst Einstein sich vorstellen konnte. Er hatte in seiner mit Podolsky und Rosen verfassten Arbeit schon mit den Einwänden gerechnet, die Bohr dann auch vorbrachte:

Tatsächlich würde man nicht zu unserer Schlussfolgerung [der Unvollständigkeit der Quantenmechanik] gelangen, bestünde man darauf, zwei oder mehr physikalische Größen nur dann zugleich als Element der Realität zu betrachten, wenn sie gleichzeitig gemessen oder vorhergesagt werden können... Dadurch wird der Realitätsanspruch... vom Vorgang der Messung abhängig, die am ersten System ausgeführt wird und die auf keine Weise das zweite System beeinflusst. Man darf nicht erwarten, dass dies irgendeine vernünftige Definition der Realität zulässt.

Kein Zweifel, zwischen Bohr und Einstein bestanden 1935 große Differenzen hinsichtlich der Fragen, was wirklich ist und was die Physik sagen oder wissen kann. Sie waren auch 1949 noch nicht beigelegt, als Bohr seinen Essay veröffentlichte. Einstein erwiderte darauf, dass er mit der Lösung, die Bohr mit der Komplementarität anbot, nichts anfangen könne. Trotz größter Anstrengungen, so behauptete Einstein, sei es ihm nicht gelungen, klar zu formulieren, was dieses Kunstwort bedeute. Worauf Bohr geantwortet haben soll, dass gerade Klarheit und Wahrheit typische Beispiele für komplementäre Begriffe seien.

Die Debatte zwischen Einstein und Bohr gelangte 1949 zu ihrem Ende; die beiden lieferten danach keine direkten Beiträge mehr. Zumindest Bohr dachte aber bis an sein Lebensende über diese Fragen nach. Die letzte Skizze, die Bohr am Vorabend seines Todes auf die Tafel seines Studierzimmers zeichnete, stellte das mit Einstein diskutierte Photon im Kasten dar.

Warum war diese Diskussion nun so bedeutend, und warum ist sie im Grunde immer noch nicht entschieden? Man kann darauf zwei Antworten geben. Einmal ist zu beachten, dass Bohrs Antwort unserer Anschauung in jeder Hinsicht widerspricht. Wenn sie richtig ist, taucht die Frage auf, wieso es Menschen möglich ist, die als Quantenmechanik bezeichnete Fassung der Wahrheit zu finden. Wieso bleiben wir mit unserer Einsicht nicht auf das beschränkt, was wir mit unseren Sinnen kennengelernt haben? Wieso ist Quantenmechanik denkbar? (Eine erste Diskussion zu diesen Fragen hat Max Delbrück am Ende seines Lebens vorgelegt, als er das Verhältnis von »Wahrheit und Wirklichkeit« so analysierte, wie es ein Naturwissenschaftler tun kann.)

Die zweite Antwort zeigt sich dann, wenn man annimmt, dass das eigentliche Thema der Debatte nicht so sehr die durch eine physikalische Theorie ausgedrückte oder erfasste Wirklichkeit, sondern etwas Größeres ist – dass das zugrunde liegende Thema »Gott« genannt werden kann. So überraschend dies zunächst erscheint: Zumindest bei Einstein war so oft von Gott die Rede, wenn es um die Deutung der Physik ging, dass der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt einmal meinte, Einstein sei ein verkappter Theologe.

Die statistische Deutung der Quantenmechanik, das Sich-abfinden der übrigen Physiker mit Wahrscheinlichkeiten lehnte Einstein ab, weil er der Meinung war, dass Gott nicht würfelt. In einem Brief vom 4. April 1949 ging Einstein ein letztes Mal auf die Frage nach der Wirklichkeit ein. Er bedankte sich für Bohrs Glückwünsche zum siebzigsten Geburtstag und schrieb: »Jedenfalls ist dies eine der Gelegenheiten, die nicht von der bangen Frage abhängt, ob Gott wirklich würfelt und ob wir an einer der physikalischen Beschreibung zugänglichen Realität festhalten oder nicht.« Seine Antwort fasste er sodann in einem alten Refrain zusammen: »Ueber diese Rede des Kandidaten Jobses / Allgemeines Schütteln des Kopfes.«

Bohr antwortete auf ähnlich scherzhafte Weise am 11. April 1949. Er könne nicht umhin,

über die bangen Fragen zu sagen, dass es sich meines Erachtens nicht darum handelt, ob wir an einer der physikalischen Beschreibung zugänglichen Realität festhalten oder nicht, sondern darum, den [von Einstein] gewiesenen Weg weiter zu verfolgen und die logischen Voraussetzungen für die Beschreibung der Realitäten zu erkennen. In meiner frechen Weise möchte ich sogar sagen, dass niemand – und nicht einmal der liebe Gott selber – wissen kann, was ein Wort wie würfeln in diesem Zusammenhang heißen soll.

Kann man verstehen, warum Einstein den von ihm selbst gewiesenen Weg nicht gegangen ist, warum nur Bohr dies vermochte? Wenn wir die Debatte zwischen Bohr und Einstein in einem theologischen Kontext sehen, dann lautet das Thema, ob eine atheistische wissenschaftliche Annäherung an die Welt überhaupt eine rationale Möglichkeit ist. Natürlich hat man keine Schwierigkeiten, Wissenschaftler zu finden, die nicht an Gott glauben oder die meinen, nicht an Gott zu glauben. Aber haben sie diesen Gedanken wirklich zu Ende gedacht, und sind sie bereit, die philosophischen Konsequenzen zu tragen? Bohr jedenfalls versuchte, gleichzeitig Wissenschaftler und wahrhaftiger Atheist zu sein.

Einstein nahm in gewisser Weise einen einfacheren Standpunkt ein. Er repräsentierte die traditionelle monotheistische Einstellung der westlichen Wissenschaft, was leicht übersehen wird, weil Einstein in seiner Zeit vom breiten Publikum als typischer gottloser Wissenschaftler betrachtet wurde. Als er auf dem Höhepunkt seines Ruhms 1929 in die USA reisen wollte, sorgte sich der New Yorker Rabbiner Goldstein um die Konsequenzen für seine Gemeinde und telegrafierte: »Glauben Sie an Gott?« Einsteins Antwort zeigt, dass er konservativer dachte, als man annahm. Er telegrafierte zurück, dass er an den Gott des Philosophen Baruch de Spinoza glaube, der sich in der Harmonie alles Seienden offenbare, nicht aber an einen Gott, der das Schicksal der Menschen bestimme.

Von einem solchen Standpunkt aus betrachtet besteht die Aufgabe der Wissenschaft darin, die Intention und das Design des Schöpfers zu ergründen. Ein Physiker betrachtet die Wirklichkeit in diesem Licht wie ein Archäologe die Steine von Stonehenge. Er ist sicher, dass hinter ihrer Aufstellung ein Plan liegt, den es zu finden gilt. Der Vorteil für den Archäologen liegt darin, dass er annehmen kann, dass die Bewohner von Stonehenge ebenso rational dachten wie er selbst. Aber da Gott den Menschen zu seinem Ebenbild gemacht hat, sollte eine gewisse rationale Affinität bestehen und einem Physiker ermöglichen, Naturgesetze zu entdecken.

Bohr dachte da völlig anders. Für ihn war jeder Gott – auch der von Spinoza – noch nicht einmal eine Möglichkeit, die man verwerfen konnte. Die Welt ist keine Schöpfung eines Gottes, sie ist für Bohr – wie das Quantum der Wirkung und das Leben – einfach da, und wir sind ein untrennbarer Teil von ihr. Wir sind zugleich Akteure und Zuschauer im großen Drama des menschlichen Lebens, in einem Drama, das keinen Autor hat und dem keine vorgeschriebene Handlung zugrunde liegt.

Bohr konnte mit der Quantenmechanik zufrieden sein. Das Fehlen einer kausalen Determiniertheit störte ihn nicht, und ihre Beschreibung der Wirklichkeit genügte ihm. Bohr stand damit der fernöstlichen Philosophie und ihren Weisheiten viel näher als den westlichen Religionen. An den Religionen missfiel ihm besonders, dass man von vornherein darauf verzichtete, den verwendeten Worten einen eindeutigen Sinn zu geben. So sah er nicht ein, »was es bedeuten soll, wenn vom ›Sinn des Lebens‹ gesprochen wird. Das Wort ›Sinn‹ soll doch immer eine Verbindung herstellen zwischen dem, um dessen Sinn es sich handelt, und etwas anderem, etwa einer Absicht, einer Vorstellung, einem Plan. Aber das Leben – damit ist doch das Ganze gemeint, auch die Welt, die wir erleben, und da gibt es doch nichts anderes, mit dem wir es verbinden könnten.« Unser Streben nach Erkenntnis bleibt bodenlos.

Nur die Sprache bewahrt uns vor dem Absturz in einen bodenlosen Schacht. In ihr sind wir nicht nur gefangen. In ihr sind wir auch frei, Gleichnisse zu verwenden. Die Quantenmechanik betrachtete Bohr als Beispiel für den Fall, »dass man einen Sachverhalt in völliger Klarheit verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, dass man nur in Bildern und Gleichnissen von ihm reden kann«. Gerade diese Eigenschaft der neuen Physik erinnerte ihn an die Weisheit der Chinesen, die die Wahrheit nur in Erzählungen und Anekdoten aussprachen. Bohr erzählte in diesem Zusammenhang gern die Legende von den drei Philosophen, denen ein Schluck Essig (»Lebenswasser« auf Chinesisch) mit der Frage gereicht wurde, wie er ihnen schmecke. Der Erste sagte: »Es ist sauer.« Der Zweite sagte: »Es ist bitter.« Der Dritte sagte: »Es ist frisch.« Dies war die Antwort von Laotse. Ihm gehörte Bohrs Sympathie.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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