Die irrationale Stabilisierung der Atome
Der junge Bohr hatte sich in seiner Doktorarbeit mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich Elektronen in Metallen (auf der makroskopischen Ebene) verhalten und dabei den elektrischen Strom bewirken, den wir als Licht oder Wärme nutzen. Nun wollte er verstehen, wie sich die negativen Ladungsträger in atomaren Gebilden (auf der mikroskopischen oder gar submikroskopischen Ebene) zurechtfinden und ihre Position behalten. Dabei galt es, sowohl die Befunde aus Rutherfords Experiment als auch die Gesetze der klassischen Physik zu berücksichtigen. Im Gegensatz zu seinen Kollegen muss es Bohr geradezu angespornt haben, dass die beiden Formen des Wissens im Widerspruch zueinander standen und unvereinbar schienen. Paradoxien waren doch seine Leidenschaft, und er muss erahnt haben, dass es ihm gelingen würde, das Atom zu verstehen, wenn er einen Weg fände, auf dem sich beide Aspekte verbinden ließen – so wie das Denken selbst nur gelingen kann, wenn sich bei diesem Tun bewusste mit unbewussten Bereichen verbinden.
Möglicherweise orientierte sich Bohrs Gedankenwelt an dem Problem des fiktiven dänischen Studenten, der nach dem Anfang des Denkens fragt und bei seinem abenteuerlichen Grübeln merkt, dass die Antwort nicht das Denken selbst sein kann, sondern anders lauten muss. Wenn man das Denken erklären will, kann man nicht mit dem Denken anfangen. Und wer Materie erklären will, kann nicht mit Materie anfangen. Wenn Bohr also verstehen will, wie die Dinge zusammengesetzt sind, die sich uns als Elemente zeigen, dann kann er auf keinen Fall mit Dingen anfangen, die materiell im herkömmlichen Sinn sind. Wenn die Atome aus Teilen wie Elektronen und Kernen mit – wenn auch sehr kleinen – Massen modelliert werden, wie Rutherford und seine Vorgänger es unternommen hatten, dann sollte es fast ausgeschlossen sein, dass diese Gegebenheiten sich den bekannten Gesetzen der Physik fügen. Mit anderen Worten: Die im Experiment aufgedeckte unmögliche Tatsache war das Beste, was der Physik – und vor allem dem Paradoxien anhängenden Bohr – widerfahren konnte. Das widersprüchliche Versuchsergebnis zeigte, dass man die Denkfalle tatsächlich zu umgehen hoffen konnte, bei der das vorausgesetzt wird, was man erklären will – sei es das immaterielle Denken des dänischen Studenten, sei es das materielle Atom des dänischen Physikers.
Nun kann niemand sicher sagen, wie sich Bohrs Gedanken zu den Atomen geformt und entwickelt haben, und dieses »niemand« schließt den denkenden Physiker selbst mit ein (wie Bohr ebenfalls bei Møllers dänischem Studenten gelernt hatte). Es ist aber möglich, den Weg nachzuzeichnen, den Bohr beschritt; er beginnt mit der von den Atomen ausgehenden Strahlung, auf die das schwedische Nobelkomitee 1922 hinweisen wird.