Schwester und Bruder
Es fällt auf, dass in den meisten biographischen Schriften über Niels Bohr die Schwester Jenny kaum erwähnt wird. Sie war auf jeden Fall eine talentierte Frau, die in Kopenhagen und Oxford studierte und als hochgeschätzte Lehrerin arbeitete – bis sie psychisch erkrankte und manisch-depressive Phasen erlebte. Jenny Bohr starb bereits 1933 an den Folgen ihrer Psychosen. Möglicherweise hat sie den Tod ihrer Mutter drei Jahre zuvor nicht verkraftet, wie ihr Bruder Harald gemutmaßt hat, der in seiner Rede an Jennys Grab die Schwester trotz ihres labilen Zustands als stark und gesund bezeichnet und in Erinnerung behalten hat.
Der Abschied von Jenny lenkt den Blick zurück auf die beiden Bohr-Söhne, die unter vielfältigen Erziehungseinflüssen geraten sind, wobei die ältere Schwester ihrer Mutter, Hanna Adler, eine maßgebliche Rolle gespielt hat. Die Gründerin einer Kopenhagener Schule für Koedukation nahm die beiden Knaben gern am Wochenende und in den Sommerferien unter ihre Fittiche, um mit ihnen radelnd die dänische Landschaft zu erkunden oder Naturkundemuseen zu besuchen.
Niels war zwar der ältere, aber offenbar nicht der begabtere oder zielstrebigere der Bohr-Söhne. Der achtzehn Monate jüngere Harald, mit dem Niels gerne Zeit verbrachte, schaffte es, die Schul- und Studienzeit rascher als sein etwas schwerfälliger Bruder zu durchlaufen und zuerst – im Jahr 1910 – seine Promotion in Mathematik abzuschließen (Niels wurde ein Jahr später promoviert). Er beschäftigte sich mit der Theorie der Zahlen, die vor allem in Deutschland erforscht wurde, weshalb er nach der Doktorarbeit einige Zeit in Göttingen arbeitete. Dass Niels sich später in der gleichen Phase seiner wissenschaftlichen Entwicklung nach England orientierte, hängt zweifellos mit dem damaligen Renommee der britischen Physik zusammen.
In Göttingen traf Harald Bohr auf das Erbe von Bernhard Riemann, der Mitte des 19. Jahrhunderts eine spezielle Funktion gefunden hatte, mit deren Hilfe man der Verteilung von Primzahlen – einem uralten und ungelösten Problem der Mathematik – auf die Spur zu kommen hoffte. Bohr beschäftigte sich – in Zusammenarbeit mit dem Zahlentheoretiker Edmund Landau – mit der sogenannten Riemann’schen Zetafunktion, die bis heute großes Interesse in der Wissenschaft findet, und zwar aus einem praktischen Grund mit globalen Auswirkungen. Funktionen stellen letztlich Zahlenwerte dar, und Riemann war aufgefallen, dass spezielle Werte seiner eleganten Konstruktion – ihre Nullstellen – auf einer Linie lagen, was ungewöhnlich war. Seine Bemühungen, diese Vermutung zu beweisen, sind zwar gescheitert, aber die damit gestellte Aufgabe ist dringend geblieben, weil mit Riemanns Idee und mathematischer Vorgabe unter anderem die Sicherheit der Codes verbunden ist, mit denen Banken operieren und unsere Konten freigeben oder sperren. Um Gewissheit hierüber zu erlangen, haben die Mathematiker ein Preisgeld von einer Million US-Dollar für den Beweis der Riemann’schen Hypothese ausgesetzt. Harald Bohr hätte sich über so viel Interesse an seinem Thema gefreut, sich ansonsten aber unabhängig von finanziellen Anreizen der ungestörten Freude des Nachdenkens über mathematische Fragen hingegeben.