Ein Paradoxon
Die Fortsetzung einer direkten Diskussion zwischen Bohr und Einstein wurde durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland verhindert. Einstein verließ Berlin und ging nach Princeton, New Jersey, an das Institute for Advanced Studies. Ihr Streitgespräch führten sie nun schriftlich – über Publikationen – fort.
1935 veröffentlichte Einstein mit seinen Mitarbeitern Boris Podolsky und Nathan Rosen eine Arbeit mit dem Titel »Kann die quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Wirklichkeit als vollständig betrachtet werden?«. Einstein hatte damals längst aufgegeben, die Quantenmechanik als inkonsistent zu bezeichnen. Er bestritt allerdings nach wie vor, dass sie vollständig sei, und es war klar, dass Einsteins Antwort auf die Titelfrage nein lauten musste. Von einer vollständigen Theorie verlangten die Autoren vernünftigerweise, dass in ihr jedes Element der physikalischen Realität seine Entsprechung haben müsse.
Was gehört zu dieser Realität? Die Autoren schlugen hierfür folgendes Kriterium vor: »Kann man den Wert einer physikalischen Größe mit Sicherheit (das heißt mit der Wahrscheinlichkeit 1) vorhersagen, ohne ein System dabei in irgendeiner Weise zu stören, dann gibt es ein Element der physikalischen Wirklichkeit, das dieser Größe entspricht.« Die drei Autoren zeigten dann an einem Beispiel, dass es anscheinend doch Größen gibt, die zwar ein Element der physikalischen Wirklichkeit sind, von der Quantenmechanik jedoch nicht erfasst werden. Sie zogen folglich den Schluss, »dass die durch die Wellenfunktion vermittelte quantenmechanische Beschreibung der physikalischen Realität unvollständig ist«.
Wie sah ihr Beispiel aus? Einstein, Podolsky und Rosen schlugen vor, zwei Teilchen (A und B) zu betrachten, die aufeinander zufliegen, zusammenstoßen und wieder auseinanderfliegen. Für eine solche Situation erlaubt die Quantenmechanik kurioserweise, dass sowohl die Summe der Impulse als auch die Differenz (Abstand) der Orte gleichzeitig einen festen Wert haben. Außerdem legen die Gesetze der Physik fest, wie die entsprechenden Werte vor und nach dem Zusammenstoß korreliert sind. Nun kann ein Beobachter am Teilchen A eine Messung vornehmen, er bestimmt zum Beispiel seinen Impuls. Mit dem oben Gesagten wird er dadurch in die Lage versetzt, mit Sicherheit den Wert des Impulses von Teilchen B vorherzusagen. Im Sinne des Einstein’schen Kriteriums entspricht dann diesem Impuls ein Element der physikalischen Wirklichkeit. Analog kann man für den Ort von B argumentieren. Dies wäre aber ein Widerspruch zur Beschreibung der Quantenmechanik. Das Teilchen B kann in dieser Theorie keine festen Werte für diese Größen haben.
Als Bohr von dem Aufsatz erfuhr, ließ er alle laufenden Arbeiten ruhen; er antwortete sofort. Kaum vier Monate nach Erscheinen der Arbeit traf seine Antwort bei der Physical Review ein, derselben Zeitschrift, in der Einstein sein Paradoxon publiziert hatte. Bohr argumentierte dabei wie folgt: Ein beobachtetes Objekt und der zu seiner Messung verwendete Apparat bilden gemeinsam eine untrennbare Einheit, die auf der quantenmechanischen Ebene nicht in Form von getrennten Teilen untersucht werden kann. Die Kombination eines gegebenen Teilchens mit einer bestimmten experimentellen Anordnung unterscheidet sich wesentlich von der Kombination desselben Teilchens mit einer anderen Anordnung. Die Beschreibung des Zustands des ganzen Systems drückt eine Relation zwischen dem Teilchen und allen vorhandenen Messvorrichtungen aus. Mit anderen Worten, selbst wenn keine Messung an Teilchen B erfolgt, so ist doch sein Zustand (also die physikalische Wirklichkeit, deren Teil es ist) nicht unabhängig von der Anwesenheit des Apparats, mit dem die Messung an Teilchen A vorgenommen wird. Daher scheiterte Bohr zufolge das Argument von Einstein, Podolsky und Rosen.
Der entscheidende Punkt liege für ihn darin, schrieb Bohr 1935, dass es der »mit ›Komplementarität‹ bezeichnete Gesichtspunkt« ist, »unter dem die quantenmechanische Beschreibung physikalischer Systeme innerhalb ihres Geltungsbereiches allen rationalen Erfordernissen der Vollständigkeit genügt«. Im Einzelnen wies Bohr darauf hin, dass Einsteins Ausdruck »ohne ein System zu stören« mehrdeutig sei. Natürlich störe ein Beobachter von Teilchen A das andere Teilchen B nicht direkt physikalisch. Seine Messung übe aber
einen Einfluss auf die tatsächlichen Bedingungen [aus], welche die möglichen Arten von Voraussagen über das zukünftige Verhalten des Systems definieren. Da diese Bedingungen ein immanentes Element der Beschreibung jeglichen Phänomens ausmachen, dem man mit Recht den Begriff »physikalische Wirklichkeit« zuschreiben kann, sehen wir, dass die Argumentation [von Einstein, Podolsky und Rosen] nicht ihre Schlussfolgerung rechtfertigt, die quantenmechanische Beschreibung sei wesentlich unvollständig... Tatsächlich ist es nur der gegenseitige Ausschluss von je zwei die eindeutige Definition komplementärer physikalischer Größen gestattenden Versuchsanordnungen, der neuen physikalischen Gesetzen Raum schafft, deren Koexistenz auf den ersten Blick mit den Grundprinzipien der Naturwissenschaften unvermeidbar zu sein scheint. Es ist gerade diese völlig neue Situation bezüglich der Beschreibung physikalischer Phänomene, deren Kennzeichnung mit dem Begriff Komplementarität angestrebt wird.