Die Bell’sche Ungleichung
Diese kuriose Ganzheit der Quantenzustände mehrerer Teilchen ist heute eine experimentell gesicherte Tatsache. Sie konnte seit den 1980er Jahren in verschiedenen Versuchen nachgewiesen werden. Man hat weder Einstein noch Bohr, man hat die Natur selbst gefragt. Und sie hat geantwortet: So seltsam es auch zu sein scheint, Bohr hatte recht. Dass dies von einigen Philosophen heute noch bestritten wird, hätte Bohr nicht gewundert. Das reine Denken ist eben nur eine von zwei komplementären Möglichkeiten, wie man von der Wirklichkeit lernen kann.
Der Weg zur experimentellen Prüfung der Ganzheit wurde erst durch eine Entdeckung des schottischen Physikers John Bell aus dem Jahr 1964 möglich, also zwei Jahre nach Bohrs Tod. Bell fand heraus, bis zu welchem Grad Quantensysteme ein nicht zu zerlegendes Ganzes bleiben, wenn sich die in Wechselwirkung befindlichen Teile weit voneinander entfernt haben. Dies gelingt mithilfe der sogenannten Bell’schen Ungleichung.
Das Wesentliche der Bell’schen Überlegungen und die Anwendung im Versuch sollten kurz beschrieben werden, als weiterführende Literatur sei das 1985 erschienene Quantum Reality von Nick Herbert empfohlen. Bell stellte sich Atome vor, die angeregt werden können und beim Übergang in den Grundzustand zwei Photonen in entgegengesetzte Richtungen aussenden. Deren Polarisation ist messbar. Bell konnte Ungleichungen aufstellen, die durch die Ergebnisse solcher Messungen genau dann verletzt werden können, wenn es die beschriebenen quantenmechanischen Korrelationen gibt. Sie wirken augenblicklich und widersprechen somit scheinbar einem Prinzip der Relativitätstheorie von Einstein, der zufolge sich keine Information schneller als Lichtgeschwindigkeit ausbreiten kann.
Intuitiv und ohne Vorbelastung durch die Quantenmechanik würde man annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eines der beiden Photonen (zum Beispiel der rechte) seinen Filter passiert, nicht von der Richtung abhängt, in der der andere (in diesem Fall der linke) Polarisator eingestellt ist. Genau dies aber ist der Fall, und zwar genau in dem Maß, in dem Bell es unter der Annahme vorhersagte, dass die Quantentheorie richtig ist. Sie erlaubt nämlich den Quantenzuständen der Photonen, die einmal zusammen gewesen waren, nicht, voneinander unabhängig zu werden, auch wenn sie meterweit voneinander entfernt sind.
Ergibt sich durch diese Quantenkorrelation nun ein Konflikt mit der Relativitätstheorie? Breitet sich da nicht eine Wirkung mit unendlicher Geschwindigkeit aus? Wie kann der Quantenzustand des linken Photons von einer Messung abhängen, die am rechten Photon gemacht worden ist? Die Antwort haben wir oben schon gegeben. Hier werden nicht mit Überlichtgeschwindigkeit Informationen zwischen Teilchen im realen Raum übermittelt, hier werden Korrelationen zwischen Quantenzuständen vermittelt, die durch mathematische Größen in einem (unwirklichen) Raum repräsentiert sind (den die Mathematiker konstruieren können und Hilbert-Raum nennen). Die Quantenmechanik macht also weder Voraussagen, die im Widerspruch zur Relativitätstheorie stehen, noch erfordert sie einen Informationsaustausch, der schneller als das Licht vonstattengeht. Sie sagt nur, dass das Verhalten von wirklichen Teilchen erst dann verstanden wird, wenn man sie durch Wellenfunktionen beschreibt, denen selbst keine Wirklichkeit entspricht. Und alle sich daraus ergebenden Vorhersagen konnten im Versuch bestätigt werden: Es gibt kein einziges Experiment, das der Quantenmechanik widerspricht.
Im Frühjahr 2012 ist das Buch How the Hippies Saved Physics erschienen, in dem David Kaiser beschreibt, wie in den 1960er Jahren unter anderem durch die Bell’sche Ungleichung das Interesse an der Quantenphysik stark gewachsen ist. Die großartige Entdeckung der 1920er und 1930er Jahre war in den folgenden Jahrzehnten als Lehrstoff an den Universitäten eingegliedert worden. Die Physiker wandten sie einfach an und rechneten damit, ohne zu staunen. Doch dann stießen Bohrs und Einsteins Fragen wieder auf offene Ohren: Es waren vor allem die sogenannten Hippies, die dazu beitrugen, indem sie über die alltägliche Realität hinausgehen und andere Wirklichkeiten erfahren wollten. Einige von ihnen organisierten sich im kalifornischen Berkeley als »Fundamental Fysiks Group« – das dänische Wort für »Physik« ist als Tribut an Niels Bohr und sein Kopenhagen zu verstehen. In der Tat griffen die Hippies, die sich in dieser und anderen Gruppen trafen – zu ihnen gehörte auch der bereits erwähnte Nick Herbert –, die Erweiterung der Realität, ihre Transzendierung, die Bohr Einstein vergeblich nahezubringen versucht hatte, auf und stellten dabei auch Verbindungen zu anderen Kulturen her; berühmt geworden ist Das Tao der Physik, das Fritjof Capra 1975 veröffentlichte. Capra zitiert darin zum Beispiel den indischen Philosophen Nagarjuna, der bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. schrieb: »Dinge leiten ihre Natur und ihr Sein von gegenseitiger Abhängigkeit her und sind nichts in sich selbst.« Genau dies findet die westliche Wissenschaft, wenn sie im Rahmen der Quantenmechanik Atome oder Moleküle als offene Systeme erkennt, die dank ihrer Wechselwirkung mit der Umgebung existieren. In unserer Kultur hat es eben länger gedauert, um sich von der Verschränkung der Dinge zu überzeugen. Aber Bohr war schon früh dazu bereit, und er hat uns den Weg in die Richtung gewiesen. Schön, dass wenigstens die Hippies dies zu schätzen wussten und ihm gefolgt sind.
Bells Idee, Einsteins Problem mit der Wirklichkeit durch eine Beobachtung zu entscheiden, musste anfangs verwirrend wirken. Ihr Ziel schien auf den ersten Blick unerreichbar, denn im Mittelpunkt von Einsteins Argument stand doch etwas, das gerade nicht beobachtet werden soll. Wie wollte man nun feststellen, ob sein Zustand dennoch bestimmt ist? (Dies erinnert an die alte Scherzfrage, wie man herausfinden will, ob das Licht im Kühlschrank noch an ist, wenn die Tür geschlossen ist.)
Selbstverständlich gibt es keine Möglichkeit, ein isoliertes Teilchen unbeobachtet zu beobachten. Bell empfahl deswegen, nicht nur ein einzelnes Photonenpaar zu betrachten, sondern die Korrelation zwischen vielen Paaren dieser Art zu untersuchen. Er konnte nämlich zeigen, dass sich unter verschiedenen Voraussetzungen verschiedene Formen der Korrelationen ergeben sollten. Wenn man wie Einstein annimmt, dass die Quantenobjekte wirklich zu jeder Zeit alle Eigenschaften in wohldefinierter Weise besitzen – die sogenannte Realitätsannahme –, und wenn man weiter annimmt, dass keine Information zwischen den Photonen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ausgetauscht wird, dann kann man eine Grenze angeben, die die Korrelation nicht überschreiten darf. Diese Schranke wird in mathematischer Form durch die Bell’sche Ungleichung festgelegt.
Die zweite genannte Voraussetzung wird auch als Annahme der Lokalität bezeichnet, da sie einen unmittelbaren (unvermittelt zeitlosen) physikalischen Einfluss auf entfernte Objekte verbietet. Damit vermeidet man mögliche Verletzungen der Speziellen Relativitätstheorie, durch die Einstein zeigen konnte, dass sich keine physikalische Wirkung schneller als Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. Die Lokalität braucht nicht eigens aufgeführt zu werden, wenn die Quantenmechanik an Stelle der Realitätsannahme verwendet wird, weil allgemein bewiesen werden kann, dass diese beiden Theorien der Physik, die unabhängig voneinander gefunden wurden, konsistent sind und sich nicht gegenseitig widersprechen.
Der entscheidende Punkt ist: Wenn man annimmt, dass eine Quantenmechanik im Sinne Bohrs gilt, dann gibt es Orientierungen der Filter, bei denen die Bell’sche Ungleichung verletzt ist. Die Quantenmechanik prophezeit eine bessere Korrelation der Photonen als die Annahme einer lokalen Realität.
Die klärenden Experimente wurden zum ersten Mal in den frühen 1980er Jahren von Alain Aspect, Jean Dalibard und Gérard Roger ausgeführt und inzwischen vielfach wiederholt. Die Ergebnisse lassen keine Zweifel zu. Die Korrelationen waren genau um den Teil höher, den die Quantentheorie vorausgesagt hat. Die Annahme einer lokalen Realität kann also in der Quantenwelt nicht zutreffen. Die atomare Wirklichkeit ist nicht lokal, sie offenbart einen Zusammenhang zwischen einzelnen Objekten, der als Ganzheit beschrieben werden kann. Quantenteilchen, die einmal in physikalischer Wechselwirkung gestanden haben, bleiben danach für immer verbunden, auch wenn keine direkte Verknüpfung mehr zwischen ihnen besteht.
Bohr hatte auf diese besondere Art des quantenhaften Zusammenhängens schon 1935 in seiner Antwort an Einstein hingewiesen. Erwin Schrödinger hatte diesen Gedanken im selben Jahr aufgegriffen und vorgeschlagen, für solche korrelierten Zustände ohne Wechselwirkung den Begriff der »Verschränkung« zu verwenden (englisch: »entanglement«). Dies sei das eigentliche Charakteristikum der Quantentheorie. Sie zeige uns eine verschränkte Welt, die in gewisser Weise am Grund unserer Wirklichkeit existiert.
Diese Verschränkung erlaubt uns nun im Grunde nicht, von einzelnen Elektronen zu reden. So etwas wie isolierte Teilchen gibt es nicht. Die klassische Zerlegung eines Ganzen in seine Teile ist streng genommen verboten. Wir müssen sie dennoch durchführen, weil wir sonst über die verschränkte Welt gar nicht sprechen könnten.