Im Kreuzfeuer der Kritik
Als Bohr sein Memorandum schrieb, konnte noch niemand wissen, wie der Krieg enden würde. Solange das nationalsozialistische Deutschland mit seiner Armee noch kampffähig war, konnte kein Politiker auf Waffen oder Entwicklungen verzichten, die zum Sieg beitragen würden. Es verwunderte also nicht, dass Bohr in der Welt der Diplomatie so gut wie keinen Anklang fand. Selbst in Kollegenkreisen waren seine Bemühungen umstritten, was aber nicht heißt, dass es nicht auch einige starke Befürworter seines Engagements gab. Victor Weisskopf etwa bestaunte Bohrs Mut und seine Fähigkeit, sich nicht von den Gefahren einschüchtern zu lassen, die durch den Einsatz der Atombombe drohten. Für Bohr »enthielt jede Schwierigkeit, jeder Konflikt den Keim seiner Lösung«, wie Weisskopf einmal schrieb. »Je größer die Schwierigkeit war, desto größer der Schritt, um sie zu überwinden, desto größer ist auch die folgende Belohnung. Wenn einfache Lösungen bei menschlichen oder wissenschaftlichen Problemen scheiterten, sah Bohr den großen Vorteil, zum Angriff auf ein größeres Problem gezwungen zu sein.« Die Wissenschaft schuf für Bohr nicht nur Probleme. Sie zeigte zugleich auch, wie man sie bewältigen konnte.
Kritischer zeigte sich Weisskopfs österreichischer Landsmann Wolfgang Pauli, der Bohrs Versuch, »in den Gang der historischen Ereignisse einzugreifen«, als »Musterbeispiel eines falschen und von vornherein zum Misserfolg verurteilten Weges« bewertete. In einem Brief an Bohr schrieb er:
Wer dem »Willen zur Macht« etwas anderes, Geistiges, entgegensetzen will, darf nicht selbst einem Machtwillen so weit erliegen, dass er sich einen größeren Einfluss auf die Weltgeschichte zurechnet, als er der Natur der Sache nach haben kann. Ein chinesisches Sprichwort sagt: »Ist das rechte Mittel in der Hand des verkehrten Mannes, so wird das richtige Mittel verkehrt.« Daher lege man kein Mittel in die Hand des »verkehrten« Mannes, man wird damit keinen Erfolg haben. (Hervorhebung im Original)
Aus Paulis Sicht sollte dies jedoch nicht als Zeichen der Hoffnungslosigkeit gedeutet werden. Schließlich seien auch die verkehrten Männer sterblich, fuhr er in seinem Schreiben fort, und »sie wechseln mehr oder weniger rasch, und auch die öffentlichen Meinungen sind starken Schwankungen unterworfen. Daher halte ich mich abseits und warte ab.«
Übrigens vertrat Pauli die Ansicht, dass sich in einer Atomwaffe eine »böse Hinterseite der Naturwissenschaften« zeige, die durch keine noch so raffinierte Form der Rationalität zu kontrollieren sei, sondern nur durch »die Besinnung auf komplementäre Gegensatzpaare«, die sich für ihn »im Bohr’schen Sinne« als Bewusstes – Unbewusstes, Denken – Fühlen, Vernunft – Instinkt und Logos – Eros offenbaren. Pauli betonte dabei, dass die gegenwärtig zu beobachtende Fixierung der Menschen auf die rationale Hälfte es unnötig schwer mache, mit den Kernwaffen umzugehen, und die Gefahr für ihren missbräuchlichen Einsatz zunehme.
Bohr antwortete und versuchte Pauli in etwas holprigem Deutsch seine Haltung mit einem seiner bevorzugten Vergleiche zu erklären:
Die Zuschauereinstellung, die Du beschreibst, ist für mich eine ganz klare und begrenzte Möglichkeit, aber wo ich mich selber in der Zuschauer- oder Schauspielersituation befinde, ist nicht leicht zu sagen, indem der Vorhang zwischen der Szene und dem Parkett fortwährend den Platz wechselt. Die ganze Frage nach Offenheit und Vertrauen ist auch weder so einfach noch so kompliziert als Du es machen willst, sondern sie sind zusammen Möglichkeiten in der Welt des Schicksals und der Handlung, wo Du auf Deine Weise so ehrlich Ruhe suchst in Deinem Studium der Gegensätze, während ich auf gut und übel nun einmal streiten muss, um die Konsequenzen der Gegensätze zu dämpfen, dadurch dass ich die Aufmerksamkeit darauf lenke, was trotz allem die Menschheit verbindet im ewigen unruhigen und ebenso durch Furcht und Hoffnung gefärbten Spiel des Lebens.
Nach Kriegsende versuchte man, auch in der Wissenschaft zum gewohnten Miteinander zurückzufinden. Doch die Welt hatte sich verändert – und die Physik ihre Unschuld verloren.
Bohr gab aber nicht auf und unternahm im Jahr 1950 einen letzten Versuch im Alleingang. Ein Jahr nach der Gründung der NATO und des Warschauer Pakts wandte er sich an die Weltöffentlichkeit, indem er einen offenen Brief an die Vereinten Nationen schrieb. In diesem Brief, den er am 9. Juni 1950 auf einer Pressekonferenz verlas, wies Bohr darauf hin, dass mit den Atomwaffen zum ersten Mal ernsthafte Gefahren für die Sicherheit der gesamten Erde bestünden, wie den beteiligten Wissenschaftlern im Lauf des Projekts für den Fall klar geworden war. Er habe stets betont, wie wichtig es sei, »eine Atmosphäre gegenseitigen Vertrauens zu schaffen«, und er sei deshalb der Ansicht, dass es bezüglich Atomwaffen und Kernenergie keine Geheimhaltung geben dürfe und »freier Zugang zu Information und ungehinderte Gelegenheit zu Gedankenaustausch überall zugelassen sein« müssten. Genau hierbei könnte die Organisation der Vereinten Nationen helfen, wie Bohr meinte, und seine Hoffnung sei, dass sich mit ihrer Hilfe »Einigkeit über eine Kontrolle der Atomrüstung« erzielen lasse. Es müsse mithilfe der UN-Organisationen der Versuch unternommen werden, »eine offene Welt mit ungehinderten Möglichkeiten gegenseitiger Information und gegenseitigen Verstehens« zu schaffen oder zu fördern, und es müsse jedem klar sein, »dass Wohlwollen und Achtung unter den Nationen nicht ohne freien Zugang zu Informationen über alle Aspekte des Lebens in sämtlichen Ländern bestehen können«. Bohr betonte immer wieder: »Das höchste Ziel muss eine offene Welt sein, in der jede Nation sich allein durch ihre Beiträge zur gemeinsamen menschlichen Kultur und durch die Hilfe behaupten kann, die sie durch ihre Erfahrungen und Hilfsmittel den anderen zu leisten vermag.«
Bohr sah voraus, was heute im Zeitalter des Internets und der globalen Kommunikation verwirklicht worden ist: dass »die Kontaktmöglichkeiten die ganze Menschheit zu einer zusammenarbeitenden Einheit zu verbinden vermögen« und »das Wissen selbst die Grundlage jeder Zivilisation ist«. Allerdings räumte er in dem Brief ein: »Jede Erweiterung der Grenzen unseres Wissens legt den Individuen und den Nationen durch die dadurch geschaffenen Möglichkeiten zur Veränderung des menschlichen Daseins eine vermehrte Verantwortung auf.«
Kurz nach der Verlesung des Briefs brach der Koreakrieg aus. Die offene Welt blieb ein Traum, und Bohr äußerte sich nie mehr politisch.