Ein Elfenbeinturm der Wissenschaft
Der »Kopenhagener Geist«, den Bohr in die Theoretische Physik einführte und in seinem Institut durch seine offenherzige und unverstellte Persönlichkeit vorlebte, brachte eine intellektuell brodelnde und geistig angespannte Gemeinschaft von Menschen zusammen, die nicht nur aus vielen europäischen Ländern – einschließlich der Sowjetunion – kamen, sondern die den Weg dorthin auch aus Japan, Indien und Amerika gefunden hatten. »Kein Weltkrieg, keine politischen Fehden, nichts konnte die grundlegende Einheit dieser Gruppe stören, deren Mitglieder sich stets als ›Priester einer Kirche‹ fühlten«, beschrieb der aus Wien stammende Victor Weisskopf den »Geist« einmal. Weisskopf und die anderen Wissenschaftler bewunderten, wie Bohr es als Paterfamilias und Primus inter Pares zugleich schaffte, von nahezu allen geliebt zu werden und einen »Geist unbeschreiblicher Freude« zu schaffen, in dem man sich stets ermutigt und nie entmutigt fühlte; in dem man sich unverdrossen daranmachen konnte, »eine neue Disziplin zu schaffen, frei von Konventionen, voll Humor und nicht ohne einen Hauch von Verachtung für den Rest der Welt, aber voller Ehrfurcht für die Größe der offenen Fragen«. Man kooperierte und diskutierte auch die schwierigen politischen und persönlich bedrückenden Themen, aber unter Bohrs Losung: »Manche Dinge sind so ernst, dass man darüber nur scherzen kann.«
Alle, die in den 1920er Jahren bis zum »Wunderjahr« 1932 am »Kopenhagener Geist« partizipieren durften, beschrieben Bohr als großartigen Wissenschaftler und gefühlvollen Menschen, der neben dem zähen Willen, mit dem er dem Wissen nachstrebte, auch »ein Gefühl für die Welt hatte, in der er lebte«. Weisskopf führt diese Bewunderung für Bohr weiter aus: »Früher als anderen wurde Bohr bewusst, dass die Atomphysik eine entscheidende Rolle in der Zivilisation und für das Schicksal der Menschen spielt und spielen wird – dass die Wissenschaft also nicht vom Rest der Welt abgetrennt werden kann.« Nach 1933 sollte sich dies rascher und brutaler als erwartet zeigen. »In den 1930er Jahren zerbrach der Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft« in allen Ländern, so Weisskopf, was unter anderem die dramatische Folge hatte, dass aus dem Deutschland der Nationalsozialisten plötzlich zahlreiche Flüchtlinge nach Kopenhagen kamen und um Hilfe in persönlichen Belangen und Förderung in ihrer Forschung baten.
Gewöhnlich hat der Begriff des »Elfenbeinturms« eine negative Konnotation, da man darunter einen geistigen Ort der Abgeschiedenheit und Unberührtheit von der Welt versteht, in den sich die Wissenschaftler verkriechen, um unter sich zu bleiben und die Kommunikation mit den Medien und den Bürgern zu meiden. Nichts könnte aber weiter von der Wahrheit entfernt sein als dieses festgefahrene Vorurteil. Als der Begriff »Elfenbeinturm« zum ersten Mal verwendet wurde – im 19. Jahrhundert –, diente er als Symbol sowohl für die sittliche Reinheit als auch für die selbstgewählte Isolation eines Künstlers oder Wissenschaftlers, »der in seiner eigenen Welt (nur seinem Werk) lebt, ohne sich um Gesellschaft und Tagesprobleme zu kümmern«, wie sich im Brockhaus nachlesen lässt. Dieser »Elfenbeinturm« ist eine Erfindung des französischen Schriftstellers und Literaturkritikers Charles Augustin Sainte-Beuve (1804–1869) in Bezug auf das Werk des Dichters Alfred Comte de Vigny (1797–1863). In dessen Texten treten talentierte Personen auf, die innerhalb einer verständnislosen, weil materialistisch orientierten Gesellschaft keinen Platz finden und sich deshalb – in einer eher melancholischen Gestimmtheit – von ihr fernhalten. Sie ziehen sich in einen Elfenbeinturm zurück, wie Sainte-Beuve es in durchaus positivem Sinn ausgedrückt hat, um frei von Alltagsbelastungen ihrem Werk zu leben.
Zum Glück hat es zahlreiche solche Elfenbeintürme der Wissenschaft in der Geschichte der Physik gegeben. Dazu gehörte zweifellos auch das Seminar, das in den 1920er Jahren unter der Leitung von Max Born in Göttingen stattfand, wo nicht nur Heisenberg und Pauli zu den Teilnehmern zählten, sondern auch aufstrebende amerikanische Genies wie Norbert Wiener oder J. Robert Oppenheimer. Wiener gilt als der Begründer der Kybernetik, er untersuchte die Steuerungsprozesse in Mensch und Maschine und veröffentlichte seine Ergebnisse in Mensch und Menschmaschine: Kybernetik und Gesellschaft. Oppenheimer leitete später das Institute for Advanced Studies in Princeton und schenkte damit der Neuen Welt ihren eigenen Elfenbeinturm, an dem zum Beispiel Albert Einstein die Möglichkeit fand, mit dem aus Wien stammenden Mathematiker Kurt Gödel (1906–1978) die Grenzen der Logik und die Entscheidbarkeit von wissenschaftlichen Fragen zu erörtern.
Bohrs Institut am Blegdamsvej in Kopenhagen und Borns Seminar in Göttingen verstanden sich ausdrücklich als Refugien für einige höchst intellektuell veranlagte Mitglieder der Spezies »Homo scientificus« wie Oppenheimer, Gamow oder seinen russischen Landsmann Lew Landau. Sie hatten es als Exzentriker mit ihren Schrullen in der Gesellschaft nicht leicht, und einige von ihnen kamen mit den normalen Alltagsverrichtungen oft nicht zurecht.
Doch gerade die Forscher, für die solche Elfenbeintürme geschaffen worden waren, hielt nichts mehr an diesen Zufluchtsstätten, als die Gesellschaft sie und ihre Fähigkeiten brauchte. So empfahl zum Beispiel Norbert Wiener schon früh, sich angesichts der technischen Entwicklung von intelligenten Maschinen Gedanken über The Human Use of Human Beings zu machen und zu fragen, ob die Menschen den Maschinen oder die Maschinen den Menschen überlegen seien und wie die Menschen die gesellschaftliche Führungsrolle beibehalten wollten. Max Born wies in seinen Schriften wiederholt daraufhin, dass wissenschaftlich-technische Errungenschaften, die als Leistung des menschlichen Verstands gefeiert werden, zugleich auch ein Versagen der Vernunft anzeigen können. Und schließlich ist der öffentliche Ruhm von Oppenheimer vornehmlich durch sein erstaunliches Management des Manhattan-Projekts und seinen organisatorischen Einsatz in Princeton in den Jahren nach 1950 begründet, bei dem er erfolgreich versuchte, Dichter wie T. S. Eliot und Wissenschaftler zusammenzubringen, um das Gemeinsame der menschlichen Kultur zu finden und im Dialog zu erfassen.
Die Möglichkeit, im »Geist von Kopenhagen« in einem Raum voller Mitmenschlichkeit und gegenseitigem Vertrauen zusammenzukommen, wurde nach 1933 mit deutscher Gründlichkeit zunichtegemacht.