Die späten Jahre
Die großen wissenschaftlichen Beiträge von Niels Bohr stammen aus den Jahren 1913, 1922, 1927, 1936 und 1939 und befassen sich alle mit dem Verständnis der atomaren Struktur der Materie und ihrer Beständigkeit. Sie führen die Menschen damit in das Atomzeitalter, das für die Zeitgenossen zunächst sehr kühn und optimistisch klang, für uns heute aber eher düster und drohend wirkt. Bereits 1944 reagierte Bohr auf die Tatsache, dass sich nach der Entfesselung der Atomenergie und mit der militärischen Nutzbarkeit von Kernkraft das Verhältnis von Wissenschaft und Politik auf markante Weise geändert hatte. Aus seiner Sicht wurden besondere Maßnahmen nötig, um die durch den Zugriff auf die Atome entstandenen Probleme der Menschheit in den Griff zu bekommen, und im Kriegsjahr 1944 trug er den Staatsoberhäuptern Englands und der Vereinigten Staaten, Churchill und Roosevelt, seine Vorstellung einer »offenen Welt« vor. Bohr hielt die Gelegenheit für günstig, die politischen Gegensätze zwischen Ost und West zu überbrücken, wenn man nur rechtzeitig »eine im Geheimen vorbereitete Konkurrenz verhütet« und »bei allen industriellen und militärischen Planungen« mit restloser Offenheit vorgeht, wenn man alle nötigen Informationen austauscht und miteinander teilt. Bei diesem Vorschlag stand Bohr das Modell der internationalen Kooperation vor Augen, das an seinem Institut in Kopenhagen in den 1920er und 1930er Jahren funktioniert und größte Erfolge auf dem Gebiet der Atomphysik erzielt hatte.

Niels Bohr und seine Frau Margrethe mit ihren Söhnen, Schwiegertöchtern und Enkelkindern anlässlich des 70. Geburtstags des Physikers im Jahr 1955
Bekanntlich haben Churchill und Roosevelt auf einen solchen Vorschlag nicht reagiert, was Bohr aber nicht daran hinderte, 1950 erneut zu versuchen, seine ausgleichende und auf Versöhnung zielende Botschaft durch einen »offenen Brief an die Vereinten Nationen« bekannt zu machen. Das Schreiben wurde jedoch zu einem höchst ungünstigen Zeitpunkt verfasst – die Welt bereitete sich gerade auf den Koreakrieg vor.
Bohr glaubte nach seinem nahezu folgenlosen Brief umso stärker an die Aufgabe der Wissenschaft, selbst bleibende Bindungen über nationale und politische Grenzen hinweg zu knüpfen, um dadurch eine »übernationale menschliche Gesellschaft auf Erden« zu ermöglichen, wie es der Chemiker Victor Weisskopf einmal ausgedrückt hatte. Bohr sorgte beispielsweise dafür, dass sein Institut als erste westliche wissenschaftliche Einrichtung nach dem Krieg auch Physiker aus Polen und der Sowjetunion zum Gedankenaustausch einlud. Dadurch gelang es ihm, im neutralen Dänemark erneut eine Atmosphäre zu schaffen, die für gelebte Internationalität stand.
Weiterhin bemühte sich Bohr in den folgenden Jahren um die Einrichtung übernationaler Forschungszentren, in denen Wissenschaftler aus vielen Nationen zusammenarbeiten konnten. 1954 war Bohr beispielsweise beteiligt, als die Europäische Organisation für Kernforschung ihre Arbeit aufnahm und das europäische Zentrum für Kernforschung, das Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire (CERN), einrichtete. CERN betreibt heute im schweizerischen Genf einen der größten Teilchenbeschleuniger der Welt; die dort tätigen Wissenschaftler befassen sich nur mit Grundlagenproblemen. Für diese Gründung haben sich vierzehn europäische Nationen zusammengeschlossen und nach und nach realisiert, was Bohr sich erträumt hatte – ein internationales und offenes Projekt, »das ausschließlich der Erforschung der Natur ohne jede kommerzielle oder militärische Absicht dient«, wie Weisskopf schreibt. »Es war Niels Bohrs Persönlichkeit und Niels Bohrs Einfluss, die dies möglich gemacht haben.«
Im Verlauf der 1950er Jahre wurde – unter Beteiligung von Bohr – die International Atomic Energy Commission gegründet. Bohr selbst übernahm 1955 den Vorsitz der Dänischen Atomenergiekommission. Nachdem der amerikanische Präsident Dwight D. Eisenhower am 8. Dezember 1953 vor den Vereinten Nationen in New York eine Rede mit dem Titel »Atoms for Peace« gehalten hatte, wurde eine »Atoms for Peace«-Konferenz organisiert, die ab 1957 den »Atoms for Peace Award«, einen Preis zur Förderung der Entwicklung und friedlichen Anwendung von Atomenergie, verlieh. Als erster Preisträger wurde Bohr geehrt. Im gleichen Jahr regte er die Gründung des Nordic Institute for Theoretical Physics (NORDITA) mit Sitz in Stockholm an, das eng mit dem Institut am Blegdamsvej in Kopenhagen kooperierte.
Als Bohr 1962 starb, ging ein heroisches Zeitalter der Wissenschaft zu Ende. Bohr war schon zu Lebzeiten eine Legende geworden: Die Wissenschaftshistoriker sammelten seine Briefe, baten ihn um Interviews und nahmen seine Antworten auf Band auf. In seinem letzten Gespräch am 17. November 1962 betonte Bohr, wie offensichtlich doch die Vorstellung der Komplementarität sei. Er äußerte sich zuversichtlich, dass sie eines Tages den Schulkindern einleuchten würde. Auch diese Äußerungen wurden auf Tonband festgehalten. Wenn man die Aufzeichnung abspielt, hört man eine sanfte Stimme, die eine leise, aber eindrückliche Melodie zu singen scheint: »You know, it is very obvious.«
Am Sonntag nach diesem Interview – es war der 18. November – plante Bohr, den Abend mit Freunden zu verbringen. Am Nachmittag legte er sich hin, um ein wenig zu schlafen. Er wachte nicht mehr auf.