Die Kopenhagener Deutung
Bei den konkreten und gedanklichen Versuchen, die in dem verzweifelten Bemühen unternommen wurden, den Doppelcharakter sowohl von Licht als auch von Materie zu verstehen, tauchten zunächst weitere Undurchsichtigkeiten auf. Die Elektronen präsentierten den staunenden Physikern eine besonders heimtückische Variante der Doppelnatur: Raffinierte Experimente zeigten bald, dass ein Elektron, das beobachtet wird, etwas anderes ist als ein Elektron, das unbeobachtet bleibt. Damit ist Folgendes gemeint: Während sich beobachtete Elektronen als Dinge (Teilchen) erweisen, die man einzeln zählen kann – so wie man es erwartet –, zeigt sich, dass unbeobachtete Elektronen eher Wellen gleichen. Wenn man sie auf eine Wand zulaufen lässt, in der sich zwei Löcher befinden – in der Physik spricht man von einem Doppelspalt –, und erst nachsieht, wo die Elektronen sind, wenn sie die Wand längst passiert haben, dann lässt sich das dabei ermittelte Ergebnis nur verstehen, wenn man jedem einzelnen Elektron zubilligt, beide Wege durch beide Öffnungen genommen zu haben.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wussten die Physiker, dass das Licht Interferenzerscheinungen zeigt. Das heißt, wenn die Strahlen, die von einer Lichtquelle ausgehen, so gelenkt werden, dass sie parallel zwei Öffnungen durchlaufen, dann wird auf einem Schirm hinter dem Doppelspalt ein Hell-Dunkel-Muster erkennbar. Dies kann so gedeutet werden, dass die beiden Öffnungen als Ausgangspunkte von zwei Lichtwellen dienen, die sich je nach Ort verstärken oder auslöschen. Dies ist alles noch verständlich. Unbegreiflich wird, dass dies ebenso mit Elektronen geschehen kann. Wenn ein Elektronenstrahl auf gleiche Weise durch einen Doppelspalt geführt wird, kommt es ebenfalls zur Interferenz. Man muss also von Materiewellen so sprechen, wie man von Lichtwellen spricht.
Doch eine besondere Überraschung tritt ein, wenn das Experiment so durchgeführt wird, dass sich nur ein einziges Elektron in der Apparatur befindet. Auch dann findet eine Interferenz statt, wie ein Experiment deutlich gemacht hat, das zum ersten Mal zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchgeführt worden ist. Das einzelne Elektron wird auf der Rückwand durch die »Klicks« gezählt, die es in einer Verstärkerapparatur auslöst. Hier wird es als Teilchen registriert. Es muss aber den Doppelspalt als Welle durchlaufen haben. Das Elektron (sein Ort) ist also unbestimmt, solange er (der Ort) nicht im Experiment bestimmt und damit – wörtlich betrachtet – festgestellt wird.
Die Physiker zu Bohrs Zeit mussten nach und nach aufgeben, das Schauspiel auf der atomaren Bühne mit anschaulich begründeten Begriffen aus dem Alltag zu beschreiben. Bohr selbst versuchte, diese völlig neue Situation mit seiner Idee der Komplementarität (lateinisch: »completum«; »das Ganze«) zu erfassen. Komplementarität bedeutete für Bohr, dass sich Erscheinungen auf der Ebene der Atome durch eine Doppelnatur auszeichnen. Und zwar treffen bei ihrer Beschreibung zwei Konzepte oder Bilder aufeinander – Welle und Teilchen –, die sich zwar widersprechen, aber zusammengehören. Die experimentellen Anordnungen, mit denen die jeweils komplementären Aspekte erfasst werden, schließen sich gegenseitig aus. Sie können also nie zeitgleich zum Tragen kommen.
Viele Jahre kreisten Bohrs Gedanken um die Idee der Komplementarität, die ihm die philosophische Lektion der Atome zu sein schien und die ihren Ausdruck in den beiden mathematischen Fassungen fand, die es von der Quantenmechanik gab. Natürlich war der Gedanke für viele Physiker ungewohnt, und deshalb bemühte sich Bohr angestrengt um die Klärung der Schwierigkeiten. Er tat dies vor allem im Winter des Jahres 1926/7, als Heisenberg sein Assistent war und in Kopenhagen wohnte. Beide müssen unentwegt und intensiv über die Interpretation der Quantenmechanik diskutiert haben, und bei den bis spät in die Nacht fortgesetzten Gesprächen wurde Bohr nicht müde zu betonen, dass die neue Physik im Gegensatz zur alten Physik den Beobachter nicht ausschließe, sondern mit einbeziehe, und zwar nicht als notwendiges Übel, sondern als maßgeblichen Teil des wissenschaftlichen Unternehmens. Physik, so Bohr, handele nicht von der Natur, sondern vom Wissen, das wir als Menschen von der Natur haben. Wissenschaftler könnten nicht erfassen, wie die Natur wirklich ist, sondern nur, wie ihnen die Natur erscheint, da sie selbst zu dem Versuch beziehungsweise der Messung gehörten, die sie unternehmen.
Was Bohr damals dachte und sagte, erinnert zunächst an Heisenbergs Bemühen, in die Theorie der Atome nur messbare Größen einzuführen – also die Frequenzen und die Intensität des Lichts, das Atome aussenden, oder die elektrische Ladung eines Elektrons. Es erinnert darüber hinaus an die Vorstellungen, die Immanuel Kant von der Erkenntnis hatte. In seiner Kritik der reinen Vernunft führt er die berühmte Formulierung vom »Ding an sich« ein, das dem menschlichen Vermögen unzugänglich bleibt. Kant wies daraufhin, dass wir »von keinem Gegenstand als Ding an sich... Erkenntnis haben«, sondern ihn nur »als Erscheinung« – also mithilfe der sinnlichen Anschauung – erfassen können. Dabei setzt Kant voraus, dass jedes Ding an sich Eigenschaften hat, die es auszeichnen, nur leider steht für die Menschen kein Weg offen, sie zu ermitteln.
Genau diesen philosophischen Gedanken sollte Heisenberg in Kopenhagen widerlegen. Der populärste Ausdruck für das, was Heisenberg entdeckte, lautet »Unschärferelation«; im Englischen ist gerne von der »general uncertainty« die Rede, was man mit »allgemeiner Verunsicherung« übersetzen könnte – tatsächlich ist Heisenberg bei einem seiner Besuche in den USA als »General Uncertainty«, als »General Unsicherheit«, begrüßt worden.
»Unsicherheit« ist zwar besser als »Unschärfe«, aber worum es tatsächlich geht, kann durch keines der beiden Worte adäquat ausgedrückt werden. Was Heisenberg wirklich entdeckt hat, trägt den Namen »Unbestimmtheit«, und so verneinend dieses Wort auch klingt, es drückt paradoxerweise etwa Positives aus: dass wir doch etwas über das Elektron an sich oder irgendein atomares Ding an sich wissen. Wir wissen seit Heisenberg, dass es da nichts zu wissen gibt. Das atomare Ding an sich, so stellte dieser fest, verfügt über nichts Bestimmtes. Ohne einen Beobachter sind seine Eigenschaften noch nicht bestimmt, es verfügt über nichts, das sich ermitteln ließe. Es stellt an sich keine Wirklichkeit dar, birgt aber alle Möglichkeiten in sich. Es wartet, bis jemand nachschaut und fragt, ob eine Eigenschaft vorhanden ist. Gehört das von außen Herangetragene zu den innen vorbereiteten Möglichkeiten, zeigt das atomare Ding, was es hat. Es gibt sich auf und lässt sich bestimmen – von uns. Der Vorschlag hat die Konsequenz, dass einem Ding an sich nicht mit den Mitteln der traditionellen Logik beizukommen ist. So schön die Alternative »Sein oder Nichtsein« auch klingt, es ist die falsche Frage am falschen Ort. Im Innersten der Welt gibt es das Dritte, das die Logik so gern ausschließen möchte, neben dem Sein und dem Nichtsein gibt es auch noch das Möglichsein. Bei seiner Beschreibung, bei der Aufzählung der Möglichkeiten, die das Ding an sich in sich trägt, mischt und verbindet sich, was so lange getrennt war, nämlich die materielle Seite der Objekte und die immaterielle (geistige) Seite der Subjekte.
Philosophen werfen Heisenberg häufig vor, seine Texte seien etwas schlicht. Sie übersehen, dass die Idee der Unbestimmtheit mehr Philosophie enthält, als die meisten der Kritiker vertragen und aushalten können. Der fünfundzwanzigjährige Heisenberg muss die ganze Zeit über, als er in Kopenhagen diesen Gedanken entwickelte, gewusst haben, was er tut: das Ding an sich nicht nur nebenbei konstatieren, sondern in mühsamer Kleinarbeit einkreisen. Er wusste aber zugleich auch, dass er bei dieser schweren Aufgabe nur mit physikalischen Argumenten bestehen konnte. Bei diesen Anstrengungen entstanden die berühmten Relationen, die oft als Quintessenz seiner Deutung der Quantentheorie vorgestellt werden.
Leider ist Heisenbergs Autobiographie an dieser Stelle eher zurückhaltend, und in den Briefen aus jenen Tagen ringt er vor allem mit den konkreten Fragen der Physik. Der zentrale Gedanke scheint ihm abermals in Zurückgezogenheit gekommen zu sein. Im Februar 1927 verließ Bohr Kopenhagen, um Skiurlaub in Norwegen zu machen. Die Historiker begründen dies mit Erschöpfung. Die Diskussionen mit Heisenberg haben ihm mit Sicherheit viel abverlangt, darüber hinaus die Leitung des Instituts, die Betreuung der Doktoranden, das Halten von Vorlesungen und das Kümmern um die eigene Familie.
Als Bohr sich in Norwegen erholte – und das Skilaufen nutzte, um Klarheit über die Komplementarität zu gewinnen –, blieb Heisenberg »allein« in Kopenhagen zurück. Wie auf Helgoland war er nur mit sich und seinen inneren Bildern befasst, und seine Gedanken kreisten immer wieder um die Frage: »Was versteht man unter ›Ort des Elektrons‹?«
In einem ausführlichen Brief an Pauli von Ende Februar 1927, der die Grundlage für die spätere Publikation enthält, wendete Bohr die Frage schnell in die richtige Richtung, indem er sie durch eine andere ersetzte, die der Quantentheorie angemessen ist: »Wie bestimmt man den Ort eines Elektrons?« (Hervorhebung im Original) Im Grunde ist die Antwort einfach: »Man nehme etwa ein Mikroskop mit hinreichend gutem Auflösungsvermögen und schaue das Elektron an. Die Genauigkeit hängt von der Wellenlänge des Lichtes ab. Durch hinreichend kurzwelliges Licht lässt sich der Ort des Elektrons zu einer bestimmten Zeit... beliebig genau feststellen; das Gleiche kann durch Stöße von sehr schnellen Teilchen auf das Elektron erreicht werden.«
Bei dem geschilderten Zusammentreffen wird sich allerdings die Geschwindigkeit des fraglichen Elektrons ändern, wobei die Physiker lieber vom Impuls eines Partikels, also vom Produkt aus der Masse und der Geschwindigkeit, sprechen. In Heisenbergs Version der Quantentheorie gibt es sowohl für den Ort als auch für den Impuls eine Matrix, wobei es auf die Reihenfolge ihrer Anwendung ankommt. Dies bedeutet, dass eine Ortsmessung den Impuls so verändert, dass er »ganz unbestimmt« wird, wie Heisenberg schreibt, und dass umgekehrt eine Impulsmessung den Ort so verändert, dass er »ganz unbestimmt« wird. Mit anderen Worten: Ort und Impuls eines Elektrons können nicht zugleich »beliebig genau« ermittelt werden; die Messung der einen Größe verhindert die Bestimmung der anderen, was Bohr später als komplementäre Größe bezeichnen wird.
Neben dem komplementären Paar »Ort und Impuls« fand Heisenberg noch das zweite Paar »Energie und Zeit«, und als er sich davon überzeugt hatte, dass sich kein Mikroskop bauen ließ, das der quantenmechanisch bedingten und durch das Wirkungsquantum festgelegten Unbestimmtheit der Messwerte entkommen konnte, fasste er seine Überlegungen zusammen und schickte sie an die Zeitschrift für Physik mit der Bitte um Veröffentlichung. Bohr war verärgert, als er in sein Institut zurückkehrte und davon erfuhr, denn offenbar hatten er und Heisenberg verabredet, sich nach der Unterbrechung erneut zusammenzusetzen, um eine gemeinsame Publikation zu entwerfen, die so etwas wie eine »Kopenhagener Deutung der Quantentheorie« hätte ergeben können. Durch Heisenbergs voreiliges Publizieren war ein gemeinsames Papier über Unbestimmtheit und Komplementarität, das den Namen der beiden Wissenschaftler hätte tragen können, aber leider vereitelt worden.
Bohr war übrigens aus mehr als einem Grund verärgert, wie es scheint, mit guten Argumenten auf seiner Seite. Was Heisenberg an die Zeitschrift für Physik gesandt hatte, enthielt nämlich einen gravierenden Fehler. Es geht dabei um technische Grenzen von Mikroskopen, die mit Mitteln der klassischen Physik zu begründen sind und nichts mit den Quantenphänomenen zu tun haben. Amüsanterweise hatte Heisenberg schon in seiner mündlichen Doktorprüfung Schwierigkeiten, mit den traditionellen Mitteln seiner Wissenschaft zu erklären, ab welcher Vergrößerung ein Mikroskop unscharfe Bilder zu liefern pflegt. Nun reagierte er abermals bockig an derselben Stelle. Bohr konnte ihm klarmachen, dass die Unschärfe nichts mit der Doppelnatur der Elektronen oder anderen Quantenbesonderheiten zu tun habe, sondern schlicht und einfach eine Folge der technischen Vorgaben eines Mikroskops sei. Er forderte Heisenberg auf, die eingeschickte Arbeit zurückzuziehen und noch einmal von vorn zu beginnen.
Heisenberg lehnte ab – und in den folgenden Wochen brach ein heftiger Streit aus, bei dem scharfe Worte gewechselt wurden und wohl auch Tränen (aus Heisenbergs Augen) geflossen sind. Es dauerte bis zum Mai 1927, ehe Heisenberg wenigstens ein wenig nachgab und sich bereit erklärte, den Fehler in einer Fußnote einzuräumen. Seine Arbeit, so schrieb er, enthalte »wesentliche Punkte«, die er übersehen und auf die Bohr ihn inzwischen hingewiesen habe. Er wolle, so Heisenberg weiter, noch einmal betonen, was wirklich wichtig sei, nämlich die Erkenntnis, dass die Unsicherheit in der Beobachtung nicht allein durch das Vorhandensein diskreter Teilchen und kontinuierlicher Wellen entstehe, sondern auch durch die Forderung zustande komme, »den verschiedenen Erfahrungen gleichzeitig gerecht zu werden, die in der Korpuskulartheorie einerseits, der Wellentheorie andererseits zum Ausdruck kommen«.
Bohr hatte sich einmal beklagt, dass zwar alle Physiker Heisenbergs Arbeit lesen würden, aber nicht die Ergänzung am Ende des Papiers. Vermutlich ist es genau umgekehrt. Zumindest alle Biographen stürzen sich auf die Korrektur, und sie quälen sich nicht mehr durch die Originalarbeit. Das ist auch nicht unbedingt erforderlich, denn Heisenberg lieferte in seinen öffentlichen Vorträgen bessere Erklärungen dafür, worum es ihm gegangen ist; außerdem ist der oben erläuterte Sachverhalt, der tatsächlich mit der Unbestimmtheit erfasst wird, erst später in voller Klarheit in das Bewusstsein getreten.
Was steckt aber wirklich hinter dem Streit um die Fußnote? Es gibt Interpreten, die Heisenbergs Selbstwertgefühl anführen und der Ansicht sind, dass es ihn gestört habe, von Bohr erklärt zu bekommen, dass die Unbestimmtheit nur ein Spezialfall seiner allgemeinen Idee der Komplementarität sei. Heisenberg musste damit rechnen, in Bohrs Schatten zu geraten, so wie er schon in Schrödingers Schatten zu stehen gekommen war, dessen Wellenmechanik die einfachere Methode zu sein schien und deshalb auch die größere Zustimmung gefunden hatte. Andere orientieren sich vor allem an der Frage, warum Heisenberg seine Gedanken zur Veröffentlichung einreichte, bevor er sie mit Bohr abgesprochen hatte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Bohr unendlich geduldig diskutieren und sich tagelang an einzelnen Formulierungen aufhalten konnte. Nie war er zufrieden, immer wieder wurde eine neue Schleife in die Linie der Gedanken geflochten, mit dem Ergebnis, dass Bohrs Texte nach und nach ein »Verbrechen am Lesepublikum« wurden, wie es Max Delbrück einmal ausgedrückt hat. Bohr strebte Sätze an, die niemand widerlegen konnte, und so blieb vielfach allzu dunkel und unklar, was erklärt werden sollte. Heisenbergs Sprache hingegen war klar, wobei dieser Vorteil sich nachteilig auswirken kann. Was er sagte und schrieb, wurde deshalb höchst anfällig für die Fehler, die Bohr unter allen Umständen vermeiden wollte.
Vielleicht hat Heisenberg Bohrs Urlaub genutzt, um den ihm unnötig erscheinenden Gedankenübungen auszuweichen, die seiner Ansicht nach nur verwässern konnten, was er längst klar vor Augen hatte: die Vorstellung von unbestimmten Dingen an sich am räumlichen Anfang der Welt. Fehler im Manuskript störten Heisenberg dabei nicht. Wahrscheinlich gibt es keine wissenschaftliche Publikation von ihm, in der er sich nicht ein paarmal verrechnet oder auf andere Weise vertan hat. Dies war allen bekannt und vor allem seinen Schülern vertraut. Sie wussten aber auch, worauf es ankam, nämlich auf das Ergebnis, und das war bei Heisenberg zumeist nicht nur richtig, sondern revolutionär.