Das Jahr der Nobelpreisverleihung

Eine genaue Untersuchung zeigte, »dass die Annahme, das Element mit der Atomnummer 72 weise entsprechende chemische Eigenschaften auf wie die Seltenen Erden, eine Änderung in der Festigkeit der Elektronenverbindung mit der Atomnummer fordern würde, die mit den allgemeinen Forderungen der Quantentheorie unvereinbar scheint«. So sprach Bohr am Ende seiner langen Rede, die er am 11. Dezember 1922 in Stockholm halten durfte, als ihm der Nobelpreis für Physik überreicht wurde. Es fällt auf, dass Bohr den behaupteten Nachweis eines nicht existierenden Elements vornehm und rücksichtsvoll, wie es seine Art ist, als »Annahme« akzeptabel macht, die sich möglicherweise wiederlegen lässt.

In seiner Rede erläuterte Bohr ausführlich seine Kenntnisse »Über den Bau der Atome« und riskierte es noch vor dem Abschluss der Versuche von Coster und Hevesy, die Überlegenheit der Theorie gegenüber dem experimentellen Befund zum Keltium zu verkünden – dank der Qualität der Theorie kam hier ein neues Selbstbewusstsein in die Physik, dem die traditionelle Logik der experimentellen Forschung nur schal und bedeutungslos vorkam. Diese Souveränität der theoretisch geleiteten Wissenschaft repräsentierten bis zu diesem Jahr vor allem Wissenschaftler wie Planck, Einstein und Bohr. Ihre Nachfolger saßen aber schon auf den Bänken in den Hörsälen; zu ihnen gehörte der einundzwanzigjährige Werner Heisenberg, der im Jahr der Nobelpreisverleihung von München nach Göttingen gekommen war, um den siebenunddreißigjährigen Bohr zu erleben. Dieser hielt im Sommer 1922 in der niedersächsischen Universitätsstadt sieben Vorträge von jeweils zwei Stunden Dauer über seine Theorie vom Atombau – ein Ereignis, das als »Bohr-Festspiele« in die Geschichte der Wissenschaft eingegangen ist. Und es gibt für diese Bewertung nicht nur wissenschaftliche, sondern auch politische Gründe, schließlich war Bohr – nach dem Grauen des Ersten Weltkriegs – der erste ausländische Gast in Deutschland, der sich auf eine Zusammenarbeit mit den dortigen Physikern einließ und die noch verbliebenen Feindseligkeiten in offenen Gesprächen abbauen und vielleicht in künftige Freundschaften umwandeln wollte.

Es ist wichtig, sich die Stimmung im großen Hörsaal des Physikalischen Instituts in Göttingen zu vergegenwärtigen, in dem sich das Publikum drängte, um Bohr zu hören und etwas über Atome und die neue Quantenphysik zu lernen. Wissenschaftlich gesehen befand man sich ziemlich im Ungewissen. Das Land der klassischen Physik hatte man zwar verlassen können oder müssen, um sich auf Entdeckerfahrt zu begeben, aber das erhoffte Ufer zeigte sich bestenfalls in ersten Umrissen. Alle Bemühungen gingen auf einem Grund vonstatten, der wie ein Meer zu schwanken schien. Politisch waren zu dieser Zeit noch immer die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs zu spüren, durch die Deutschland und seine Wissenschaftler isoliert worden waren. Der hohe dänische Besuch bedeutete eine heilsame Anerkennung der deutschen Wissenschaft und bot die Chance einer Öffnung zur internationalen Zusammenarbeit.

Bohrs Annahme der Einladung nach Göttingen hat sicher mit dem hohen Respekt zu tun, den die ganze Familie Bohr der deutschen Kultur und Wissenschaft zollte. Niels Bohr schätzte in seinem Fachgebiet vor allem die Arbeiten von Sommerfeld, mit denen sein Atommodell wesentlich verfeinert werden konnte. Sommerfeld selbst kam selbstverständlich nach Göttingen, und er brachte seinen Studenten Werner Heisenberg mit. Der große Hörsaal war bis auf den letzten Platz besetzt, als Bohr im Sommer 1922 mit seinen Ausführungen begann. Heisenberg hat sich 1969 in seiner Autobiographie Der Teil und das Ganze an die ersten Eindrücke aus diesen Tagen erinnert:

Bohr sprach ziemlich leise; mit weichem dänischen Akzent, und wenn er die einzelnen Annahmen seiner Theorie erklärte, so setzte er die Worte behutsam, sehr viel vorsichtiger, als wir es sonst von Sommerfeld gewohnt waren, und fast hinter jedem der sorgfältig formulierten Sätze wurden lange Gedankenreihen sichtbar, von denen nur der Anfang ausgesprochen wurde und deren Ende sich im Halbdunkel einer für mich sehr erregenden philosophischen Haltung verlor. Der Inhalt der Vorlesung schien neu und nicht neu zugleich. Wir hatten die Bohr’sche Theorie ja bei Sommerfeld gelernt, also wussten wir, worum es sich handelte. Aber was gesagt wurde, klang in Bohrs Mund anders als bei Sommerfeld. Es war ganz unmittelbar zu spüren, dass Bohr seine Resultate nicht durch Berechnungen und Beweise, sondern durch Einfühlen und Erraten gewonnen hatte...

Heisenbergs Ausführungen deuten an, dass es so etwas wie einen Stil der Wissenschaft gibt. Nicht nur in der Malerei und in der Literatur, sondern auch in der Wissenschaft lässt sich ein Stil erkennen, und Heisenberg macht in Der Teil und das Ganze klar, dass er das Wort in der Physik so verwendet wie in der Kunst. So wie es zum Beispiel Rembrandts oder Monets Stil gibt, gibt es Einsteins oder Bohrs Stil, und Heisenberg stellt den zuletzt Genannten mit den folgenden Worten im künstlerischen Vergleich dar:

Bohr benützt die klassische Mechanik oder die Quantentheorie eigentlich... so, wie ein Maler Pinsel und Farbe benützt. Durch Pinsel und Farbe ist das Bild nicht bestimmt, und die Farbe ist nie die Wirklichkeit; aber wenn man das Bild vorher, wie der Künstler, vor dem geistigen Auge hat, so kann man es durch Pinsel und Farbe – vielleicht nur unvollkommen – auch den anderen sichtbar machen. Bohr kennt das Verhalten der Atome bei Leuchterscheinungen, bei chemischen Prozessen und in vielen anderen Vorgängen ganz genau, und dadurch hat er intuitiv eine Vorstellung von der Struktur der verschiedenen Atome gewonnen; ein Bild, das er nun mit dem unvollkommenen Hilfsmittel der Elektronenbahnen und Quantenbedingungen den anderen Physikern verständlich machen will. Es ist also gar nicht so sicher, dass Bohr selbst an die Elektronenbahnen im Atom glaubt. Aber er ist von der Richtigkeit seiner Bilder überzeugt. Dass es für diese Bilder einstweilen noch keinen angemessenen sprachlichen oder mathematischen Ausdruck gibt, ist doch gar kein Unglück. Es ist im Gegenteil eine außerordentlich verlockende Aufgabe.

Es würde sich lohnen, Wissenschaftsgeschichte als Stilgeschichte zu schreiben und zum Beispiel Newtons Stil von dem Einsteins, Bohrs Stil von dem Sommerfelds und Heisenbergs Stil von anderen Stilen zu unterscheiden, wobei diese Zuordnung nicht auf die Physik zu beschränken ist und sicher auch für die Chemie und die Biologie zutrifft. Man braucht nur an Darwins Stil in der Biologie, an Louis Pasteurs Stil in der Chemie oder an Otto Warburgs Stil in der Biochemie zu denken. Wer sich dazu entschließt, muss allerdings einem Gedanken Platz einräumen, der in der Wissenschaft sicher zunächst befremdlich wirkt und eher verschreckt. Aber wenn man ernst nimmt, was Heisenberg sagt, wenn also Wissenschaft und Kunst so eng zusammengehören, dann bestätigt dies, dass etwa die Beschreibung eines Atoms nicht nur eine Entdeckung, sondern ebenso sehr eine schöpferische Tat ist. Kreativität kennzeichnet nicht nur Dichter und Maler, sondern auch Physiker, und es gibt kein besseres Beispiel dafür als Heisenberg selbst.

Unter den kreativen Physikern waren Bohr und er die größten Künstler. Die moderne Theorie der Atome, zu der beide beigetragen haben, kann nur als kreative Hervorbringung verstanden werden, die im dramatischen schöpferischen Akt gelungen ist. Die fertige Theorie liegt natürlich als Abstraktion vor, aber es ist eine Abstraktion, die sich einer Einfühlung und einer inneren Verbindung zu den Dingen verdankt. Man muss sich in manche Dinge hineinträumen können, um sie zu verstehen. Bohr ist dies bei den Atomen gelungen.

Der »dramatische schöpferische Akt« wird auch deutlich, wenn man Heisenbergs Ausführungen über Bohrs Vortragen weiterverfolgt (das Zitat oben wurde vom Autor an entscheidender Stelle abgebrochen): »Es war ganz unmittelbar zu spüren, dass Bohr seine Resultate nicht durch Berechnungen und Beweise, sondern durch Einfühlen und Erraten gewonnen hatte und dass es ihm jetzt schwerfiel, sie vor der hohen Schule der Mathematik in Göttingen zu verteidigen. Nach jeder Vorlesung wurde diskutiert, und am Ende der dritten Vorlesung wagte ich eine kritische Bemerkung.«

Diese Wortmeldung wird das Leben sowohl von Bohr als auch von Heisenberg ändern, weil sich hier in einem Augenblick zwei Menschen begegnen, die sofort spüren, dass sie zueinandergehören, in einem Ziel vereint: den Aufbau der Atome zu verstehen. Und während der Ältere jederzeit bereit war, etwa Neues zu lernen, wenn dabei das Verstehen vorankam, konnte der Jüngere ohne Umschweife reden, wenn seine Wissenschaft verhandelt wurde. Als Heisenberg 1922 in Göttingen das Wort ergriff, widersprach er dem Meister klar und deutlich – er wies Bohr vor der versammelten Gilde der Wissenschaftler auf einen Fehler hin. Das Auditorium kann nur gestaunt haben, während der Angesprochene selbst vermutlich eher hoffte, endlich lernen zu können, wie etwas richtig gemacht werden konnte, mit dem er selbst nicht so recht weiterkam.

Worum ging es bei Heisenbergs Einwand? Bohr hatte über die Aufspaltung der Spektrallinien gesprochen, die beobachtet wird, wenn man Atome nicht magnetischen, sondern elektrischen Feldern aussetzt. In der Physik spricht man vom Stark-Effekt, und an Bohrs Institut hatte man die dazugehörigen Messwerte unter der anschaulichen Annahme zu erklären und berechnen versucht, dass ein Atom genau das sei, was Bohr sich darunter vorgestellt hatte, ein Planetensystem im Kleinen. In seiner Autobiographie lässt Heisenberg Niels Bohr die Herleitung dieser Vorstellung ausführlicher erzählen:

»Der Ausgangspunkt war ... nicht der Gedanke, dass das Atom ein Planetensystem im Kleinen sei und dass man hier die Gesetze der Astronomie anwenden könnte ... Für mich war der Ausgangspunkt die Stabilität der Materie, die ja vom Standpunkt der bisherigen Physik aus ein reines Wunder war. Ich meine mit dem Wort Stabilität, dass immer wieder die gleichen Stoffe mit den gleichen Eigenschaften auftreten, dass die gleichen Kristalle gebildet werden, die gleichen chemischen Verbindungen entstehen usw. Das muss doch bedeuten, dass auch nach vielen Veränderungen, die durch äußere Wirkungen zustande kommen mögen, ein Eisenatom schließlich wieder ein Eisenatom mit genau den gleichen Eigenschaften ist. Das ist nach der klassischen Mechanik unbegreiflich, besonders dann, wenn ein Atom Ähnlichkeit mit einem Planetensystem hat.«

Den Gedanken des Planetensystems im Kleinen hielt Heisenberg aber seit Beginn seines Studiums für hinderlich, und bei der von Sommerfeld vorgeschlagenen Analyse der entsprechenden Untersuchungen waren ihm weitere Bedenken gekommen und einige Fehler aufgefallen, die er mit seinem Lehrer besprochen hatte. Was Bohr eben gesagt habe, so wagte Heisenberg nun in Göttingen einzuwenden, führe in die Irre und könne ziemlich leicht widerlegt werden; außerdem seien die dazugehörigen Rechnungen von Bohrs Assistenten unzureichend.

e9783641068547_i0011.jpg

Bild 4

Die »Bohr-Festspiele« 1922 in Göttingen: Bohr (2. von links) mit Carl Wilhelm Oseen, James Franck, Oskar Klein und dem sitzenden Max Born

Die »Bohr-Festspiele« hatten ihren Höhepunkt, und die Hauptfigur wankte. Bohr wurde unsicher, er geriet ins Stocken, begann zu murmeln und zeigte sich durch den Vorschlag beunruhigt, dessen Tragweite ihm sicher sofort klar war. Vermutlich wusste Bohr besser als alle anderen, wie wenig festen Grund seine »erfühlten« Einsichten über die Atome hatten, und es darf spekuliert werden, dass er mit mehr Sehnsucht als alle anderen auf jemanden wartete, der ihm in dieser Lage weiterhalf und von dem er lernen konnte.

Vielleicht nahm Bohr in dem Moment, als Heisenberg seinen Finger auf die tiefste theoretische Wunde in der gesamten Konstruktion der Atome legte, unmittelbar wahr, dass mit diesem jungen Mann die Tage der alten Quantentheorie zu Ende gehen könnten. Auf jeden Fall lud er Heisenberg am Ende der Veranstaltung zu einem Spaziergang ein, von dem der Student später sagen sollte, »dieser Spaziergang hat auf meine spätere wissenschaftliche Entwicklung den stärksten Einfluss ausgeübt, oder man kann vielleicht besser sagen, dass meine eigentliche wissenschaftliche Entwicklung erst mit diesem Spaziergang begonnen hat«. Diese Entwicklung sollte ihn bald nach Kopenhagen führen.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
titlepage.xhtml
cover.html
e9783641068547_fm01.html
e9783641068547_ded01.html
e9783641068547_toc01.html
e9783641068547_fm02.html
e9783641068547_fm03_split_000.html
e9783641068547_fm03_split_001.html
e9783641068547_fm03_split_002.html
e9783641068547_fm03_split_003.html
e9783641068547_fm03_split_004.html
e9783641068547_fm03_split_005.html
e9783641068547_fm03_split_006.html
e9783641068547_c01_split_000.html
e9783641068547_c01_split_001.html
e9783641068547_c01_split_002.html
e9783641068547_c01_split_003.html
e9783641068547_c01_split_004.html
e9783641068547_c01_split_005.html
e9783641068547_c01_split_006.html
e9783641068547_c01_split_007.html
e9783641068547_c01_split_008.html
e9783641068547_c02_split_000.html
e9783641068547_c02_split_001.html
e9783641068547_c02_split_002.html
e9783641068547_c02_split_003.html
e9783641068547_c02_split_004.html
e9783641068547_c02_split_005.html
e9783641068547_c02_split_006.html
e9783641068547_c02_split_007.html
e9783641068547_c02_split_008.html
e9783641068547_c02_split_009.html
e9783641068547_c02_split_010.html
e9783641068547_c02_split_011.html
e9783641068547_c02_split_012.html
e9783641068547_c03_split_000.html
e9783641068547_c03_split_001.html
e9783641068547_c03_split_002.html
e9783641068547_c03_split_003.html
e9783641068547_c03_split_004.html
e9783641068547_c03_split_005.html
e9783641068547_c03_split_006.html
e9783641068547_c03_split_007.html
e9783641068547_c03_split_008.html
e9783641068547_c03_split_009.html
e9783641068547_c03_split_010.html
e9783641068547_c04_split_000.html
e9783641068547_c04_split_001.html
e9783641068547_c04_split_002.html
e9783641068547_c04_split_003.html
e9783641068547_c04_split_004.html
e9783641068547_c04_split_005.html
e9783641068547_c04_split_006.html
e9783641068547_c04_split_007.html
e9783641068547_c04_split_008.html
e9783641068547_c04_split_009.html
e9783641068547_c05_split_000.html
e9783641068547_c05_split_001.html
e9783641068547_c05_split_002.html
e9783641068547_c05_split_003.html
e9783641068547_c05_split_004.html
e9783641068547_c05_split_005.html
e9783641068547_c05_split_006.html
e9783641068547_c05_split_007.html
e9783641068547_c05_split_008.html
e9783641068547_c06_split_000.html
e9783641068547_c06_split_001.html
e9783641068547_c06_split_002.html
e9783641068547_c06_split_003.html
e9783641068547_c06_split_004.html
e9783641068547_c06_split_005.html
e9783641068547_c06_split_006.html
e9783641068547_c06_split_007.html
e9783641068547_c06_split_008.html
e9783641068547_c07_split_000.html
e9783641068547_c07_split_001.html
e9783641068547_c07_split_002.html
e9783641068547_c07_split_003.html
e9783641068547_c07_split_004.html
e9783641068547_c07_split_005.html
e9783641068547_c07_split_006.html
e9783641068547_c07_split_007.html
e9783641068547_c07_split_008.html
e9783641068547_c07_split_009.html
e9783641068547_c08_split_000.html
e9783641068547_c08_split_001.html
e9783641068547_c08_split_002.html
e9783641068547_c08_split_003.html
e9783641068547_c08_split_004.html
e9783641068547_c08_split_005.html
e9783641068547_c08_split_006.html
e9783641068547_c08_split_007.html
e9783641068547_bm01.html
e9783641068547_bm02_split_000.html
e9783641068547_bm02_split_001.html
e9783641068547_bm03.html
e9783641068547_bm04.html
e9783641068547_bm05_split_000.html
e9783641068547_bm05_split_001.html
e9783641068547_bm05_split_002.html
e9783641068547_bm05_split_003.html
e9783641068547_bm06.html
e9783641068547_ind01.html
e9783641068547_bm07.html
e9783641068547_cop01.html