Der Pauli-Bohr-Dialog
Die Idee der Komplementarität stieß auf größte Sympathie bei dem sonst so kritischen Wolfgang Pauli, der bereitwillig den Gedanken akzeptierte, dass die ungeteilte Wirklichkeit nicht mit einem Blick, sondern nur komplementär zu erfassen ist. Für Pauli war nach den Erfahrungen der Physiker offenkundig, dass es Naturbeschreibungen gibt, die sich zwar gegenseitig ausschließen, die aber gleichberechtigt sind, was auch bedeutet, dass das Ganze wirklich mehr ist als die Summe seiner Teile. Das Ganze ist so der Aspekt, der dem zerlegenden Zugriff als gleichberechtigte Ergänzung an die Seite treten muss, damit vom Verstehen einer Sache gesprochen werden kann. Das Ganze ist nie nur das Ganze, sondern immer auch der komplementäre Aspekt zu den Teilen.
Der Gedanke der Komplementarität ist im Grunde einleuchtend: Da gibt es die Lichtseite, zu der eine Nachtseite gehört; da agiert der Einzelne, der den Anderen erwartet; da zeigt sich das Eigene, das sich im Fremden sieht, und vieles mehr. Der Psychologe C. G. Jung hat dies 1953 einmal so formuliert: »Es scheint mir unerlässlich, komplementär zu denken: Zu Stoff gehört Nichtstoff, zu oben unten, zu Kontinuität Diskontinuität etc. Das Eine ist die Bedingung des Anderen.«
Das Zitat findet sich in einem Brief an Pauli, der in seiner Antwort einen entscheidenden Schritt weitergeht, wenn er zunächst schreibt: »An die Stelle der alten Idee der polaren Gegensätze, wie z. B. des chinesischen Yin und Yang, tritt daher beim Modernen die Idee der komplementären Aspekte der Phänomene.« Dann kommt er zu dem Schluss, dass es »eine der wichtigsten Aufgaben des abendländischen Geistes« bleibt, »die alte Idee in die neue Form zu übersetzen«.
1954 fasste Pauli Bohrs Gedanken in einem Vortrag über »Die Wissenschaft und das abendländische Denken« mit den Worten zusammen:
Ich glaube, dass es das Schicksal des Abendlandes ist, diese beiden Grundlagen, die kritisch rationale, verstehen wollende auf der einen und die mystisch irrationale, das erlösende Einheitserlebnis suchende auf der anderen Seite, immer wieder in Verbindung miteinander zu bringen. In der Seele des Menschen werden immer beide Haltungen wohnen und die eine wird stets die andere als Keim ihres Gegenteils in sich tragen. Dadurch entsteht eine Art dialektischer Prozess, von dem wir nicht wissen, wohin er uns führt. Ich glaube, als Abendländer müssen wir uns diesem Prozess anvertrauen und das Gegensatzpaar als komplementär anerkennen.
Leider haben die Philosophie-Institute bislang noch nicht verstanden, was Bohr und Pauli zum Ausdruck bringen wollten, von einer Umsetzung der Idee kann überhaupt keine Rede sein. Was in Paulis Sätzen anklingt, zeigt erst dann seine volle Tragweite, wenn man jenen Ausdruck ins Spiel bringt, den Pauli vermeidet, obwohl er die Gefilde westlicher Rationalität längst erobert hat. Gemeint sind die Vernunft und die Hoffnung unserer Kultur, dass sie es ist, die die Verirrungen oder Auswüchse des Verstands unter Kontrolle hält und seiner Aktivität die richtige Orientierung gibt. Was die Wissenschaftstheoretiker und ihre philosophischen Begleiter an der Gegenwart beklagen, ist die Unfähigkeit der Vernunft, das Verfügungswissen, das der wissenschaftliche Fachverstand liefert, geeigneter zur Orientierung einzusetzen, um die Lebensbedingungen und vieles mehr zu verbessern.
Wir glauben spätestens seit Immanuel Kant und der Aufklärung an die Vernunft, obwohl sich beim Blick auf die historischen Entwicklungen der Verdacht einschleichen könnte, dass wir hier etwas falsch machen und einem Irrtum unterliegen. Schließlich hat alle Vernunft kein Ende der Zerstörungen erreicht, die mit wissenschaftlichen Mitteln zustande kommen.
Pauli behauptete nun, dass die Kultur im Westen tatsächlich auf das falsche Pferd setzt. Wenn überhaupt, dann kann sie nur der Rückgriff auf eine Fähigkeit retten, die komplementär zu der Funktion ist, der wir jahrhundertelang den größten Raum zugebilligt haben, komplementär also zum Verstand und seinem Denken. Wenn die Idee der Komplementarität mehr als nur eine nette erkenntnistheoretische Variante der Physik ist, sondern eine zentrale Funktion der Welt darstellt, dann nützt es nichts, an die Vernunft zu appellieren, um die vom Verstand freigesetzten Kräfte zu kanalisieren. Es kommt vielmehr darauf an, endlich die Gefühle zu mobilisieren, die den Dingen Wert beimessen und uns auf diese Weise die Orientierung geben, die wir alle vermissen.
Die Vernunft stellte für ihn mehr das komplementäre Gegenstück zum Instinkt dar. Pauli kritisierte die Beschwörungen der Vernunft und die sprachliche Fixierung seiner Zeit zugunsten einer Hälfte eines Gegensatzpaars, und er deutete diese Festlegung als sicheres Symptom dafür, »dass die menschliche Ganzheit psychologisch nicht erreicht oder sogar blockiert ist«. Er gebe aber seine Hoffnung nicht auf, dass sich die Komplementarität durchsetze und sich auch im Wissenschaftsbetrieb auswirke, wie er in den 1950er Jahren im Rahmen der Atomdebatte an Jung schrieb: »In dieser schwankenden Notlage, wo alles zerstört werden kann – der Einzelne durch Psychose, die Kultur durch Atomkriege –, wächst das Rettende auch, die Pole der Gegensatzpaare rücken wieder zusammen... Die zukünftige Entwicklung muss... eine solche Erweiterung der Physik, vielleicht zusammen mit der Biologie, mit sich bringen, dass die Psychologie des Unbewussten in ihr aufgenommen werden kann. Dagegen ist diese aus eigener Kraft, allein aus sich selbst nicht entwicklungsfähig.«
Die Komplementarität, die Pauli überzeugt vertrat, trennt zwar nach wie vor das beobachtende Subjekt von dem Objekt seiner Begierde, das es vermessen will, und wie in der klassischen Physik hat das forschende Ich auch die freie Wahl bei der Versuchsapparatur. Aber was früher noch ohne Konsequenzen möglich war, muss in der Quantenmechanik bezahlt werden. Die Wahl der Untersuchungsmethode ist jetzt nicht mehr ohne Opfer möglich, und am Ende steht nicht mehr eine einzige Naturbeschreibung, die von sich behaupten kann, allein die Wahrheit zu liefern. Bedingt durch ihre Ganzheitlichkeit besteht im Rahmen der Quantenmechanik die neue Möglichkeit, mehrere Naturbeschreibungen zu haben, die komplementär zueinander und somit auch gleichberechtigt sind. Deshalb hat Schrödingers Wellenmechanik nicht die Quantenfassung von Heisenberg verdrängen können. Deshalb erscheint uns Licht einmal als Welle und einmal als Teilchen. Deshalb gibt es die Unbestimmtheitsrelationen von Heisenberg. Pauli hatte das nicht nur als Erster verstanden, sondern er war auch noch bis zuletzt bemüht, diesen Gedanken der Komplementarität weiterzutragen, und zwar bis in den seelischen Bereich hinein.
Für Pauli waren zum Beispiel das Bewusste und das Unbewusste keine Gegensätze, die sich abstoßen, oder Größen, die ineinander enthalten sind. Er verstand sie vielmehr als komplementäre Begriffe, die in einem einander ausschließenden Verhältnis zueinander stehen. Dabei lässt sich eine einfache Analogie zu den komplementären Eigenschaften eines Elektrons – Welle und Teilchen – gewinnen, denn nur eine von ihnen lässt sich als »aktuell seiend« bezeichnen, wenn man sie im Experiment prüft, während die andere nur »der Möglichkeit nach seiend« ist. Entsprechend lässt sich das Unbewusste als »der Möglichkeit nach seiend« charakterisieren und dem aktuell sich zeigenden Bewusstsein komplementär zur Seite stellen.
Die Quantenmechanik hatte – Pauli zufolge – damit zwar en d-lich begonnen, den verhängnisvollen kartesischen Schnitt zu kitten, aber trotz aller Komplementarität und Polarität blieben auch bei ihr Körper und Geist getrennt. Die beiden Seiten der Wirklichkeit, die wir als physisch und psychisch (oder quantitativ und qualitativ) bezeichnen, stehen sich bis heute mehr oder weniger unvereinbar gegenüber. Den Schnitt zwischen ihnen so zu überbrücken, dass man das uralte Problem, in welcher Beziehung die Vorgänge in der Körperwelt zu denen in der Seele stehen, mit der Idee der Komplementarität lösen könnte, das war Paulis Ziel.
Von ihm stammt auch der wunderbare Satz, der eine komplementäre Orientierung nahelegt: »Nach meiner Ansicht ist es nur ein schmaler Weg der Wahrheit (sei es eine wissenschaftliche oder eine sonstige Wahrheit), der zwischen der Scylla eines blauen Dunstes von Mystik und der Charybdis eines sterilen Rationalismus hindurchführt. Dieser Weg kann voller Fallen sein, und man kann nach beiden Seiten abstürzen.« Mit anderen Worten, es ist ratsam, zu jeder Beschreibung eines Naturphänomens die gleichberechtige und folglich ebenso anspruchsvolle komplementäre Form der Erfassung und in beiden zusammen die Erkenntnis zu finden, die man gesucht hat und mit der man sich zufriedengeben kann. Wer Licht verstehen will, muss es als Welle und Teilchen betrachten. Wer von Natur spricht, kann sowohl an die Mutter Natur denken, der wir unsere Existenz verdanken, als auch an das Lager der Ressourcen, dem wir die nötigen Rohstoffe für industrielle Produktionen entnehmen. Wer Farben verstehen will, kann dabei wie Newton vorgehen und das weiße Sonnenlicht in einem Prisma zerlegen, um seine Teile zu charakterisieren. Er kann sich aber auch mit Goethe den Sinneseindrücken der Augen überlassen und die Farben erleben. Was für Goethe einfach ist – das Sonnenlicht –, ist für Newton zusammengesetzt, und was für Newton einfach ist – Licht mit einer Wellenlänge –, ist für Goethe kompliziert hergestellt.
Dieses Spiel des Komplementären lässt sich fortsetzen, und es kann sogar im Bereich der Kultur Anwendung finden.

Niels Bohr im Gespräch mit Wolfgang Pauli (rechts); in der Mitte hört Werner Heisenberg zu. Das Trio befindet sich in Bohrs Institut in Kopenhagen.