Die Quantenzahlen

Da die Chemiker des 19. Jahrhunderts ihre Elemente systematisch durchnummeriert hatten, schien es Bohr, dass ein Physiker, der diese Ordnung erklären möchte, nicht allzu viel falsch machen konnte, wenn er hierfür ebenfalls auf Zahlen zurückgreifen würde. Und in der Tat, die getrennten Quantenbahnen mit den dort sich aufhaltenden (»stationären«) Elektronen boten dazu direkt die Möglichkeit, die Bohr gesucht hatte, und seitdem kennen die Physik und die Welt Quantenzahlen. »Alles ist Zahl«, hatte Pythagoras in der Antike erklärt. »Stimmt«, hätte Bohr jetzt hinzufügen können, wenn mit den Zahlen Quanten gemeint sind und erfasst werden.

Zunächst führte Bohr für die Umlaufbahnen (englisch »Orbits«) der Elektronen das ein, was in der Folge Hauptquantenzahl genannt wurde und den Buchstaben n bekam. Die Zahl n konnte die Werte 1, 2, 3, ... annehmen. Da Bohr es immer allen recht machen wollte, gebrauchte er für den Aufenthaltsbereich der Elektronen neben dem Ausdruck der Physiker, »Orbit«, auch das Wort »Schale«, das die Chemiker eingeführt hatten und weiterhin bevorzugten. Ihrer Ansicht nach konnten sich die Elektronen um den zentralen Kern herum in unterschiedlichen Schalen bewegen, die man sich als mögliche Aufenthaltsbereiche anschaulich vorstellte (ohne zu verstehen, wie sie zustande kommen), so wie sie Menschen in einem Theater zur Verfügung stehen, in dem sie im Rang, im Parkett, auf dem Balkon oder in einer Loge sitzen können. Diese chemischen Elektronenschalen bezeichneten die Forscher mit Großbuchstaben, etwa mit K, L oder M.

Viele Menschen, die sich heute Atome vorzustellen versuchen, ziehen nach wie vor die Idee der (chemischen) Schalen den (physikalischen) Bahnen vor, vermutlich aus dem zutreffenden Gefühl heraus, dass die Elektronen nicht nur dort agieren oder präsent sind, wo sie sich gerade als Teilchen aufhalten, sondern dass ihnen ein umfassender Wirkbereich im Atom zukommt, eben der der jeweiligen Schale, zu der sie gehören und die sie zugleich ausmachen – wobei es natürlich möglich ist, dass ein solches physikalisches Gelände Platz für mehrere umlaufende Elektronen bietet.

Da Bohr durch Sommerfelds Beiträge die Überzeugung gewonnen hatte, dass es im Atom durch allerlei (zu seiner Zeit noch unbekannte) Einflüsse zu Verzerrungen der ursprünglichen Kreisbahn kommen konnte, schien es ihm angebracht, dafür eine weitere Quantenzahl einzuführen. Sie wird allgemein durch ein kleingeschriebenes k angegeben und könnte eigentlich Nebenquantenzahl heißen. Physiker sprechen aber von der Azimutquantenzahl, wobei »azimut« (arabisch für »Richtung«) ein Terminus aus der Astronomie ist, der einen nach Himmelsrichtungen orientierten Horizontalwinkel bezeichnet. Die Ellipsen, die Sommerfeld als mögliche Elektronenbahnen in seine Rechnungen aufgenommen hatte, konnten in seinen Vorstellungen und Berechnungen durch ihre Hauptachse in verschiedene Richtungen weisen, und dieser Vielfalt trug Bohr mit der Azimutquantenzahl Rechnung. Sie ist als Nebenzahl so konzipiert, dass sie nicht größer als die Hauptzahl werden kann, was aber zugleich auch bedeutet, dass sie alle Werte annehmen kann, die kleiner als die Bestimmungsgröße der Umlaufbahnen beziehungsweise Elektronenschalen sind.

Nach dem Zählen der Elektronen wandte sich Bohr dem Atomkern zu, der aus positiven Teilen oder Teilchen bestehen musste; Rutherford hatte vorgeschlagen, im Kern des Wasserstoffs von einem einzelnen Baustein auszugehen, den er Proton nannte. Bohr stellte sich vor, dass in einem Atom zu einem Elektron in einer Schale ein Proton in einem Kern gehört, was von einer Kernladungszahl oder Ordnungszahl eines Elements zu sprechen erlaubt. Diese Ordnungszahl, Z genannt, ist identisch mit der Ladungszahl des Atomkerns. Dem Wasserstoff mit einem Proton als Kern kam die Ordnungszahl 1 zu. Ihm folgte das Helium mit der Ordnungszahl 2, dem sich die erste umfassende Periode von Elementen anschloss, die mit Lithium begann und unter anderem über Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff zu Neon führte. Nach acht Elementen setzte eine neue Periode mit ebenfalls acht Elementen ein, die sich von Natrium über Phosphor und Schwefel zu Argon erstreckte.

Dann wurde es richtig kompliziert. Bohr ließ sich aber dadurch nicht entmutigen, sondern probierte ein sogenanntes Aufbauprinzip aus, mit dem die bei den Chemikern beliebten Schalen durch so viele Elektronen aufgefüllt werden sollten, wie die neu eingeführten Quantenzahlen erlaubten. Er stellte sich vor, zu einem vorgegebenen Ausgangsatom mit Z-Protonen und entsprechend vielen Elektronen jeweils einen positiven beziehungsweise negativen Baustein hinzufügen zu können, wobei er die Bedingung einführte, dass die Addition eines weiteren Elektrons die Quantenzahlen der bereits vorhandenen unverändert lassen solle.

Dies alles mag zunächst willkürlich erscheinen; man sollte sich aber auch fragen, ob hier nicht exemplarisch etwas geschieht, das der traditionellen Sicht der Wissenschaft entgegenläuft. Im Normalfall sprechen wir davon, dass Forscher etwas entdecken – Rutherford entdeckt den Atomkern, Planck entdeckt das Quantum der Wirkung, Lavoisier entdeckt den Sauerstoff, Newton entdeckt die Bewegungsgleichungen –, ohne zu erkennen, dass es sich dabei weniger um Entdeckungen und mehr um Erfindungen handelt. Natürlich hat Kolumbus den neuen Kontinent namens Amerika nicht erfunden, sondern entdeckt, als er 1492 den Seeweg nach Indien gesucht hat. Aber spätestens seit Immanuel Kant und seinen rund dreihundert Jahre später entstandenen philosophischen Texten zur Erkenntnis wissen wir, dass die Gesetze der Natur nicht in ihr liegen, sondern von uns stammen. Newtons Bewegungsgleichung ist ebenso eine freie Erfindung eines menschlichen Geistes wie Plancks Quantum oder Rutherfords Kern, auch wenn dies erst nach einigem Nachdenken klar wird. Diese Schwierigkeit fällt jedoch weg, wenn wir Bohr bei seiner Arbeit am Periodensystem der Elemente zusehen. Hier wird nichts entdeckt und dafür alles erfunden – was natürlich nicht die Wahrheit garantiert, sondern auch gewaltig danebengehen kann. Tatsächlich scheiterte Bohr mit seinem konstruktiven Verfahren zunächst einmal an der atomaren Wirklichkeit. Er musste sein Aufbauprinzip mehrfach verfeinern, und er tat dies unter anderem, indem er den beiden bereits eingeführten Quantenzahlen n und k eine dritte hinzufügte, die mit einem kleingeschriebenen m für »magnetische Quantenzahl« bezeichnet wird.

Die Notwendigkeit einer magnetischen Zahl hatte ihren Ursprung in Experimenten, die der Holländer Pieter Zeeman durchgeführt und bei denen er erst Atome in Magnetfelder eingebracht und anschließend ihre Spektrallinien neu vermessen hatte. Die Resultate zeigten zur allgemeinen Überraschung, dass die Elektronen im Magnetfeld anderes Licht aussenden als vorher. Einzelne Linien (Singletts) spalten sich in mehrere auf (Multipletts), was Physiker so deuten, dass die Elektronen mit dem Magnetfeld eine Wechselwirkung eingehen, wodurch sich die Energie des ausgesandten Lichts verändert. Diese Interaktion versuchte Bohr mit seiner dritten Quantenzahl zu berücksichtigen und in den Griff zu bekommen. Er legte das kleingeschriebene m dabei so an, dass es nicht größer als die Nebenquantenzahl werden konnte, musste ihm aber zugestehen, beide Vorzeichen (plus und minus) tragen zu können. Die Experimente von Zeeman (der »Zeeman-Effekt«) legten diese Symmetrie nahe, da sich die zusätzlichen Linien in zwei Richtungen von der Ausgangslinie entfernen konnten.

Es mag hier vieles wie reine Zahlenspielerei erscheinen, aber es wird sich bald herausstellen, dass sich mit diesen Quantenzahlen wesentliche Merkmale des Periodensystems der Elemente fassen und dem menschlichen Verstehen zuführen lassen. Außerdem zeigt Bohr mit diesem Vorgehen, dass die Ideen des 19. Jahrhunderts, die sich mit den Formen und Gestalten der Dinge befassen, unvermindert Gültigkeit besitzen, auch wenn dies zunächst kaum jemandem aufgefallen ist. Durch die Einführung des Begriffs vom stationären Zustand eines Atoms, dessen Existenz durch stabile Umlaufbahnen garantiert und durch einige Quantenzahlen erfasst wird, geht Bohr über die Physik seiner Vorgänger hinaus. Mit Bohr tritt tatsächlich »die Morphologie, die Lehre von Gestalten, wieder in ihre Rechte« ein, wie Werner Heisenberg zuerst in seiner Autobiographie und dann auch – leider unbemerkt von der eigenen Zunft und den Philosophen – 1969 in einem Vortrag über »Die Einheit der Natur bei Alexander von Humboldt und in der Gegenwart« feststellte: »Man kann die Stabilität der Atome nur verstehen, wenn man annimmt, dass immer wieder dieselben symmetrischen Gestalten der kleinsten Teile aus physikalischen Prozessen hervorgehen. Aus diesem Grundgedanken hat sich dann die Theorie der Atomhülle, der Atomkerne und schließlich die noch unfertige Theorie der Elementarteilchen entwickelt.« (Heisenberg, Gesammelte Werke) Mit Bohr wird somit klar, dass man die Natur verstehen kann, wenn man ihr eine Form gibt, die man selbst geschaffen hat. Dieses Vorgehen stammt aus dem Repertoire des romantisch-kreativen Denkens, das sich hier erneut der wissenschaftlich-aufgeklärten Grundhaltung an die Seite stellt, die nach Abweichungen von Erfahrungen oder Übereinstimmungen mit Messungen fragt.

Diese zuletzt genannte notwendige Bedingung wird die Physiker bald noch einen Schritt weiter und zu der Einsicht führen, dass nicht nur drei, sondern vier Quantenzahlen benötigt werden, um die Elektronenhüllen der Atome komplett zu fassen beziehungsweise ihre Elektronenschalen vollständig zu füllen.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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