Die Welt ist anders, als sie aussieht

Es ist eine merkwürdige Welt, die an der Wende vom 19. in das 20. Jahrhundert sichtbar wird. In den Jahren zwischen 1895 und 1900 entdeckten die Physiker die Röntgenstrahlen und die Radioaktivität, sie vermaßen die kosmische Höhenstrahlung und produzierten elektromagnetische Wellen – sie erforschten lauter Wirklichkeiten, die sich unseren Sinnen entziehen.

Als Einstein und Picasso erwachsen wurden, kam als merkwürdige Gewissheit die Überzeugung auf, dass die Welt anders ist, als sie aussieht. Wenn man den Satz umdreht, entsteht eine höchst spannende und schwierige Aufgabe. Denn wenn jetzt jemand die Welt so zeigen will, wie sie (wirklich) ist, dann darf er sie auf keinen Fall so vorführen, wie sie aussieht. Aus diesem Grund hörte Picasso auf, das zu malen, was er sah. Er malte lieber, was er dachte. Dieselbe Freiheit nahm sich Einstein, der darauf bestand, dass Theorien freie Erfindungen des menschlichen Geistes sind. Er verstand nicht die Welt, die er sah, sondern die Welt, die er sich ausdachte.

Die Entdeckungen der Physik legen den Gedanken nahe, dass man trotz vieler Mühen noch nicht gelernt hat, die Welt zu sehen. Es ist vor allem Rainer Maria Rilke, der in seinen Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge darauf hinweist und seiner Hauptfigur folgende Gedanken in den Mund legt:

Ist es möglich, denkt [Brigge], dass man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, dass man Jahrtaus ende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und dass man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot isst und einen Apfel?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, dass man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, dass man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so dass sie aussieht, wie die Salonmöbel in den Sommerferien?

Ja, es ist möglich.

Möglicherweise müssen wir immer noch lernen, die Welt zu sehen. Und vielleicht kommen wir am Ende zu der Einsicht, dass die Welt gar kein Aussehen, sondern nur ein Einsehen hat, also die Gestalt zeigt, die wir ihr auferlegen und in sie hineinlegen.

Was die Wissenschaft auch immer untersucht, trägt eine Komponente der menschlichen Phantasie in sich. Sie zu entdecken, wird zu einer Abenteuerreise zu sich selbst, die als Erlebnis verstanden werden und die Menschen mit der Wissenschaft versöhnen und vertraut machen kann. Die Faszination, die von der modernen Kunst ausgeht, kann genutzt werden, um zu verfolgen, auf welchen Wegen auch die Wissenschaft ins Innere gelangt ist. Picassos Bilder bergen das neue Verständnis von Raum und Zeit in sich, das die Kosmologie seiner Zeit entwickelt und das ihm seine Wahrnehmung als Künstler zuführt. In den Bildern von Kandinsky steckt das Verschwinden des Gegenstands, das die Atomphysiker zeitgleich erfahren mussten, als sich ihnen die als Bausteine gedachten Grundelemente der Materie entzogen. Sie ließen und lassen sich nur durch die Form erkennen, die ihre mathematischen Symbole auszurechnen und grafisch darzustellen ermöglichen.

Seit der Geburt der modernen Wissenschaft, die sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts vollzog in der Absicht, die Lebensbedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern, hängen Wissenschaft und Kunst eng zusammen. Wissenschaft konnte erst erfunden werden, nachdem der Mensch erfunden worden war. Wem aber verdanken wir »die Erfindung des Menschlichen«? Nicht zuletzt William Shakespeare, der den Menschen auf die Bühne brachte und sowohl seinen Zustand als auch seine Entwicklungsfähigkeit erkennbar machte.

Aus dieser riskanten Annahme kann man folgern, dass die Gegenüberstellung von Shakespeares Sonetten und dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik tiefer reicht, als sein Urheber Snow vermutete und erwartete. Möglicherweise wird eine Kultur nur dann eine Wärmelehre entwickeln und entsprechende Gesetze formulieren, wenn in ihr vorher ein Shakespeare gelebt und geschrieben hat. Und vermutlich wird eine Wissenschaft nur dann in die abstrakten Dimensionen der Quantenphänomene vorstoßen, wenn es vorher jemanden wie Mozart gegeben hat, dessen Musik von anderen Sphären kündet. Wir können nur beides haben – die Sonette und die Thermodynamik, Mozart und die Quantenmechanik. Wenn wir das wissen und verbreiten, öffnet sich der Weg zu der besseren Welt, in der wir den Anderen und das Andere erwarten und uns darauf freuen. Bohr wollte uns darauf vorbereiten.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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