Der Sokrates unter den Physikern
Bohr war und bleibt der gute Mensch von Kopenhagen, der uns staunenden Mitmenschen sowohl durch sein Leben als auch durch sein Denken gezeigt hat, wie die bessere Welt sein könnte, von der wir alle träumen. Der stets um jedes Wort ringende und sich unentwegt auf Kosten von Klarheit um Wahrheit mühende Bohr muss vor allem im persönlichen Umgang eindrucksvoll und einnehmend gewirkt haben, wie der amerikanische Physiker John A. Wheeler einmal ausgedrückt hat: »Man kann über Buddha, Jesus, Moses oder Konfuzius wie über Menschen sprechen, aber was mich überzeugt hat, dass es solche Figuren als Menschen tatsächlich einmal gegeben haben kann, das waren meine Gespräche mit Bohr.« Wheelers Eindrücke zeigen einmal mehr, welche Wirkung Bohr bei ihm und anderen hinterlassen haben muss.
»Bohr war der nicht ruhende Meister des Fragens«, wie etwa Carl Friedrich von Weizsäcker noch als junger Physiker bei zahlreichen Gelegenheiten erleben konnte. Weizsäcker schwärmte von Bohr als dem »Sokrates unter den Physikern«, der zwar unter seinem Denken zu leiden hatte, aber auch zum Lehrer für jene Generation der Naturforscher wurde, die in den 1920er und 1930er Jahren das neue, bis heute gültige wissenschaftliche Weltbild entwarf und im Zweiten Weltkrieg eindrücklich zu zeigen in der Lage war, welche ungeheure Energie die Spaltung von Atomkernen freisetzen kann.
Bohr selbst erzählte gern folgende Geschichte über den griechischen Philosophen: Nachdem Sokrates mit einem anderen Philosophen – einem Sophisten, der hier ungenannt bleiben soll – gesprochen hatte, brach sein Gesprächspartner zu einer längeren Reise durch Kleinasien auf. Nach der Rückkehr spazierte der Sophist erneut durch die Straßen Athens und traf dabei Sokrates im Gespräch mit anderen. »Meine Güte«, rief der Philosoph aus, »da bist du ja immer noch, Sokrates, und sagst dasselbe über dieselben Dinge.« »Natürlich«, erwiderte der Angesprochene, »das mache ich, während du, als schlauer Mann, sicher niemals dasselbe über dieselben Dinge sagst.«