Neutron und Neutrino

Auf diese spontane Weise engagierte Bohr mit Gamow den ersten Theoretiker, der sich nach dem doppelten Durchbruch zur Quantenmechanik auf die Frage konzentrierte, was Atomkerne zusammenhält und wie sie es doch schaffen, ab und zu einmal locker zu werden und zu zerfallen beziehungsweise zu desintegrieren. Es war inzwischen deutlich und mehrfach nachgewiesen worden, dass die radioaktive Strahlung aus dem Inneren eines Atoms – aus seinem Kern – kommt und nichts mit den Elektronen zu tun hat, die sich in den äußeren Schalen aufhalten und den dazugehörenden Elementen ihre chemischen Eigenschaften geben. Bei allen chemischen Reaktionen bleiben die Kerne unbeteiligt und fest, aber sie ändern sich, wenn das Phänomen der Radioaktivität auftritt, das somit tatsächlich dem Innersten der Welt – dem eigentlichen Zentrum – entspringt.

Überraschend an diesen Nachweisen war für die Wissenschaftler vor allem, dass der Beta-Zerfall im tiefen Inneren des Atomkerns selbst stattfindet und die Elektronen, aus denen die dazugehörigen Strahlen bestehen, tatsächlich aus dem Zentrum der Struktur stammten. Dies gab allein deshalb große Rätsel auf, weil die von Heisenberg dargestellte Unbestimmtheit in der Quantenwelt ein Elektron, das sich im Bereich des zwar massiven, aber extrem winzigen Kerns aufhält, dazu zwingt, sich so schnell zu bewegen, dass es den Ort gar nicht halten kann, an dem man es haben möchte.

Nicht nur das Eintreffen Gamows, sondern auch zahlreiche technische und experimentelle Fortschritte – unter anderem dank Anlagen, in denen mit gewaltigen Hochspannungen Atome beschleunigt und zum Zusammenprall gebracht wurden – brachten die Physiker dazu, sich allmählich von den Atomhüllen weg dem Kern zuzuwenden. Vor allem der Beta-Zerfall mit seinen dabei produzierten Elektronen verlangte nach einer Erklärung. Natürlich würde man sich zunächst bemühen, im Rahmen der gerade aufgestellten Quantenmechanik den nach wie vor unverständlichen Zusammenhalt von positiv geladenen Teilchen im Kern – den Protonen – zu erfassen. Aber einige Physiker bevorzugten Spekulationen, die weiter gingen. Sie hofften, dass sich beim Schritt von der Hülle zum Kern erneut die Notwendigkeit ergeben würde, die Physik völlig auf den Kopf zu stellen. Immerhin war ein Atomkern 100 000-mal kleiner als die Hülle, wobei Atome selbst insgesamt 10 000 000-mal kleiner als makroskopische Objekte waren. Als man aus der anschaulichen Welt auf die atomare Bühne sprang, tauchten die Quanten und mit ihnen eine neue Mechanik auf. Warum sollte beim Sprung in den Atomkern nicht eine ähnliche Rundumerneuerung des physikalischen Denkens notwendig werden? Vielleicht musste für die Physik des Atomkerns eine Art zweite Quantisierung durchgeführt werden. Möglicherweise brauchte man an dieser Stelle wiederum eine ganz neue Sprache, um die natürlichen Vorgänge im Innersten der Dinge zu beschreiben.

Als sich 1931 alle Kernphysiker in Rom zu einem ersten größeren Kongress zu diesem Thema trafen, gehörte auch Bohr zu den Rednern. Seine Ausführungen verrieten die vorsichtige Erwartung weiterer Überraschungen in seiner Wissenschaft. Bohr konzentrierte sich – wie viele seiner Kollegen – auf die Elektronen des Beta-Zerfalls, die auf irgendeine Weise mit dem Atomkern verbunden sein mussten:

Bei dem Problem des elektronischen Aufbaus der Atomkerne haben wir eine völlig neuartige Äußerung der Atomstabilität vor uns. Unser einziger zuverlässiger Führer bleibt die Erhaltung der Ladung und der Atomizität der elektrischen Ladung. Angesichts dieser Situation müssen wir den Einfang oder die Aussendung eines Elektrons durch den Kern entweder als Vernichtung oder als Erzeugung eines Elektrons als mechanische Einheit betrachten. Deshalb dürfen wird nicht überrascht sein, wenn wir feststellen, dass die Prozesse nicht solchen Gesetzen wie den Erhaltungssätzen gehorchen, die auf der Vorstellung materieller Teilchen beruhen.

Im historischen Rückblick kann die Kernphysik natürlich erst in dem Jahr als relevant erachtet und auf den richtigen Weg gebracht werden, in dem mit dem Neutron die Existenz eines weiteren – des dritten – elementaren Gebildes nachgewiesen und bekannt wird. Erst ab dem kernphysikalischen »Wunderjahr« 1932 waren die Grundbestandteile bekannt – neben den schon länger bekannten Elektronen und Protonen kamen noch die Neutronen hinzu –, die zu einem Atom gehören und seinen Kern und seine Schale bilden.

Nun konnten sich die Theoretiker an ganz neuen Modellen des Atomkerns versuchen; und da der dritte Baustein so schwer (massiv) wie ein Proton war, konnte man annehmen, dass sein Ort nicht in der Schale zu suchen war. Im Jahr 1934 gelang es schließlich dem Italiener Enrico Fermi (1901–1954), den Beta-Zerfall in Grundzügen auf eine Weise verständlich machen, die seine Kollegen akzeptieren konnten. Fermi stellte sich vor, dass Neutronen ihren Ort im Kern einnehmen und dort einzeln in der Lage sind, sich in Protonen und Elektronen zu verwandeln. Die Umwandung basiert auf der Wirkung einer schwachen Kraft, deren Reichweite auf den Radius des Kerns beschränkt bleibt. Die Elektronen verlassen nach ihrem Erscheinen sogleich das Zentrum und dringen als energiereiche Beta-Strahlen nach außen, die man erst messen und dann nutzen kann. Die Protonen verbleiben währenddessen im Kern, dem nun allerdings eine andere Ordnungszahl zukommt und der damit zu einem anderen Element umgewandelt worden ist. Wenn zum Beispiel Gold mit seinen 79 Protonen im Kern dort einen Beta-Zerfall erleidet und anschließend aus Atomen mit 80 Protonen im Kern besteht, dann ist aus dem wertvollen Element plötzlich Quecksilber geworden.

Zwar bleibt beim Beta-Zerfall auch in den theoretischen Vorstellungen von Fermi die Ladung erhalten – sie ist vorher und nachher gleich null –, aber die Messungen der Physiker hatten seit Rutherfords Tagen und nachdrücklich durch Experimente von Lise Meitner gezeigt, dass es ein Problem mit der Erhaltung der Energie gibt, wenn man den konventionellen Blick auf die Dinge beibehält. Irgendetwas fehlte in der Bilanz des Zerfalls oder ging verloren.

Zunächst hatte Bohr, wie geschildert, eine Aufweichung des Prinzips in Erwägung gezogen, ohne damit weiterzukommen. Deshalb verabschiedete er sich von dieser verrückten Idee. Das Rätsel blieb auch, nachdem Pauli 1930 – noch vor der Präsentation des echten Neutrons – in einem theatralischen Vorschlag dafür plädiert hatte, sich noch ein drittes – neutrales – Teilchen vorzustellen, das beim Beta-Zerfall mitspielt und die fehlende Energie ausgleicht. Pauli hatte diesem seinem spekulativen »Sorgenkind«, wie er selbst es nannte, den Namen »Neutron« gegeben, den es nach 1932 aber nicht mehr behalten konnte. Enrico Fermi wusste Rat und benannte Paulis Hilfsteilchen um. Da es nach den physikalischen Daten sehr viel weniger Masse als das akzeptierte Neutron haben musste, bezeichnete Fermi es als »das kleine Neutrale«, also Neutrino, und mit seiner Hilfe konnte er schließlich komplett notieren, wie ein Beta-Zerfall in seiner Bilanz aussieht:

Neutron → Proton plus Elektron plus Neutrino

Als Enrico Fermi über den Beta-Zerfall nachdachte, kannten die Physiker zwei Wechselwirkungen, die durch physische Massen als Schwerkraft (Gravitation) und durch positive und negative Ladungen als elektromagnetische Kraft in Erscheinung traten. Sie vermuteten allerdings schon länger, dass es noch eine dritte Kraft geben müsse, die im Atomkern für den Zusammenhalt der dort versammelten positiven Ladungen zu sorgen hatte – sie wird heute starke Kernkraft oder starke Wechselwirkung genannt. Doch damit war der Beta-Zerfall nicht zu erklären. Deshalb schlug Fermi vor, die beobachtete Instabilität auf die Wirkung einer vierten Kraft zurückzuführen, die etwas anderes tun sollte als die Wechselwirkungen, die man bislang kannte. Fermis »schwache Kernkraft« sollte die Dinge nicht stabilisieren, sondern sie im Gegenteil lockern und ihnen die Möglichkeit des Umwandelns geben – ein Vorgang, der auch zu den natürlichen Prozessen gehört und zum Beispiel auf der Sonne stattfindet. Zwar galt der Gedanke als verrückt und revolutionär, aber an diese radikale Situation war man in Physikerkreisen schon gewöhnt. Bald erwies sich Fermis Idee als wegweisend.

Heute bildet die schwache Kernkraft mit den anderen dreien ein Viererschema, das modern und archaisch zugleich ist. Bereits die Antike erklärte die Welt durch vier Elemente – Feuer, Erde, Wasser, Luft. Die Moderne behauptete, das Ganze bestünde aus vier Elementarteilchen – dem Neutron, dem Proton, dem Elektron und dem Neutrino. Pythagoras hätte an dem Schema seine Freude gehabt, galt ihm doch die Vierzahl (die Tetraktys) als heilige Zahl, die zum Verständnis der Dinge beiträgt. Übrigens fand Wolfgang Pauli Gefallen daran, dass einige seiner Beiträge zur Physik – die Einführung des Spins und die Vermutung eines Neutrinos – ebenfalls mit der Zahl vier verknüpft waren: eine vierte Quantenzahl und ein viertes Elementarteilchen.

Die vier Kräfte und ihre Auswirkungen

Art der Wechselwirkung Auswirkung
Starke Wechselwirkung Hält den Atomkern zusammen
Elektromagnetismus Hält die Stoffe zusammen
Schwache Wechselwirkung Sorgt für Atomzerfall und Umwandlung
Gravitation Hält das Weltall zusammen

Dieser Zustand mit den vier Elementarteilchen ist inzwischen komplizierter geworden. Im heutigen Verständnis der Physiker kommen die Wechselwirkungen selbst durch eigene Wirkteilchen zustande. Sie stellen sich in ihrem sogenannten Standardmodell einen Austausch von (eher virtuellen) Partikeln zwischen (eher realen) Teilchen vor. Diese Wirkteilchen werden unterschiedlich benannt – zum Beispiel als Gluonen (vom englischen »to glue«, »kleben«). Um das zu veranschaulichen, kann man entweder an zwei Menschen denken, die Federball spielen oder sich ein Frisbee zuwerfen und durch das Spiel eng miteinander verbunden sind, oder man kann sich zwei Menschen vorstellen, die Argumente austauschen. Für die schwache und die starke Wechselwirkung, deren Reichweite so begrenzt ist, dass sie nur im Zentrum der Atome wirkt, benötigt man nicht einen, sondern mehrere Spielbälle. Für die Kräfte, die in die Welt hineinreichen und sie umfassen, reicht jeweils einer. Das Teilchen (»Graviton«) für die Schwerkraft ist dabei bislang noch jeder experimentellen Falle entkommen.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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