Das Atom und sein Kern
Als sich Bohr noch in Cambridge aufhielt, konnte er in den Zeitschriften lesen, wie der Neuseeländer Ernest Rutherford und sein deutscher Assistent Hans Geiger im Mai 1911 bei der Durchführung sogenannter Streuexperimente auf eine sensationelle Entdeckung gestoßen waren. Bei solchen Experimenten leitet man geeignete Strahlen auf ein zu untersuchendes Objekt und beobachtet, wie sie abgelenkt und gestreut werden. Dabei besteht die berechtigte Hoffnung, aus den Messungen über die Verteilung der gestreuten Strahlen etwas über die Struktur des anvisierten Gegenstands ableiten und erfahren zu können.
Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kannte man – unter anderem dank der Untersuchungen von Marie und Pierre Curie – das Phänomen der Radioaktivität, das mit dem Aussenden von radioaktiver Strahlung verbunden war. Ihre als Strahlung gerichtete Energie ermöglichte es Rutherford und Geiger, sich den Atomen zu nähern. Die Physiker konnten insgesamt drei Sorten von radioaktiver Strahlung unterscheiden, die als Alpha-, Beta- und Gammastrahlung bezeichnet wurden. (Wir benutzen die Namen Alpha-, Beta- und Gammastrahlen bis heute, wissen aber inzwischen, dass es sich im ersten Fall um Heliumkerne, im zweiten Fall um Elektronen und im dritten Fall um extrem kurzwellige, hochfrequente elektromagnetische Strahlung handelt. Herausgefunden hat dies ebenfalls Rutherford, als er Professor für Physik in Manchester war.)
Bei den Experimenten gelang Rutherford und seinen Mitarbeitern eine phantastische Entdeckung. Sie stellten fest, dass sich die Atome umwandelten, wenn sie in radioaktiven Elementen Alpha-oder Betastrahlen abgaben; aus dem Element Thorium, einem Mineral, wurde zum Beispiel das Edelgas Argon. Die Wissenschaftler kamen aus dem Staunen über ihre Entdeckungen nicht heraus. Atome schienen einen »Hang zum Selbstmord« zu haben, wie Rutherford skeptisch und witzig zugleich meinte, ehe er sich daran erinnerte, dass er mit dem neuen Phänomen das beobachten konnte, wovon die Alchemisten früher geträumt hatten – die Umwandlung eines Elements in ein anderes. Das heißt, die Alchemisten des Mittelalters und der frühen Neuzeit hatten stets gehofft, Blei in Gold »transmutieren« zu können, wobei sie eher meinten, in dem Wertlosen (Blei) etwas Wertvolles (Gold) zu finden. Dies vermochte nun selbst jemand wie Rutherford nicht, aber mit dem Umwandeln von Thorium zu Argon war ihm ein erster Schritt gelungen. 1937 veröffentlichte er denn auch ein Buch mit dem Titel The Newer Alchemy, das allerdings von Physik handelt und von Gold nur spricht, wenn das Element gemeint ist, an dem Strahlen gestreut werden.
Rutherford ließ unter anderem eine Goldfolie anfertigen, die so dünn war, dass man annehmen konnte, die Alphastrahlen würden sie rasch durchqueren und auf diesem Weg nur mit wenigen Goldatomen in Kontakt kommen und von ihnen abgelenkt werden. Es galt, die Verteilung der Strahlen hinter der Folie zu messen, um daraus Rückschlüsse auf die Struktur der Goldatome zu ziehen; viele Physiker glaubten an das Grundschema, das J. J. Thomson vorgelegt hatte und das nun verfeinert werden musste. Da Atome neutral waren, aber zugleich über die von Thomson entdeckten Elektronen verfügten, hatte jener sich vorgestellt, dass sie wie Rosinen in einem Teig schwammen, der sich als positiv geladener Brei um sie legte. Dieses Modell des Rosinenkuchens oder eines Plumpuddings, wie es ihn in England zu Weihnachten gibt, wollten Rutherford und Geiger testen, als ihnen etwas Unerhörtes auffiel: Wie die Messungen ohne jeden Zweifel zeigten, waren die meisten Alphastrahlen zwar durch die Folien gegangen und gestreut worden; einige von ihnen waren aber zurückgeprallt und zur Strahlenquelle gelenkt worden – als ob man mit einem Gewehr Kugeln auf Zeitungspapier schießt und einige der Geschosse zurückkehren und den Schützen treffen.
Es war zwar aus alter Gewohnheit immer noch von Alphastrahlen die Rede, aber Rutherford und seine Kollegen wussten bei ihren Experimenten längst, dass diese Strahlen aus kleinen Teilchen – den Alphateilchen – bestehen und daher weniger wie ein Lichtstrahl als vielmehr wie Kugelhagel agieren. Dies erklärt auch Rutherfords Wortwahl – »Bullets!« (»Kugeln !«) – bei seinem Ausruf über das überraschende Ergebnis der Messung. Mit diesem Bild der Strahlung als Teilchenstrom zeigte der Streuversuch, dass es in den Goldatomen etwas geben musste, das mit einem Alphateilchen direkt zusammenprallen und es zurückstoßen konnte. Dieses Etwas konnten nicht die Elektronen sein, sie waren dafür viel zu klein, zu leicht, zu unstet und viel zu beweglich. Und dieses Etwas konnte auch nicht so gleichmäßig verteilt sein wie der Teig in J. J. Thomsons Rosinenkuchenmodell. Es musste vielmehr eng konzentriert vorliegen, und damit war guter Rat teuer. Ein ganz neues Atommodell schien nötig zu sein.
Je länger Rutherford über die Messergebnisse nachgrübelte, desto deutlicher trat eine eigentlich offenkundige Alternative zutage, die sogar schon einmal in Physikerkreisen erörtert, letztlich aber doch wieder verworfen worden war. Sie bestand in der Annahme, das Atom habe einen Kern und sehe somit aus wie ein Planetensystem in Miniaturausgabe – die Elektronen würden in diesem Atom so um die zentrale Einheit des Kerns kreisen, wie es die Planeten um die Sonne tun.
Natürlich wirkte das anschauliche »Saturn-Modell« des Atoms, wie Rutherford es manchmal nannte, auf den ersten Blick – vor allem für Laien – verlockend. Aber der zweite Blick zeigte seine komplette und offenkundig nicht zu behebende Unzulänglichkeit. Sie erklärt sich durch die Grundgesetze der Physik, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt sind und verlangen, dass eine Ladung, die beschleunigt wird, Energie abstrahlt. Ein sich kreisförmig bewegendes Elektron produziert elektromagnetische Strahlung, wie der aus Hamburg stammende Physiker Heinrich Hertz Ende des 19. Jahrhundert zeigen konnte. Um ein Elektron auf einer Umlaufbahn zu halten, muss es beschleunigt werden – sonst fliegt es einfach geradeaus weiter. Dies bedeutet, dass es in einem Atom nach Rutherfords Vorstellung Energie verliert und seine Bahn nicht beibehalten kann. Es wird in das Zentrum der zirkulären Struktur stürzen und dort im Kern auf die positiv geladenen Anteile des Atoms treffen und von ihnen eingefangen werden. Mit anderen Worten: Rutherfords Atom mit seinem Kern konnte überhaupt nicht existieren, und so klar der Ausgang und die Deutung seines Experiments auch schienen, so unklar blieb, wie damit umgegangen werden und wie das Ganze in den Rahmen der Physik passen konnte. Eine Zeitlang wirkte der neuseeländische Physiker ratlos und deprimiert. Doch dann tauchte Niels Bohr in seinem Laboratorium auf, und dem jungen Mann aus Kopenhagen gelang es, einen wundersamen und gleichsam genialen Ausweg aus der Sackgasse zu finden und dem Atom damit eine erste stabile Form zu geben.