Flüchtlinge

Die Spaltung der Wissenschaftler hatte 1933 begonnen. In Deutschland hatten die Nationalsozialisten im Januar dieses Jahres die Macht übernommen, und bereits Anfang April 1933 legten sie das zwar harmlos klingende, jedoch infame »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vor, mit dem Personen aus ihren Positionen entfernt werden konnten, wenn sie sich zu einer bestimmten Religion bekannten oder wenn sich eine entsprechende Zugehörigkeit auf irgendeine willkürliche Art konstruieren ließ. »Juden raus« lautete der staatliche Auftrag, der von Hitlers willigen Helfern fleißig befolgt wurde. Viele berühmte und preisgekrönte Wissenschaftler an deutschen Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen wie denen der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurden vertrieben.

Einer der Vertriebenen war James Franck (1882–1964), der gemeinsam mit Gustav Ludwig Hertz (1887–1965) den berühmten Frank-Hertz-Versuch durchgeführt hatte, der in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg die Existenz diskreter Energieniveaus von Atomen experimentell belegen und den Physikern damit unmissverständlich zeigen konnte, dass es höchste Zeit war, die von Planck und Einstein vorsichtig eingeführten und eingesetzten Quanten und ihre Sprünge in das wissenschaftliche Denken einzubeziehen. Die Deutung des mit dem Nobelpreis gewürdigten Versuchs und seiner Ergebnisse war dann perfekt mithilfe der Quantenvorstellungen und ihrer Zustände in dem Atommodell gelungen, das Niels Bohr 1912 bei Rutherford entwickelt und 1913 in seiner Trilogie publiziert hatte.

Nach der Machtergreifung Hitlers lud Bohr Franck und weitere Physiker, die wegen der neuen Gesetze ihre Heimat verlassen mussten, nach Kopenhagen ein, um ihnen zumindest für eine erste kurze Zeit die Möglichkeit zu geben, an seinem Institut weiterzuarbeiten. Franck blieb ein Jahr als Gastprofessor bei Bohr, ehe er eine Professur für Physikalische Chemie in Chicago erhielt.

Als Bohr im Sommer zu einer schon länger geplanten USA-Reise aufbrach – seiner zweiten –, nutzte er die Gelegenheit, um in New York Kontakte mit den Direktoren der Rockefeller-Stiftung zu knüpfen und unter anderem mit Warren Weaver und Max Mason zu sprechen. Bohr schilderte ihnen die sich zuspitzende Lage in Europa und schlug vor, die Rockefeller-Stiftung solle aus ihren Statuten die Bedingung entfernen, Wissenschaftlern nur dann einen Gastaufenthalt in den USA zu finanzieren, wenn sie nachweisen konnten, dass in ihrem Heimatland eine Stelle für sie freigehalten wurde.

Seinem Wunsch wurde entsprochen. Zehn Tage nach seinem Treffen mit den Direktoren der Stiftung wurde ein ausreichend ausgestattetes Sonderprogramm, ein »Special Research Aid Fund«, eingerichtet, in dessen Rahmen Mittel bereitgestellt wurden, um solchen »herausragenden Wissenschaftlern Stellen zu bieten, deren Karrieren durch die derzeit gestörten Bedingungen unterbrochen wurden« (»interrupted by the present disturbed conditions«), wie am 12. Mai 1933 offiziell in New York bekannt gegeben wurde.

Als Bohr wieder nach Kopenhagen zurückgekehrt war, kooperierte er wie sein Bruder Harald mit einem dänischen Komitee zur Unterstützung von Forschern, die plötzlich zu Flüchtlingen geworden waren. Dieser mutigen und entschlossenen Gruppe von Helfern gehörte auch der damalige Präsident der Universität von Kopenhagen an, der Historiker Aage Friis. Durch gezielte Aktivität konnte das Komitee mehr als vierhundert Personen helfen, der deutschen Willkür und Gewalt zu entkommen. Man schätzt, dass Bohr selbst knapp zwanzig Menschen durch seine direkte Intervention geholfen hat, dem Konzentrationslager zu entkommen und nach Dänemark überzusiedeln. (1943 hatte Bohr zudem die Gelegenheit, den schwedischen König zu bitten, dänischen Juden Zuflucht in seinem Land zu gewähren, was dann auch erfolgte.) Genauere Angaben werden dadurch erschwert, dass die Unterlagen des Komitees im Verlauf des Jahres 1940 gezielt vernichtet wurden, damit sie nicht in die Hände der deutschen Truppen fielen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte James Franck Kopenhagen längst verlassen; er hatte bei aller Verehrung für Bohr auch einmal eine liebenswerte Kritik an dem Übervater der Physik geäußert: Franck sprach von Bohrs »superiority«, seiner souveränen Überlegenheit, die in manchem Gesprächspartner gelegentlich einen Minderwertigkeitskomplex auslösen konnte. Selbst der Nobelpreisträger Franck fühlte sich – wie vielleicht einige andere auch – leicht überfordert, wenn er Bohr experimentelle Daten erläutern und in ein theoretisches Modell einfügen wollte. In solchen Fällen ergriff Bohr sofort die Initiative, und sein flinker Geist schien immer schon weiter zu sein als die Überlegungen, die ihm gerade vorgestellt wurden. Der gebürtige Hamburger Franck brauchte mehr Zeit für seine Gedanken, und er konnte seinem Empfinden nach nur außerhalb der unmittelbaren Einflusssphäre von Bohr so gedeihen, wie es sich für einen Nobelpreisträger der Physik gehörte.

Sein Kollege George de Hevesy war da aus einem etwas anderen Holz geschnitzt. Der aus Ungarn stammende Begründer der Radiochemie, dem es gelungen war, an Bohrs Institut das Element 72, Hafnium, zu identifizieren und zu charakterisieren, und der danach eine Professur in Freiburg angeboten bekommen hatte, konnte 1934, als es für ihn als Juden in Deutschland lebensgefährlich wurde, dank Bohr wieder nach Kopenhagen zurückkehren. Dort blieb er fast zehn Jahre; anschließend zog er nach Stockholm, wo er sich an der Universität physiologischen und klinischen Fragestellungen auf dem Gebiet der Radiobiologie zuwandte.

Hevesy litt nicht – oder wenigstens nach außen nicht ersichtlich – unter Bohrs Überlegenheit. Er bewunderte natürlich Bohrs erstaunliche theoretische Sicherheit und unnachahmliche Intuition; er versuchte aber mit den Experimenten, die er mit Bohr erörterte, nicht nur, sich im unmittelbaren Bereich von Bohrs Vorhersagen zu bewegen, sie zu bestätigen oder zu widerlegen, sondern wählte stets weiter entfernte, eigene Felder der angewandten Forschung. Darüber entstanden zahlreiche Publikationen, in denen er knapp und verständlich über seine Ergebnisse berichtete. Diese Unabhängigkeit bei gegenseitigem Respekt bekam beiden Wissenschaftlern ausgezeichnet.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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