Die Lektion der Atome
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden einige Leute auf der ganzen Welt gefragt, was sie zu den bedeutenden Entdeckungen oder Erfindungen der vergangenen zweitausend Jahre zählen würden. Zu den Befragten gehörte auch ich. Mir fielen zuerst technische Dinge wie der Buchdruck und der Transistor ein, dann wollte ich allgemein auf die Entwicklung der westlichen Wissenschaft in den vergangenen vierhundert Jahren eingehen, die Vorschläge zur chemischen Düngung oder das Aufkommen von Anästhetika im 19. Jahrhundert ins Feld führen. Der Initiator der Umfrage trat aber ausdrücklich mit der Bitte an mich heran, etwas zu finden, das anderen Befragten entgangen sein könnte und mehr oder weniger ungewöhnlich war. Nach einigem Abwägen entschied ich mich für Bohrs Konzept der Komplementarität – es schien mir ein guter Kandidat für die wichtigste Erfindung zu sein.
Bohr verstand unter dem Begriff der Komplementarität, dass man zu jeder Beschreibung der Natur eine komplementäre Form finden kann, die (in der Tiefe) gleichberechtigt ist, obwohl sie (an der Oberfläche) völlig anders erscheint. Eine Wahrheit erkennt man daran, so pflegte Bohr zu sagen, dass auch ihr Gegenteil eine Wahrheit ist. Als er diesen Gedanken zum ersten Mal öffentlich aussprach, ging es nur um Physik. Er musste sich dabei das Rampenlicht mit dem Gedanken der Unbestimmtheit teilen, den Werner Heisenberg mathematisch fassen konnte und als eine Relation abgeleitet hatte; viele Physiker lebten mit der Vorstellung, dass Bohrs Idee nur philosophisch verzieren würde, was sich wissenschaftlich eher als eine quantitative Qualität zu fassen gab. Doch diese Zeiten sind vorbei, und heute ist nachgewiesen und verstanden, dass die Komplementarität die größere Entdeckung ist. An ihr kommt auch der nicht vorbei, der die Unbestimmtheit technisch zu hintergehen in der Lage ist.
Die Komplementarität scheint mir wichtiger als andere Denkformen, die wir kennen, auch wenn wir es in unserem Kulturkreis noch nicht wissen. Das westliche Denken laboriert immer noch an dem Schnitt herum, den René Descartes (1596–1650) ihm im frühen 17. Jahrhundert verpasst hat, als er die Seele aus dem Körper löste. Seitdem trennen wir uns als Subjekte von der Welt der Objekte, die wir der Wissenschaft überlassen – mit dem Ergebnis, dass wir als fühlende Menschen in ihr nicht mehr vorkommen und ausgeschlossen bleiben. Ich denke, die wichtigste Einsicht am Ende der beiden christlichen Jahrtausende besteht darin, dass wir die Aufgabe haben, der alten Idee der polaren Gegensätze eine neue Form zu geben. Mit dieser Vorgabe liegt die Herausforderung der abendländischen Kultur darin, ihr eigenes Symbol für das Denken zu finden, das das Individuum in der Welt und beide zusammenhält. Unsere Kultur muss dies bewusst tun und dabei das Beste aufbieten, das sie hat, nämlich die komplementären Formen der Erkenntnissuche, Kunst und Wissenschaft. Zusammen ergeben sie die Humanität, die unsere Kultur auszeichnen könnte. Aber diese Erfindung müssen wir noch machen. Sie wäre wichtiger als alles, was in den vergangenen 2000 Jahren passiert ist – im Kopf und in der Welt.