Bohr und Heisenberg auf der Bühne

Die Tatsache, dass Bohr und Heisenberg nicht ungestört ihren wissenschaftlichen und philosophischen Debatten nachgehen konnten und aufgrund der Zeitläufte mehr oder weniger unfreiwillig zu politischen Gesprächen zwischen Feinden genötigt wurden, kann nur bedauert werden. Was hätten wir alles von Bohr erfahren und lernen können, wenn die beiden Forscher sich weiterhin persönlich verstanden und um das Verstehen von Natur bemüht hätten! Der beste Bohr, den es gibt, stammt schließlich von Heisenberg. Einige der klassischen Sätze, die mit der Qualität von Aphorismen zirkulieren, um die philosophische Lektion der Atome einprägsam zu formulieren, verdanken wir in dieser Form Heisenberg, der sie aus Bohrs vielsprachigem Nuscheln herausgefiltert hat. So pflegte Bohr in dem Wortlaut Heisenbergs etwa zu sagen: »Das Gegenteil einer richtigen Behauptung ist eine falsche Behauptung. Aber das Gegenteil einer tiefen Wahrheit kann wieder eine tiefe Wahrheit sein.« Und er warnte vor einer allzu leichtfertig betriebenen Futurologie mit dem Hinweis: »Prognosen sind gefährlich, vor allem, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen.« Auch Bohrs zwar nicht origineller, aber im Rahmen der Quantenmechanik berühmt gewordener Ausspruch, dass wir Menschen immer zugleich Zuschauer und Mitspieler im großen Drama des Lebens sind, findet sich in dieser Klarheit nur bei Heisenberg, ebenso wie Bohrs wunderlich paradoxe Feststellung: »Der Sinn des Lebens besteht darin, dass es keinen Sinn hat zu sagen, dass das Leben keinen Sinn hat.«

Zum Glück hat der englische Schriftsteller Michael Frayn versucht, uns das Gespräch zwischen den beiden durch ein Drama zugänglich zu machen. Das zwei Akte umfassende Stück Kopenhagen wurde im Mai 1998 in London uraufgeführt. Die Historiker – also die um Objektivität bemühten Wissenschaftler – können aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht klären, was die beiden maßgeblichen Physiker ihrer Zeit 1941 besprochen haben, als sie zwei Nationen angehörten, die sich im Krieg befanden, und sie die Chance sahen oder die Verpflichtung spürten, ihrem jeweiligen Land zu dienen. Und deshalb schlägt für Frayn an dieser Stelle die Stunde der Literatur. Nur sie kann herauszufinden versuchen, was Bohr und Heisenberg wirklich miteinander besprochen haben, nur die Kunst hat die Freiheit, alle möglichen Konstellationen und denkbaren Argumente durchzuspielen, wie dies im Theaterstück auch passiert.

Frayn betraut Bohr und Heisenberg persönlich mit der Aufgabe, sich selbst zu verstehen. Er lässt sie ihre eigenen Handlungen von einer anderen Welt aus – vom Totenreich her – beobachten (»now we’re all dead and gone«), und es ist klar, dass sie scheitern werden, und zwar allein aus Gründen der Physik. Frayn spielt auf der Bühne mit der Entdeckung, die Heisenberg berühmt gemacht hat und die als Relationen der Unbestimmtheit bezeichnet wird. Sie reklamiert für Atome, was für Menschen vertraut ist. »Die Bahn eines Elektrons entsteht erst dadurch, dass wir sie beobachten«, wie die Physiker seit Heisenberg wissen. Das Leben eines Menschen zeigt sich uns bekanntlich ebenfalls dadurch, dass wir es beobachten.

Ein Wissenschaftler ist ein Beobachter der Dinge, und der Biograph eines Wissenschaftlers beobachtet diesen Beobachter. Er könnte somit – besonders im Fall von Heisenberg – für sich beanspruchen, das Gleiche tun zu dürfen, nämlich zu behaupten, dass es die Lebensbahn des Physikers ohne ihn, den Biographen, gar nicht gäbe, dass sie erst dadurch entstehe, dass er sie verfolgt und beschreibt. Er sollte diesen Aspekt seines Tuns auf jeden Fall im Auge behalten und auch wissen, dass solch ein literarisches Spiel mit Heisenberg (und Bohr) auf wunderbare Weise gespielt werden kann und sollte.

Zum Witz dieses Dramas gehört natürlich die Tatsache, dass die Zuschauer im Theater als Beobachter die Beobachter beobachten, die sich beobachten. Eine einigermaßen hoffnungslos verwickelte, labyrinthische Situation, für die es aber einen eleganten Ausweg gibt: sich in eine der handelnden Personen zu versetzen. Wer dies tut, versteht besser, was der bislang nur Beobachtete denkt und sagt. Er oder sie bemerkt zugleich, dass es mehr von dem zu verstehen gilt, was die anvisierte Person denkt und sagt. Obwohl Bohrs große moralische Autorität außer Frage steht und Heisenberg auf der Bühne viel Zeit damit aufbringt, sich gegen Vorwürfe zu verteidigen, die weniger seine Person und mehr sein von den Nationalsozialisten beherrschtes Land betreffen, wird der Zuschauer immer neugieriger auf diesen Deutschen, dem Frayn schließlich sogar das Schlusswort überlässt. In ihm darf Heisenberg seine erstaunlichste wissenschaftliche Leistung in Erinnerung bringen und von »that final core of uncertainty at the heart of things« sprechen, von dieser Unbestimmtheit im Herzen der Dinge, die so charakteristisch für das menschliche Leben ist.

Wie gesagt, das Gespräch fand im Herbst 1941 statt. Mitte 1941 hatte sich die Situation der Atomforschung und damit die Einschätzung der Gefahr deutlich verändert. Heisenberg und sein Schüler von Weizsäcker erkannten in diesem Kriegsjahr, dass es unter den Elementen ein weiteres gab, das als Sprengstoff für eine Kernexplosion infrage kam. Eine Atombombe konnte auch mit dem Stoff gebaut werden, der heute als Plutonium-239 bekannt ist und von dem man inzwischen weiß, dass sich von Weizsäcker damit bis zur Patentfähigkeit beschäftigt hat.

Was tun? So lautete mitten im Zweiten Weltkrieg die Frage, und wenn die Zeiten auch nur halbwegs normal gewesen wären, hätte Heisenberg die Antwort gewusst. Sie hätte gelautet: »Nach Kopenhagen fahren und mit Bohr reden.« Das Verrückte ist nun, dass er – gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker – tat, was zwar zunächst selbstverständlich erscheint, was aber auf den zweiten Blick nur Erstaunen und Zweifel hervorrufen kann. Wie konnte Heisenberg überhaupt in das besetzte Kopenhagen reisen? Wer hatte ihn eingeladen? Wer durfte von seiner Einladung wissen? Hatte er einen Auftrag – etwa der Gestapo – annehmen müssen, um sein Ziel – ein Treffen mit Bohr – zu erreichen? Sollte oder musste er gar auskundschaften, was Bohr wusste? Wer hatte ihm überhaupt die Erlaubnis zur Reise erteilt? Wurde sein Verhalten in Dänemark überwacht? Musste er anschließend einen Bericht verfassen? Wer hat hier wen hintergangen, getäuscht oder gar verraten?

»But why?... Why did he come?« Genau dies ist, von außen gesehen, die entscheidende Frage, und mit ihr beginnt das Theaterstück. Bohrs Frau Margrethe wiederholt sie mehrfach: »Why did he come? What was he going to tell you?« Sie meint, Heisenberg sei als Feind nach Kopenhagen gekommen, denn 1941 galt nahezu jeder Deutsche in Dänemark als Feind. Und was Heisenberg unter Anleitung »des Freiherrn von Weizsäcker«, wie es oftmals mit bösem Unterton heißt, getan hat, kann vom Standpunkt des gesunden Menschenverstands bestenfalls als töricht bezeichnet werden. Ausgerechnet im DWI, von den Dänen als Propagandaeinrichtung verabscheut, organisierte von Weizsäcker einen Vortrag von Heisenberg. Weizsäcker war bereits im März in der dänischen Hauptstadt aufgetaucht und brüskierte den verblüfften Bohr, indem er ohne Vorwarnung an dessen Sekretären vorbeimarschierte und ihm den Leiter des Instituts vorstellte. Von Weizsäcker hätte wissen müssen, dass Bohr sich zwar weiterhin freundlich gegenüber seinen alten Freunden verhielt, aber in der 1941 eingetretenen Situation sämtliche Begegnungen mit Deutschen vermeiden wollte.

Natürlich hat Heisenbergs Besuch eine politische Dimension: Es steht zum Beispiel außer Frage, dass die Gestapo wusste, mit welchen alliierten Wissenschaftlern Bohr in Kontakt stand, und dass sie Heisenberg darüber informiert hatte. Es ist also durchaus möglich, dass er die Erlaubnis, nach Kopenhagen zu fahren, einem Spionageauftrag verdankte und Bohr über den Stand der Forschungen des Feindes aushorchen sollte. Doch wer Heisenberg und seine Verbindung zu Bohr verstehen will, ist wahrscheinlich besser beraen, wenn er die politische Dimension zurücknimmt und dafür die persönliche in den Vordergrund stellt.

Das böse Wort vom »Feind« musste für Heisenberg völlig unbegreiflich sein. Als er nach Kopenhagen fuhr, glaubte er, zwischen zwei Freunden zu stehen, einem Lehrer und einem Schüler. Für Heisenberg waren echte Freundschaften nicht durch das politische Tagesgeschehen verwundbar, auch wenn es dabei um Krieg und Waffen ging, an deren Entwicklung die Wissenschaft beteiligt sein musste. Heisenberg hielt die Freundschaft mit Bohr für so belastbar, dass er das Gespräch mit ihm riskierte. Er merkte vielleicht nicht einmal, dass er den alten Beziehungen zu großes Gewicht beigemessen hatte. Er merkte nur, dass er allein war, nachdem Bohr ihn verlassen hatte.

Nach 1945 versuchte Heisenberg, sich mit allen möglichen Hinweisen und Wendungen zu verteidigen. Und während er öffentliche Erklärungen abgab, schwieg Bohr. Briefe an Heisenberg, die er entwarf, schickte er nicht ab, er versteckte sie sogar so gut, dass sie erst im Jahr 2000 gefunden wurden. Anfang 2002 veröffentlichte das Niels-Bohr-Archiv diese bislang unveröffentlichten Dokumente auf seiner Homepage, wobei die öffentliche Debatte um das Theaterstück von Frayn als Anlass für diesen Schritt diente. Die neuen Dokumente vermochten jedoch nicht, an der alten Einschätzung der Situation etwas zu ändern beziehungsweise zu einer neuen Bewertung von Heisenbergs Besuch aus dem Jahr 1941 zu bewegen. Bohr räumt in den Briefentwürfen und Notizen zwar ein, dass ein Grund für Heisenbergs Besuch darin bestand, erfahren zu wollen, wie es ihm unter deutscher Besatzung erging (sprich: ob er aufgrund seiner jüdischen Herkunft mütterlicherseits Hilfe brauchte). Aber Bohr betont vor allem, dass Heisenberg und von Weizsäcker sowohl davon überzeugt gewesen seien, dass die Deutschen den Krieg gewinnen würden, als auch dass ein sich länger hinziehender Krieg durch Atomwaffen entschieden würde (wobei Bohr an einer Stelle hinzufügt, dass von Weizsäcker darin eine Chance sah, die Position der deutschen Wissenschaft nach dem Krieg zu stärken).

1941 gab es in Kopenhagen kein Gespräch, wie es sonst zwischen den beiden Freunden üblich war. Sowohl Heisenberg als auch Bohr mussten damit rechnen, überwacht zu werden. Solange sie sich in einem Haus aufhielten, konnte keiner von ihnen offen reden. Zu diesem Zeitpunkt durfte niemand wagen, am Sieg Deutschlands zu zweifeln, wenn er nicht riskieren wollte, in einem KZ zu landen. Vor allem Heisenberg musste sehr vorsichtig sein, da er in seiner Heimat als Anhänger der »jüdischen Physik« Albert Einsteins schon als »weißer Jude« gebrandmarkt worden war. Daher kann niemand über die entsprechende Passage in den Dokumenten aus Kopenhagen überrascht sein.

Zweifellos muss etwas schiefgegangen sein, als Heisenberg und Bohr versucht haben, wenigstens bei einem Spaziergang im Freien ein offenes Gespräch zu führen. Denn die beiden kehrten nach sehr kurzer Zeit zurück, wobei Bohr nachweislich in höchster Erregung war. Heisenbergs Erwähnung seiner Arbeit an einer Atombombe hatte ihn offenbar entsetzt und verstummen lassen. Es ist durchaus denkbar, dass Heisenberg Bohr vor den Kopf gestoßen hat, indem er direkt auf das Thema zu sprechen kam, das ihn interessierte: die Möglichkeit, Atombomben zu bauen. Heisenberg hatte sich keine andere Strategie für das erhoffte Gespräch zurechtgelegt. Er sprach ein Problem stets direkt an und war nie an strategischen Fragen interessiert gewesen. Wer sich mit Heisenbergs Lebenslauf und seinem Charakter beschäftigt, kann deshalb auch nicht akzeptieren, was Bohr schreibt, dass nämlich Heisenberg über die Dauer des Kriegs nachgedacht und die dabei zunehmende Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Atomwaffen betont habe. So dachte Heisenberg nicht, solche Überlegungen lagen ihm fern.

Das Rätsel, das die Begegnung in Kopenhagen aufgibt und um dessen Ergründung sich das Theaterstück Kopenhagen so bemüht, bleibt auch heute ungelöst. Klar ist nur, dass damals in die Brüche gegangen ist, was die größte Freundschaft in der Geschichte der Wissenschaft hätte werden können. Es wäre für das europäische Geistesleben wohl besser, wenn über das, was Bohr und Heisenberg in den 1920er Jahren zusammengeführt hat, genauso intensiv diskutiert würde wie über das, was sie 1941 auseinanderbrachte. Heisenbergs Texte sprechen hier eine deutliche Sprache, sie bieten die Möglichkeit, das Geheimnis um das Gespräch in eine mögliche Richtung zu lüften. Die Texte zeigen, was für ihn wirklich zählte: die unverwundbare Freundschaft zu Bohr, die er zumindest in Worten bewahren wollte. Diese Harmonie zwischen den beiden Physikern hätte die Menschheit weiterbringen können.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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