Einsteins Unbehagen
Bekanntlich hatte Einstein 1905 geholfen, die Quantentheorie auf die Beine zu stellen. Als sie sich aber zu einer Quantenmechanik entwickelte, die statistisch gedeutet wurde, missbilligte er die Richtung, in die sein Kind lief. Die Gleichungen und Formeln der herkömmlichen Physik enthielten Größen, die es wirklich gab – eine Strecke etwa, eine Masse oder eine Geschwindigkeit. Auch die Quantentheorie wurde mit Größen formuliert, die tatsächlich vorhanden waren, Ladungen etwa, Frequenzen und Wellenlängen. Erst für die beiden mathematisch gefassten Formulierungen der Quantenmechanik, die Heisenberg und Schrödinger in der Mitte der 1920er Jahre vorlegten, traf dies nicht mehr zu. In der Wellenmechanik von Schrödinger beispielsweise tauchte eine Wellenfunktion auf, unter der man sich nichts mehr vorstellen konnte. Sie beschrieb nichts, was es in dem uns umgebenden Raum wirklich gab. Aus ihr konnte man aber ein besonderes Stück der Wirklichkeit berechnen, etwa die Wahrscheinlichkeit, ein Elektron an einem bestimmten Ort zu finden. Auch die Matrizenmechanik von Heisenberg machte klar, dass sich atomare Objekte nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen bewegen. Die physikalischen Gesetze der Quantenwelt legten nur diese Wahrscheinlichkeiten fest. Nur sie (und nicht die Partikel selbst) breiten sich nach den Anforderungen der Kausalität aus.
Einstein schien dies nicht »der wahre Jakob« zu sein, wie eine seiner Formulierungen lautete. Er hatte Physik immer als den Versuch verstanden, die Wirklichkeit begrifflich zu erfassen. Und diese beschrieb die neue Physik nicht mehr. Sie handelte von Symbolen, die mit imaginären Komponenten behaftet sein mussten, denen keine physikalische Wirklichkeit entsprach. Zwar bestand die Quantenmechanik aus einer Ansammlung von Gleichungen, wie es sich in der Theoretischen Physik gehörte, aber diese Gesetze beschrieben Vorgänge in abstrakten Räumen.
Einsteins erster Gedanke war, dass unter diesen Umständen in der Quantenmechanik Widersprüche stecken müssten, und er versuchte, sie sichtbar zu machen. Zu diesem Zweck erfand er sogenannte Gedankenexperimente, deren Ziel es schließlich wurde, die Unbestimmtheitsrelationen von Heisenberg zu unterlaufen. Ein Gedankenexperiment beschreibt eine Situation, über die man gut nachdenken kann, die aber technisch schwer realisierbar ist. Das Ergebnis eines solchen Gedankenexperiments stammt nicht aus der Erfahrung, es wird aber durch viele Erfahrungen aus tatsächlich ausgeführten Versuchen nahegelegt. Mit solchen Gedankenexperimenten war es Einstein gelungen, sich in den Kosmos vorzutasten und den Zusammenhang von Raum, Zeit, Materie und Energie zu verstehen.
Seine ersten Einwände gegen die Quantenmechanik und ihre Kopenhagener Deuter trug Einstein im Herbst 1927 in Brüssel auf der fünften Solvay-Konferenz vor, auf der es um »Elektronen und Photonen« und damit um das quantenmechanische Verstehen der kleinsten Dinge ging. (Gibt man bei YouTube »Solvay Conference 1927« ein, so findet man unter anderem ein knapp drei Minuten dauerndes Video, in dem ein paar der Teilnehmer in den Pausen zu sehen sind – darunter Bohr und Einstein mit ihren auffälligen Hüten.) Geantwortet hat ihm dabei immer Bohr, nicht ohne sich vorher gründlich mit Heisenberg und Pauli zu beraten. Alle drei begrüßten diese Gelegenheit zum offenen Gedankenaustausch, bot sich hier doch die Möglichkeit, die gewonnenen Anschauungen einer strengen Prüfung zu unterziehen. Bohr trat Einstein dabei mit der philosophischen Grundüberzeugung entgegen, dass Physik sich damit beschäftigt, was Menschen über die Natur sagen können. Er wollte zeigen, dass die Quantenmechanik ohne Widersprüche und vollständig ist und das Beste bietet, was Menschen über die Atome sagen können.

Die Teilnehmer der fünften Solvay-Konferenz 1927: Einstein sitzt selbstbewusst in der ersten Reihe (5. v. rechts), links von ihm Hendrick Anton Lorentz, Marie Curie, Max Planck. In der zweiten Reihe erkennt man von rechts: Niels Bohr, Max Born, Louis de Broglie, Arthur Compton und Paul Dirac; links außen in der zweiten Reihe sitzt Peter Debye. In der dritten Reihe zeigen sich u. a. Werner Heisenberg (3. v. rechts), Wolfgang Pauli (4. v. rechts) und Erwin Schrödinger (genau in der Mitte). In diesem Jahr befand sich die europäische Wissenschaft noch in glänzender Verfassung, ehe ihre Mitglieder in alle Welt vertrieben wurden.
Damit begann eine philosophische Debatte, die heute noch andauert. Wer an ihr teilnehmen möchte, findet einen guten Einstieg durch den eingangs erwähnten Essay, in dem Bohr seine Darstellung der Diskussion mit Einstein über erkenntnistheoretische Probleme der Atomphysik gibt.
Einstein eröffnete die Diskussion mit der Beschreibung eines einfachen Gedankenexperiments (siehe Abbildung 1). Ein Elektron bewegt sich durch einen schmalen Schlitz in einer Blende, die in hinreichender Entfernung vor einer fotografischen Platte aufgestellt ist. Jeder Durchgang durch winzige Öffnungen dieser Art zieht Beugungserscheinungen, also auch Ablenkungen des Elektrons, nach sich. Folglich, so erklärte Einstein, kann man nur die Wahrscheinlichkeit angeben, mit der sich ein Elektron bei einem mit A benannten Ort registrieren lässt.
Wenn nun tatsächlich bei A ein Elektron registriert wird, dann kann, so Einstein weiter, bei einem anderen Ort B nichts mehr gemessen werden. Nach der Quantenmechanik gibt es jedoch selbst in dem Fall, dass ein Elektron bei A nachgewiesen wurde, immer noch eine von null verschiedene Wahrscheinlichkeit, ein Elektron auch bei B zu registrieren. Einstein fand dies absurd. Er zog daraus den Schluss, dass die Quantenmechanik unfähig sei, individuelle Elektronen zu behandeln. Sie könne offenbar nur mit statistischen Ensembles aus ihnen umgehen. Dann sei die Quantenmechanik aber nicht vollständig, und auf keinen Fall könne man jetzt behaupten, wie Bohr es tat, dass mit ihr das letzte Wort über die Atome gesprochen sei.
Bohr akzeptierte zunächst die Beschreibung des Versuchsaufbaus. Man könne doch ohne solche Eigenschaften der quantenmechanischen Wahrscheinlichkeiten nicht verstehen, wie zum Beispiel Atome radioaktiv zerfallen. Allerdings konnte er den anschließenden Überlegungen Einsteins nicht folgen. Bohr versuchte seinen Dialogpartner mit der Beschreibung eines weitergehenden Versuchs zu überzeugen. In diesem Experiment (siehe Abbildung 2) befindet sich zwischen der Blende mit einem Schlitz und der fotografischen Platte eine zweite Blende mit zwei Öffnungen. Wenn ein intensiver Elektronenstrahl beide Blenden passiert hat, wird man auf der fotografischen Platte ein sogenanntes Interferenzmuster finden. Das heißt, man wird Streifen sehen, die als Interferenz der mit den Elektronen verknüpften Wellen zu deuten sind.
Als Einstein dem zustimmte, bat Bohr ihn, nun zu überlegen, was passiert, wenn der Elektronenstrahl so schwach ist, dass immer nur ein einzelnes Elektron den Schlitz der ersten Blende passiert. Dann kommt auch an der fotografischen Platte immer nur ein einzelnes Teilchen an (zum Beispiel dort, wo der Stern eingezeichnet ist). Wird der Versuch nun mit einem solchen dünnen Strahl aus Elektronen fortgesetzt, findet man nach einiger Zeit aber genau das Interferenzmuster wieder, das Wellen erzeugen. (Dies ist inzwischen mit raffinierten Experimenten in jedem Detail bestätigt.) Daraus folgt, dass ein einzelnes Elektron, das durch einen der beiden Schlitze der zweiten Blende läuft, andere Elektronen beeinflusst, die durch den Schlitz laufen, durch den das erste Elektron nicht gekommen ist. Es muss also auch dort spürbar sein, wo es nicht registriert wird. Diese Erscheinung, so Bohr, müsse erklärt werden. Die herkömmliche Physik könne das nicht, wohl aber die Quantenmechanik. Ihre Erklärung sei dabei so vollständig wie möglich. Die Beschreibung, auf die Einstein hofft, gebe es nicht.
Das von Bohr beschriebene Experiment mit dem Doppelspalt verdeutlicht besonders eindrucksvoll die Quantennatur der Elektronen – man sieht die Dualität ihres Wesens sozusagen mit eigenen Augen. Die Elektronen verhalten sich als Teilchen, wo sie registriert werden (an der fotografischen Platte werden einzelne Ereignisse registriert), und sie verhalten sich als Wellen, wo sie nicht beobachtet werden (beim Durchgang durch den Doppelspalt). Man könnte nun auf die Idee kommen, an der Wand mit den zwei Öffnungen ein Instrument zu installieren, das festzustellen gestattet, durch welchen Schlitz ein individuelles Elektron schlüpft. Wer dies unternimmt, wird bemerken, dass er dies zwar tun kann, dass damit aber zugleich das Interferenzmuster verschwindet. Wenn man die Elektronen am Doppelspalt fragt, ob sie Teilchen sind, antworten sie mit Ja. So deutet sich in diesem Versuch eine seltsame Zusammengehörigkeit von Objekt und Subjekt an, eine Einheit, die Bohr als Ganzheit der Phänomene bezeichnete.