Am Blegdamsvej

Als ihr vierter Sohn Aage – der berühmteste Sohn des Ehepaars, 1975 für seine Beiträge zum Verständnis der Atomkerne mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet – 1922 geboren wurde, lebte die Familie Bohr schon in den Räumen des Instituts, dessen Gründung sich Niels Bohr seit dem Ersten Weltkrieg vorgenommen hatte. Ihm schien der Fortschritt seiner Wissenschaft von der Theoretischen Physik her zu kommen, die sich inzwischen auf Größen wie Max Planck (1858–1947) und Albert Einstein berufen konnte. Nach Bohrs Überzeugung war für die Entwicklung der mathematischen Physik ein Ort förderlich, an dem sich die junge Forschergarde treffen und ihre Fragen wie auf einem Forum besprechen konnte. Ein Institut in Kopenhagen schien ihm dafür der geeignete Rahmen zu sein, und nachdem Bohr 1916 von der Universität seiner Heimatstadt zum Professor für Physik ernannt worden war, setzte er seine schier unerschöpfliche Energie dafür ein, nach finanziellen Mitteln für sein Institut zu suchen. Im April 1917 reichte er seinen ersten Antrag dazu beim dänischen Staat ein, dessen Behörden zwar insgesamt positiv reagierten, aber in finanzieller Hinsicht bald hilflos dastanden, als die kriegsbedingte Inflation alle Planungen erschwerte. Bohr nahm nun Kontakt zur Carlsberg-Stiftung (Carlsbergfondet) auf, die 1876 von der Familie Jacobsen mit den Erträgen ihrer Brauerei gegründet worden war, und zwar ursprünglich zur Finanzierung des Carlsberg Laboratoriums und der naturwissenschaftlichen Experimente, die dort durchgeführt werden sollten. Die Stiftung unterstützte Bohrs Vorhaben einer Institutsgründung großzügig, und so konnte das historische Gebäude am Blegdamsvej gebaut und im März 1921 eröffnet werden.

e9783641068547_i0003.jpg

Bild 3

Niels Bohr und Margrethe Nørlund vor dem Haus der Familie Nørlund in Kopenhagen, 1911

Als Direktor kam natürlich nur Niels Bohr infrage, der mit seiner damals fünfköpfigen Familie – es waren erst drei der sechs Söhne zur Welt gekommen, Christian, Hans und Erik – in eine Wohnung in den ersten Stock zog und hier Besucher aus aller Welt erwartete. Und sie kamen in den folgenden Jahren in großer Zahl. Nicht nur die Familie Bohr, sondern auch die große Familie der Physiker verfügte jetzt über ein passendes Haus, in dem sie wachsen und gedeihen konnte.

Das Ehepaar Bohr zog 1932 jedoch weiter, und zwar in das »Haus der Ehre« in Kopenhagen, nachdem der dort lebende Philosoph Harald Høffding gestorben war. Es war eine großzügig angelegte Villa, die von den Gründern und Besitzern der Brauerei Carlsberg, der Familie Jacobsen, im 19. Jahrhundert errichtet worden war. Nach dem Tod des Sohnes des Firmengründers im Januar 1914 wurde sie dem dänischen Staat zur Verfügung gestellt, der es seinem prominentesten und ehrwürdigsten Bürger als Wohnhaus anbot. Die im pompejanischen Stil errichtete Villa diente bereits im 19. Jahrhundert als Treffpunkt von Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern, und sie war von ihrem Bauherrn Jacob Christian Jacobsen frühzeitig dazu bestimmt worden, mehr als ein Ort des Wohnens zu sein. Hans Christian Andersen, der 1868 zu Gast war, staunte über den ungewohnten Luxus – es gab Gasöfen, und das viele Licht wurde von zahlreichen Wachskerzen gespendet. Heute wird das große Gebäude als Akademie genutzt, in seinen Räumen finden wissenschaftliche Symposien und andere Veranstaltungen zu variierenden Themen statt.

Als Margrethe und Niels Bohr die geräumige Villa bezogen, in der sie unter anderem die Königin von England, den König von Dänemark und Politiker wie Winston Churchill und David Ben-Gurion zu Gast hatten, konnten sie den Platz gut gebrauchen, schließlich mussten inzwischen sechs Söhne untergebracht werden; bis 1928 waren Aage, Ernest und Harald hinzugekommen. Und die Familie wuchs weiter, rechnet man die Enkel hinzu.

Seit die Familie übrigens im »Haus der Ehre« wohnte, musste Niels Bohr täglich eine Wegstrecke von mehr als sechs Kilometern zur Arbeit – zum Institut am Blegdamsvej – bewältigen. Bohr nutzte dazu bei jedem Wetter ein Fahrrad. Sein Weg führte an Binnengewässern vorbei, und wenn man ihn heute abschreitet, kommt man an einem Museum (Bakkehusmuseet) vorbei, das in den Wohnräumen unterbracht ist, in denen im frühen 19. Jahrhundert Kamme und Knud Lyne Rahbeck gelebt haben. Das dänische Dichterehepaar ermöglichte in den Tagen der europäischen Romantik in diesen Räumen das Goldene Zeitalter des kulturellen Lebens in Kopenhagen, indem es Autoren und Forscher zu literarischen und wissenschaftlichen Gesprächen und Lesungen einlud.

Über das Familienglück der Bohrs legten sich jedoch einige Schatten, zwei der Söhne starben vor ihren Eltern. Der Erstgeborene, Christian, ging 1934 bei einer Segeltour auf rauer See über Bord – vor den Augen des entsetzten Vaters, den man mit Gewalt davon zurückhalten musste, in die bedrohlichen Fluten zu springen. Der Nachkömmling Harald erkrankte schon früh und starb in jungen Jahren. Derzeit lebt nur noch der jüngste, 1924 geborene Sohn Ernest.

Niels Bohr fing seine Trauer über den Verlust der Kinder dem Vernehmen nach durch ein buddhistisches Märchen auf, das von der verwirrt wirkenden Kisagotami erzählt, die als Mutter mit einem toten Kind den Weg zu Buddha sucht, um ihn um die Heilung ihres gestorbenen Sohns zu bitten. Buddha sieht ihr Leiden und verspricht Hilfe. Dazu solle sie ihm Senfsamen aus dem Hause einer Familie bringen, in der noch niemand gestorben und kein Leid zu beklagen ist. Bei der anschließenden Suche begreift Kisagotami, warum sie nicht fündig wird. Sie erkennt, dass der Tod zum Leben gehört und die durch ihn mögliche Unbeständigkeit zu dem ewigen Kreislauf mit seinen Wiedergeburten beiträgt, an dem wir teilhaben.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
titlepage.xhtml
cover.html
e9783641068547_fm01.html
e9783641068547_ded01.html
e9783641068547_toc01.html
e9783641068547_fm02.html
e9783641068547_fm03_split_000.html
e9783641068547_fm03_split_001.html
e9783641068547_fm03_split_002.html
e9783641068547_fm03_split_003.html
e9783641068547_fm03_split_004.html
e9783641068547_fm03_split_005.html
e9783641068547_fm03_split_006.html
e9783641068547_c01_split_000.html
e9783641068547_c01_split_001.html
e9783641068547_c01_split_002.html
e9783641068547_c01_split_003.html
e9783641068547_c01_split_004.html
e9783641068547_c01_split_005.html
e9783641068547_c01_split_006.html
e9783641068547_c01_split_007.html
e9783641068547_c01_split_008.html
e9783641068547_c02_split_000.html
e9783641068547_c02_split_001.html
e9783641068547_c02_split_002.html
e9783641068547_c02_split_003.html
e9783641068547_c02_split_004.html
e9783641068547_c02_split_005.html
e9783641068547_c02_split_006.html
e9783641068547_c02_split_007.html
e9783641068547_c02_split_008.html
e9783641068547_c02_split_009.html
e9783641068547_c02_split_010.html
e9783641068547_c02_split_011.html
e9783641068547_c02_split_012.html
e9783641068547_c03_split_000.html
e9783641068547_c03_split_001.html
e9783641068547_c03_split_002.html
e9783641068547_c03_split_003.html
e9783641068547_c03_split_004.html
e9783641068547_c03_split_005.html
e9783641068547_c03_split_006.html
e9783641068547_c03_split_007.html
e9783641068547_c03_split_008.html
e9783641068547_c03_split_009.html
e9783641068547_c03_split_010.html
e9783641068547_c04_split_000.html
e9783641068547_c04_split_001.html
e9783641068547_c04_split_002.html
e9783641068547_c04_split_003.html
e9783641068547_c04_split_004.html
e9783641068547_c04_split_005.html
e9783641068547_c04_split_006.html
e9783641068547_c04_split_007.html
e9783641068547_c04_split_008.html
e9783641068547_c04_split_009.html
e9783641068547_c05_split_000.html
e9783641068547_c05_split_001.html
e9783641068547_c05_split_002.html
e9783641068547_c05_split_003.html
e9783641068547_c05_split_004.html
e9783641068547_c05_split_005.html
e9783641068547_c05_split_006.html
e9783641068547_c05_split_007.html
e9783641068547_c05_split_008.html
e9783641068547_c06_split_000.html
e9783641068547_c06_split_001.html
e9783641068547_c06_split_002.html
e9783641068547_c06_split_003.html
e9783641068547_c06_split_004.html
e9783641068547_c06_split_005.html
e9783641068547_c06_split_006.html
e9783641068547_c06_split_007.html
e9783641068547_c06_split_008.html
e9783641068547_c07_split_000.html
e9783641068547_c07_split_001.html
e9783641068547_c07_split_002.html
e9783641068547_c07_split_003.html
e9783641068547_c07_split_004.html
e9783641068547_c07_split_005.html
e9783641068547_c07_split_006.html
e9783641068547_c07_split_007.html
e9783641068547_c07_split_008.html
e9783641068547_c07_split_009.html
e9783641068547_c08_split_000.html
e9783641068547_c08_split_001.html
e9783641068547_c08_split_002.html
e9783641068547_c08_split_003.html
e9783641068547_c08_split_004.html
e9783641068547_c08_split_005.html
e9783641068547_c08_split_006.html
e9783641068547_c08_split_007.html
e9783641068547_bm01.html
e9783641068547_bm02_split_000.html
e9783641068547_bm02_split_001.html
e9783641068547_bm03.html
e9783641068547_bm04.html
e9783641068547_bm05_split_000.html
e9783641068547_bm05_split_001.html
e9783641068547_bm05_split_002.html
e9783641068547_bm05_split_003.html
e9783641068547_bm06.html
e9783641068547_ind01.html
e9783641068547_bm07.html
e9783641068547_cop01.html