Das Tröpfchenmodell
Fermis Erfolg machte seine Landsleute stolz. Man richtete speziell für ihn eine Professur für Theoretische Physik an der Universität Rom ein. In politisch ruhigeren Zeiten wäre er wohl auf diesem angenehmen und gut ausgestatteten Posten bis zu seinem Lebensende geblieben. Aber seine Frau Laura war jüdischen Glaubens, wodurch sie Repressalien durch das Mussolini-Regime ausgesetzt war, nachdem sich Italien 1936 mit Nazideutschland verbündet hatte. Fermi wollte deshalb möglichst rasch in die USA auswandern. Doch er konnte sein Vorhaben erst in die Tat umsetzen, als man ihm – dank aktiver Einflussnahme seitens Bohrs – im Voraus die Nachricht zukommen ließ, er würde mit dem Nobelpreis für Physik für das Jahr 1938 ausgezeichnet werden. Verdient hatte Fermi die Auszeichnung vor allem, weil ihm etwas aufgefallen war, das bei Bohrs Beiträgen zum Verständnis der Kerne noch eine bedeutende Rolle spielen sollte und das die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften für die Ehrung etwas kryptisch als die »Entdeckung der durch Neutronen ausgelösten Kernreaktionen« bezeichnete. Auf jeden Fall verfügte Fermi durch die Preisverleihung über die finanziellen Mittel, die ihm und seiner Frau einen Neuanfang in den USA ermöglichten. Fermi arbeitete zunächst an der Columbia University in New York, dann an der Chicago University, wo er eine Professur für Kernphysik innehatte. Im Sommer 1944 zog er mit seiner Familie nach Los Alamos (New Mexico), um im geheimen Atomforschungslabor der USA zu arbeiten, ehe er sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Kernforschungszentrum an der Chicago University wieder mit der Grundlagenforschung beschäftigte. Nach einer Europareise 1954 erkrankte er an einem Magenkarzinom, woran er noch im selben Jahr verstarb.
Der Nobelpreis wurde Fermi für die Entdeckung vergeben, dass Neutronen, wenn sie verlangsamt und abgebremst werden – etwa indem man sie von ihrer Quelle aus durch Wasser oder Graphit leitet –, einen Atomkern sehr viel besser und effektiver treffen, als wenn sie mit ihrer normalen Geschwindigkeit unterwegs sind. Tatsächlich zeigte sich, dass solche langsamen (oder thermischen) Neutronen ihr Ziel so leicht treffen konnten, als ob sich der Kern auf einmal 100-fach ausgedehnt habe. (Man stelle sich ein Fußballtor vor, das mit einem Mal über hundert Meter hoch und breit ist, wenn der Ball nur langsam genug darauf zufliegt.) Die Physiker konnten damals bereits abschätzen, über welchen geometrischen Durchmesser ein Atomkern verfügt, und aus dieser Zahl ließ sich berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Neutron ihn traf.
Kein Wunder, dass die Forscher äußerst überrascht waren, als sich zeigte, dass die langsamen Neutronen mit einer Effektivität eingefangen wurden, die weit höher als der erwartete Wert lag. Dieses Phänomen bezeichneten sie als Resonanzstreuung, weil es da offensichtlich zu einem Wechselspiel zwischen dem Kern und den elementaren Kügelchen gekommen war, die – anschaulich gesprochen – auf ihn trafen. Bohr sprach sogar von einem »Resonanzeinfang«. Er stellte sich ab 1936 vor, dass ein Neutron, das auf einen (schweren) Kern trifft, von diesem Gebilde erst empfangen und dann so festgehalten wird, dass es dabei »zur Bildung eines Zwischensystems mit beträchtlicher Stabilität« kommt. Derart drückte er seine Idee einmal in einem Vortrag vor der Kopenhagener Akademie aus; heute ist sie in den Lehrbüchern unter dem Stichwort »Compoundkern« zu finden. Dieser Ausdruck charakterisiert einen vorübergehenden Resonanzzustand, in dem einem Kern ein Teilchen hinzugefügt worden ist und alle Bausteine des Kerns so miteinander in Bewegung sind wie die Mitglieder einer Tanzgruppe, die sich an den Händen halten und umeinander drehen, und zwar so lange, bis sie sich nicht mehr an die Art und Weise erinnern, wie sie zusammengekommen sind und wer sich zuletzt bei ihnen eingefunden hat.
Resonanzen treten bekanntlich immer auf, wenn es sich um Dinge handelt, die schwingen können – etwa eine Schaukel, auf der wir jemanden in Schwung bringen, oder die Saite einer Geige, die ihren Ton erklingen lässt. Bohr nahm bei seinen Überlegungen an, dass Atomkerne mit ihren Protonen und Neutronen Schwingungszustände einnehmen, was bedeutet, dass er sich die Quanten-zustände der Kerne völlig anders vorstellte als die der Elektronenhülle der Atome. In der Folge entwickelte er ein Modell, das einem mikroskopischen Planetensystem mehr oder weniger entgegengesetzt war und in einem Atomkern so etwas wie einen extrem winzigen Tropfen Flüssigkeit annahm. Man konnte sich vorstellen (und nachrechnen), wie sich ein solcher Tropfen durch Hinzufügen von ein klein wenig mehr Flüssigkeit kurz aufblähte und dann den Zustand einnahm, den Bohr als Compoundkern identifiziert hatte. In einer 1936 gehaltenen Vorlesung zeigte Bohr zur Veranschaulichung seiner Gedanken einen Satz von Billardkugeln, der sich auf einer Schale mit einer untertassenförmigen Vertiefung befand. Diesem System wurde nun von außen eine weitere Kugel hinzugefügt – Bohr ließ sie durch ein Queue hineinstoßen –, deren Energie ausreichte, um jede der vorhandenen Kugeln aus der Vertiefung zu lösen und nach außen entkommen zu lassen. Die Wirkung der eingeschossenen Kugel – eines Neutrons im physikalischen Versuch – sollte aber nicht auf diese Weise verlaufen, also nicht dadurch, dass ihre Energie auf eine der vorgefundenen Kugeln übertragen wurde, sondern dadurch, dass sie auf alle verteilt wurde. Bohr zufolge kam es zu der beobachteten Resonanz, wenn »sich der Energieüberschuss des einfallenden Neutrons in Wirklichkeit schnell auf alle Kernpartikel verteilt«, was zu der physikalischen Folge führt, »dass für einige Zeit nachher kein einziges Teilchen genügend Energie besitzen wird, um den Kern verlassen zu können«.

Das Bohr’sche Tröpfchenmodell: Die Idee des Zwischenkerns (»compound nucleus«) wurde von Bohr mithilfe eines mechanischen Modells veranschaulicht. Den anfänglich vorhandenen Kernteilchen wird ein weiteres Neutron hinzugefügt, das sich eingliedern kann.
In Bohrs klassischem Atommodell konnten sich die Elektronen bekanntlich über Entfernungen bewegen, die der Größe der Atome entsprachen. In seinem Tröpfchenmodell des Atomkerns hingegen konnten sich die Kernteilchen, die bald Nukleonen heißen würden, nur sehr begrenzt bewegen. Ihnen standen für ihre Schwingungen nur Strecken zur Verfügung, die deutlich kleiner als der Kern waren. Bohr spürte, dass zwischen den Atomen und ihren Kernen wesentliche Unterscheidungen zu treffen waren, und er war in seinem Denken spätestens ab 1937 darauf vorbereitet, dass »die enge Packung der Teilchen im Kern« den Austausch von Energien ermöglicht, der »bei den eigentlichen Kernreaktionen eine ausschlaggebende Rolle spielt«.
Bohrs überragende Persönlichkeit und seine Autorität in Sachen Intuition führten übrigens dazu, dass seine feste Überzeugung, Atomhüllen und Atomkerne müssten als Außen und Innen in einer Theorie mehr oder weniger komplementär zu behandeln sein, die Mehrzahl der Physiker in diesem Denken gefangen hielt. Die Ähnlichkeiten im Verhalten der Elektronenschalen und der Kernzustände wurden dadurch lange übersehen, und es dauerte bis in die Nachkriegszeit, ehe durch die damals in Heidelberg tätigen Maria Goeppert-Mayer (1906–1972) und Hans Jensen (1907–1973) gezeigt wurde, dass auch Atomkerne auf diskreten Energieniveaus existieren können, die sich statt mit dem Tröpfchen-mit einem Schalenmodell berechnen lassen. Die entscheidende Neuerung besteht darin, in die Rechnungen eine ungewöhnliche Wechselwirkung zwischen dem normalen Drehimpuls eines Teilchens und dem Spin einzuführen und mit dieser sogenannten Spin-Bahn-Kopplung zu erklären, warum gerade die Atomkerne besonders stabil sind, deren Teilchenzahl eine Reihe ergeben. Goeppert-Mayer und Jensen verarbeiteten ihre Entdeckungen 1955 in dem Buch Elementary Theory of Nuclear Shell Structure und nahmen 1963 gemeinsam den Nobelpreis für Physik entgegen.
In dem Schalenmodell bekommen Nukleonen, die in einer ersten Näherung nicht direkt miteinander in Wechselwirkung treten, Energieschalen zugewiesen, die dem Pauli-Prinzip unterliegen und abgeschlossen werden können. Stabile (stationäre) Zustände werden – wie zuvor – durch Quantenzahlen erfasst, mit deren Hilfe sich berechnen lässt, wie viele Teilchen in Kernen zu finden sein sollten, die als besonders stabil gelten. Die dazugehörige Reihe 2, 8, 20, 50, 82 und 126 wird in der Kernphysik als magische Zahlen bezeichnet, die sich bestens im Schalenmodell berechnen und begründen lassen.