Eine dänische Familie

Im 19. Jahrhundert finden viele Territorien den Weg zur nationalstaatlichen Einigung, die zur Entstehung des Nationalbewusstseins führt – so auch Dänemark; hier etablierte sich nach Gebietsabtrennungen an Großbritannien und Schweden im Frieden von Kiel 1814 und nach dem Schleswig-Holsteinischen Krieg (1848–1851) eine konstitutionelle Monarchie, die eine erste Verfassung, das Grundgesetz des Königreichs Dänemark, festschrieb (wobei die Entwicklung des dänischen Nationalbewusstseins durch die Niederlage im Krieg gegen den Deutschen Bund 1864 wieder arge Einschnitte hinnehmen musste). Im Verlauf der Industrialisierung werden neue Konzepte in der Sphäre der Arbeit und Wirtschaft entwickelt und alte Vorstellungen bis zur Unkenntlichkeit verändert: zum einen die Energie und deren Verteilung – sie muss für den Maschinenverbrauch berechnet und geliefert werden –, zum anderen die Gesundheitsvorsorge, um die sich vor 1800 noch jeder Einzelne mühsam selbst kümmern musste, die aber nun durch eine zunehmende Zahl von Chemieunternehmen mit ihren pharmazeutischen Angeboten allgemein erleichtert wird; das Zeitalter von Aspirin und anderen Tabletten bricht ab 1900 an.

Im 19. Jahrhundert wird das Versprechen erfüllt, das von dem nachhaltigen Geschehen zu Beginn des 17. Jahrhunderts – die »Geburt der modernen Wissenschaft in Europa« – gegeben wurde. Die Art, wie Menschen leben und Gemeinschaften sich entwickeln, wird seit dieser Zeit verstärkt durch die Fortschritte von Wissenschaft und Technik bestimmt. Wenn der Philosoph Hegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts lehrt, dass Geschichte nicht mehr etwas ist, das Menschen zustößt und sich als Chronik fassen lässt, sondern etwas, das von ihnen selbst geschaffen wird, dann stellt er dies auch vor dem Hintergrund des wachsenden Einflusses von Wissenschaft und Technik fest, mit dem sie nicht nur den Alltag umgestalten, sondern auch in die soziale und politische Praxis eingreifen.

Zwei Beispiele zur Erläuterung: Zum einen gibt es seit 1800 Batterien und damit zum ersten Mal den Strom, der bald aus einem Elektrizitätswerk kommt, Maschinen betreibt und die Nacht erleuchtet. Ohne diese Form der Energie könnten heutige europäische Gesellschaften keinen Tag überleben, weil etwa all ihre Pumpen und sämtliche Kommunikationssysteme stillstünden. Zum anderen lernen Mathematiker vor zweihundert Jahren, wie mit dem Zufall und den dazugehörigen Wahrscheinlichkeiten umzugehen ist, was viele Wirklichkeiten in Statistiken verwandelt, mit denen nicht nur die Bürger ganz selbstverständlich umzugehen gelernt haben, sondern erst recht die Versicherungsgesellschaften, die sich in diesen Tagen gründen. »Die Verwandlung der Welt«, die im 19. Jahrhundert tatsächlich vonstattengeht, in dem unter anderem die weltweiten Verkehrsnetze gespannt und die dazugehörigen globalen Zeitzonen eingerichtet werden, geschieht auf dem fruchtbaren Boden von kulturellen Entwicklungen, zu denen zwei Traditionen maßgeblich beitragen, die zwar völlig verschieden sind, jedoch sehr eng zusammengehören und sich sogar gegenseitig bedingen: die politischen, philosophischen, literarischen und wissenschaftlichen Denkweisen, die als Aufklärung und Romantik bezeichnet werden.

In der Schule lernen wir, dass es vor allem der Gedanke der Aufklärung ist, wie er etwa in den Schriften von Immanuel Kant im Verlauf des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt, dem wir unser politisches und kulturelles Denken und Handeln verdanken. Und stimmt das etwa nicht? Haben viele Menschen heute nicht genau den Mut, den der Philosoph in seinen Schriften gefordert hat und der sich darin zeigt, dass sie erfolgreich ihrer als ursprünglich eingestuften Unmündigkeit entkommen sind und souverän den eigenen Verstand benutzen?

Zweifellos treffen wir viele Entscheidungen selbst, bilden uns gern eine eigene Meinung, kritisieren die Herrschenden und wollen bei allen Zukunftsthemen mitbestimmen. Diesen aufgeklärten Zustand unseres demokratischen Gemeinwesens lassen wir uns hoffentlich von niemandem mehr nehmen oder streitig machen. Wer braucht da noch die »Revolution der Romantik«, wie der Ideenhistoriker Isaiah Berlin die Gegenbewegung zur Rationalität der Aufklärung nennt, die um 1800 in Gang gekommen ist? Deren schwärmerische Vertreter sind anfangs belächelt worden, weil sie sich scheinbar in dunkle Traumwelten flüchteten und als Taugenichtse der bürgerlichen Wirklichkeit den Rücken kehrten.

Wer so denkt, hat weder erfahren noch bemerkt, dass »die von uns Romantik genannte Bewegung die Ethik und die Politik der Neuzeit in einem viel größeren Ausmaß [veränderte], als uns bisher bewusst geworden ist«, wie Isaiah Berlin 1996 in seinen Untersuchungen zum Wirklichkeitssinn darlegte. Die Vertreter der Romantik produzieren dabei keinen »himmelblauen Klingklang« (Peter von Matt). Sie vollziehen vielmehr tatsächlich eine »Revolution«, indem sie den damals unerhörten Standpunkt begründen und verteidigen, dass es für die Menschen »im Grunde kein endgültiges, objektives Kriterium für ihre Entscheidungen geben könne«, wie die Verkünder der Rationalität uns vorgegaukelt haben.

Die Wegbereiter der Romantik und ihre Nachfolger machen auf vielen Ebenen und an vielen Beispielen deutlich, an welcher Stelle das sonst so überzeugende und nach wie vor lebensnotwendige Programm der Aufklärung seine Grenzen findet und durch etwas anderes ergänzt werden muss und kann. Bei Isaiah Berlin ist das folgendermaßen nachzulesen: Das rationale Grundgerüst der Aufklärung macht einerseits Mut, vernünftige Fragen – über die Natur der Dinge oder des Menschen – zu stellen, zum anderen stellt es auch eine Reihe von (oftmals wissenschaftlichen) Methoden bereit, um diese Fragen mit vernünftigen Antworten abzuarbeiten. Man kann zum Beispiel wissen wollen: »Wie fließt Strom durch einen Draht?«, »Wie viele Sterne stehen am Himmel?«, »Wie weit sind die Planeten von uns entfernt?«, »Woraus besteht Wasser?« , »Was macht Zucker süß?«. Das alles kann man verstandesmäßig erklären und naturwissenschaftlich-experimentelle Befunde dabei zu Hilfe nehmen. Man kann aber auch wissen wollen: »Was ist Gerechtigkeit?«, »Wie erfahren Menschen Glück?«, »Soll man dem Ratschlag eines Lehrers folgen?«, »Gibt es einen gütigen Gott?«, »Wie erziehe ich meine Kinder?«, ohne jemals mit einer Antwort aus rationalen Gründen allein zufriedengestellt zu werden. Die Romantiker entdecken und akzeptieren, dass es zwar vernünftige Antworten auf vernünftige Fragen gibt. Sie sehen aber zugleich auch, dass sich diese vernünftigen Antworten ins Gehege kommen und sogar widersprechen können. Damit kommen Menschen in eine Situation, die sie durch keine weitere von ihrem Verstand betriebene Analyse auflösen können, die ihnen vielmehr eine Entscheidung aus anderen Quellen abverlangt. Romantisches Denken unterscheidet zum ersten Mal deutlich und konsequent zwischen Fragen nach Tatsachen und Fragen nach Werten und betont, dass nur Ersteres etwas für die Wissenschaft und systematisch zu entscheiden sei, während sich Zweiteres einem rationalen Zugriff entziehe und andere Instrumente aus dem Repertoire der men schlichen Verhaltensweisen verlange.

Über Tatsachen kann man sich (objektiv) einigen, Werte bedeuten für jeden Einzelnen (subjektiv) etwas anderes. Sie werden im Verständnis der Romantik von autonomen Personen hervorgebracht, und zwar in Form einer freien kreativen Entscheidung, die im Gegensatz zu der Bewertung eines anderen stehen kann. In diesem Denken der Romantik kommt letztlich einem Menschen keine eindeutige Natur zu, da er sich selbst erfindet, und die Werte, die er dabei aus seinem Inneren hervorbringt und anstrebt, lassen sich auf keinen Fall durch objektive Aussagen von außen beschreiben oder ableiten.

Die Romantik steht der Aufklärung gegenüber, sie ist vor allem als Gegenbewegung verständlich und wirkungsvoll und geht dabei mit der Rationalität das ertragreiche Wechselspiel ein, das in diesem Buch als Vorgabe der großen wissenschaftlichen Leistungen Niels Bohrs betrachtet wird. Der für seine Biographie und die damit erfasste Zeit entscheidende Punkt besteht darin, dass sich die Menschen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus beiden genannten Traditionen bedienen können und dies in vielen Fällen auch tun.

Dieser Standpunkt von romantischen Elementen in der Geschichte der Wissenschaft wird traditionell denkenden Theoretikern, die sich stets auf der Suche nach einer Logik in der Forschung befinden, Mühe machen. Die Schwierigkeiten rühren daher, dass die Romantik »noch immer ihrer Historiker« harrt, wie Isaiah Berlin bitter beklagt, obwohl keine Bewegung in der menschlichen Geistesgeschichte eine der Romantik vergleichbare Wirkung gehabt habe. »Wer diese Revolution nicht begriffen hat, wird letztlich keine der modernen politischen Bewegungen verstehen können«, lautet Berlins Anklage an die politische Philosophie und die entsprechende Geschichtsschreibung, die an dieser Stelle aufgenommen und fortgeschrieben wird. So wird in diesem Buch die Ansicht vertreten, dass auch keine der modernen wissenschaftlichen Bewegungen verstanden werden kann, wenn dem aufgeklärt-rationalen Vorgehen nicht der Beitrag des romantischen Denkens ebenbürtig an die Seite gestellt wird. Aufklärung allein bringt vieles, nur keine Erfindungen oder Kreationen wie Bohrs Atommodell zustande, dessen Schöpfer sogar wiederholt versucht hat, sich tiefer in wissenschaftliche Wechselspiele »hineinzuträumen« (»drømme mig dybere«), wie er einmal in einem Brief geschrieben hat. Bohr hoffte auf diese Weise ein Gefühl (»føler«) für die Annäherung an die Wahrheit zu bekommen. (Im Internet findet sich seit Kurzem der Hinweis, Bohr habe sein Atommodel mühelos im Traum gefunden; das wird hier bestritten. Wenn bei Bohr von der Tätigkeit des Träumens die Rede ist, dann ist damit gemeint, dass er sich auf die Gedanken einlässt, die sich in seinem Bewusstsein melden, nachdem er ausführlich über ein Thema nachgedacht hat.)

In diesem Buch wird sogar zu zeigen versucht, was auf den ersten Blick abwegig erscheint, dass nämlich schon die zumeist mathematisch betriebene und entsprechend nüchtern dargestellte Physik der Quanten ihre eigenen romantischen Elemente enthält, selbst wenn sie auf den ersten Blick kalt und in ihrer kalkulierten Exaktheit leblos wirkt. Darüber hinaus ist es aber vor allem die philosophisch gemeinte Lektion der Atome – die Niels Bohr »Komplementarität« nennt und im Lauf seines Lebens zu lernen versucht –, die ohne die romantische Tradition der europäischen Kultur unverständlich bleiben würde.

Bohr konnte wie kein Zweiter unter den Physikern mit gegensätzlich wirkenden Gedanken umgehen, die dazugehörigen Oppositionen in sich zusammenführen und mit ihnen leben und kreativ werden. Es war Albert Einstein, der diese Fähigkeit aufspürte und für bedeutsam erachtete. In einem Schreiben an die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin aus dem Jahr 1922 charakterisierte Einstein seinen großen Gegenspieler wie folgt: »Was an Bohr als Forscher so wunderbar anmutet, das ist eine seltsame Vereinigung von Kühnheit und vorsichtigem Abwägen; selten hat ein Forscher in solchem Maße wie er die Fähigkeit intuitiven Erfassens verborgener Dinge mit scharfer Kritik besessen. Bei aller Kenntnis des Einzelnen ist sein Blick unverrückbar auf das Prinzipielle gerichtet. Er ist zweifellos einer der größten Erfinder unserer Zeit auf dem Gebiete der Wissenschaft.«

Bohr lebte und liebte das Wechselspiel der Widersprüche. Er war geradezu versessen auf Paradoxien und erfreute sich an der Analyse, die sein Verstand dabei mit den möglichen Denkfiguren vornehmen konnte, auch oder gerade wenn er wusste, nie eine Auflösung liefern zu können. Selbstverständlich nahmen er und die anderen Physiker den Begriff »Romantik« ebenso wenig in den Mund wie die späteren Biographen und Historiker, wenn sie ihr jeweiliges Bild von der atomaren Wirklichkeit vorstellten.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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