Werner Heisenberg
Der Besucher, der jedoch entscheidend für das Fortkommen der Physik und das Auftauchen der abstrakten Quantenmechanik ist, kam 1923 nach Kopenhagen: Werner Heisenberg. Dem jungen Mann wird es zwei Jahre später gelingen, seiner Wissenschaft die neue, bis heute gültige mathematische Form zu geben. Heisenberg kam im Anschluss an diesen Erfolg immer wieder nach Kopenhagen zurück, und in den bis zur gegenseitigen Erschöpfung vorangetriebenen Gesprächen rangen Bohr und er um ein philosophisches Verständnis der Atomphysik. Sie erreichten dabei das, was heute als Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik bezeichnet wird und durch Stichworte wie Unbestimmtheit und Komplementarität charakterisiert werden kann.
Wenn das Zusammenspiel von Bohr und Heisenberg allein diese grandiose Deutung erbracht und sich nur im wissenschaftsphilosophischen Rahmen abgespielt hätte, könnte hier von einer großen und tiefen Freundschaft mit historischer Bedeutung die Rede sein. 1928 schrieb Bohr zum Beispiel, dass er sich zuvor noch nie derart mit einem anderen Menschen in aufrichtiger Harmonie (»in sincere harmony«) gefühlt habe wie mit Heisenberg. Die späteren politischen Verhältnisse ließen dies jedoch nicht zu. In den 1940er Jahren, als Dänemark von deutschen Truppen besetzt war, begegneten sich Bohr und Heisenberg erneut in Kopenhagen – die persönlichen Freunde standen sich als politische Feinde gegenüber, und das Gespräch zwischen ihnen, das von Atomwaffen handeln sollte, artete in eine nachwirkende und bedauerliche Katastrophe aus.
Wir schreiben aber noch Anfang der 1920er Jahre. Heisenberg und Bohr führten ihre ersten gemeinsamen Gespräche in Göttingen und Kopenhagen, wobei der damals schon erfolgsverwöhnte Heisenberg zunächst Mühe hatte, sich an das Leben im Bohr’schen Institut zu gewöhnen, wie er selbst schreibt: »Ich sah mich plötzlich einer großen Zahl glänzend begabter junger Menschen aus aller Herren Länder gegenüber, die mir an Sprachkenntnissen und Weltgewandtheit weit überlegen waren und die in unserer Wissenschaft viel gründlicher beschlagen waren als ich.« (Heisenberg, Der Teil und das Ganze)
Ihn ärgerte zudem, dass Bohr zunächst nur wenig Zeit für den neuen Gast aufbrachte und viel Verwaltungsarbeit zu erledigen hatte. Doch dann tauchte er plötzlich in Heisenbergs Zimmer auf, um ihn zu fragen, ob sie nicht zusammen eine Wanderung über die Insel Själland unternehmen sollten. Dabei gebe es mehr Möglichkeiten zu ausführlichen und ungestörten Gesprächen als im Institut.
Auf ihren Wanderungen erörterten die beiden Physiker nicht nur Fragen hinsichtlich der Atome und ihrer Gesetze. Sie sprachen immer wieder auch über die politisch-militärischen Ereignisse, durch die Deutschland und Dänemark verbunden waren, wobei Bohr betonte, dass die Machtausweitung des Kaiserreichs im Jahr 1864 viel und immer noch anhaltende Bitterkeit bei seinen Landsleuten hervorgerufen habe. Doch bald wandte sich die Aufmerksamkeit der Wanderer wieder der Atomtheorie zu, die ihnen trotz aller Erfolge, etwa der Bohr’schen Quantenzahlen, noch sehr unvollkommen und unbefriedigend zu sein schien.
Heisenberg kehrte nach Göttingen zurück, weil er dort als Assistent von Max Born arbeitete, der später ebenfalls in die Gilde der Nobelpreisträger für sein Fach aufgenommen wurde. Im Frühjahr 1925 gelang dem damals Vierundzwanzigjährigen dann der entscheidende Fortschritt, der der Menschheit die neue Form der Physik beschert hat, auf die man schon lange gewartet hatte. Der junge Physiker hielt sich damals allein auf der Insel Helgoland auf, um einen Heuschnupfen auszukurieren. In der Abgeschiedenheit der Insel erholte sich nicht nur sein Körper, sondern auch sein Geist, und der selbstvergessene Heisenberg erfuhr im Lauf einer Nacht, was man als mythisches Einheitserlebnis bezeichnen kann. Er durchschaute – buchstäblich – plötzlich seine mathematischen Ableitungen und sah durch sie hindurch, welche Ordnung die Natur den Atomen gegeben hat und welche Symbole diese darstellen können. Heisenberg ist es nicht nur gelungen, eine nicht ganz stimmige mathematische Gleichung durch eine bessere zu ersetzen. Der entscheidende Aspekt seiner Leistung besteht darin, dass er eine ganz andere Art von Gleichung aufgestellt und mit ihr der mathematischen Beschreibung der Natur eine bislang unbekannte Dimension gegeben hat: Das Erschließen dieser neuen Dimension stellt den eigentlichen Geniestreich in der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts dar.
Würde man einen Vergleich mit der Kunst wagen, so könnte man sagen, dass alle Bilder der Natur vor Heisenberg in Schwarz-Weiß gehalten waren. Mit ihm kam die Farbe ins Spiel. Wenn der Vergleich feiner und genauer sein soll, könnte man sagen, dass Heisenberg für die Physik das bedeutet, was Leonardo da Vinci für die Malerei war. Vor da Vinci bemühten sich die Maler darum, die Konturen eines Gesichts möglichst genau zu zeichnen und auch zu zeigen. Leonardo überließ diese Formwahrnehmung und die damit verbundene Gestalterkennung dem Betrachter selbst.
Vor Heisenbergs Durchbruch handelte jede mathematische Formulierung eines physikalischen Problems von real in der Außenwelt existierenden und messbaren Größen, die wie Zahlen zu behandeln waren. Es ging in den Gleichungen zum Beispiel um Geschwindigkeiten, Massen und Volumina, und niemand erwartete, dass sich dies jemals ändern würde. Was sollten denn Naturgesetze anderes sein als Verbindungen zwischen Größen, die es in der Natur gibt? Nach Heisenbergs Errungenschaft sah die Welt aber völlig anders aus. Seine Gesetze handeln von dem, was ein Wissenschaftler über die Welt wissen kann, und die mathematische Fassung dieses Vorhabens gelingt mit Gebilden, die mehr als eine reale Dimension haben. Pointiert formuliert: Heisenberg entdeckte, dass die grundlegenden Gesetze der Natur in Abhängigkeiten zwischen Größen bestehen, die es nicht in der realen, sinnlich zugänglichen Natur gibt. Unsere Wirklichkeit entsteht nicht aus dem Raum unserer Anschauung, sondern aus einer Sphäre heraus, die zwar an unsere Lebenswirklichkeit anschließt und wenigstens Kontakt mit ihr hält, darüber hinaus aber ihre eigene Dimension hat, die man mit dem inneren Auge erblicken und, wenn man sie beschreiben soll, als Tiefe oder Höhe kennzeichnen kann.
Heisenberg schildert selbst in seiner Autobiographie Der Teil und das Ganze, was in ihm und um ihn herum vorgegangen ist, als er ganz allein und nur aus innerem Antrieb heraus der Physik ein völlig neues Ansehen und Aussehen geben konnte. Sein Tagesablauf sah dabei wie folgt aus: »Geschlafen hab’ ich eigentlich gar nicht«, so hat er seinem baldigen Freud und späteren Schüler Carl Friedrich von Weizsäcker erzählt, »ein Drittel des Tages habe ich die Quantenmechanik ausgerechnet, ein Drittel bin ich in den Felsen herumgeklettert, und ein Drittel hab’ ich Gedichte aus dem West-östlichen Divan auswendig gelernt.«
Vielleicht hat Heisenberg die wohl berühmteste Zeile aus Goethes Lyriksammlung – »Dieses: Stirb und werde!« aus dem Gedicht »Selige Sehnsucht« – im Sinn gehabt, als er alles riskierte, um die Atome zu verstehen. Er musste nämlich die alte Theorie endgültig sterben lassen, um Platz für die neue zu schaffen, die dieses Attribut auch verdiente. Heisenberg näherte sich dabei der inneren Flamme, die er als die zentrale Ordnung erkannte. Ihr galt seine Sehnsucht.