Was ist Leben?

Bekanntlich beginnt der eigentliche Aufstieg der Molekularbiologie nach 1945, als nach und nach nicht nur der Stoff erkannt wird, aus dem die Gene bestehen, sondern sich auch seine Struktur zu erkennen gibt, die Doppelhelix aus DNA. Zu dem ungeheuren Schwung der neuen Lebenswissenschaften hat unter anderem das kleine Buch Was ist Leben? von Erwin Schrödinger, dem Vater der Wellenmechanik, beigetragen. Schrödinger hatte sich während des Zweiten Weltkriegs in seinem Exil in Dublin mit dieser Frage befasst und die Ansicht vertreten, dass eine Antwort möglich sei, wenn man die Natur der Gene besser verstehen würde. Für ihn seien Gene kein »plumpes Menschenwerk«, »sondern das feinste Meisterstück, das jemals nach den Leitprinzipien von Gottes Quantenmechanik vollendet wurde«, und denen es auf die Spur zu kommen gelte.

Mit diesen Sätzen endet Schrödingers Buch, das die Leser ermuntert, mehr von diesem genetischen Meisterstück zu erfahren. Einer dieser Leser, der amerikanische Biochemiker James D. Watson, ließ sich tatsächlich davon begeistern und brachte das daraus resultierende Vorhaben zusammen mit dem Briten Francis Crick bekanntlich erfolgreich zum Abschluss. Er nahm bei seiner Suche nach den Genen ein Prinzip ernst, das Schrödinger im Vorwort seines Buches anspricht und das heute fast noch dringender klingt als damals. Schrödinger weist auf den Gegensatz zwischen den einzelnen Disziplinen der Wissenschaft und dem »Streben nach einem ganzheitlichen, alles umfassenden Wissen« hin, das die Menschen seit frühesten Zeiten auszeichnet. Er hält es für die Pflicht der Forscher, immer wieder den Versuch zu unternehmen, »unser gesamtes Wissensgut zu einer Ganzheit zu verbinden«. Da er ihn selbst mit seinen Überlegungen zu der Frage Was ist Leben? unternimmt, weiß er auch, welches Risiko ihn erwartet, wenn er mit »Wissen aus zweiter Hand« umgeht. Das Risiko besteht darin, »sich lächerlich zu machen«. Doch dies muss man aushalten, was Schrödinger auch von seinen Kollegen verlangt.

In Schrödingers Buch geht es vor allem um die »Besprechung und Prüfung von Delbrücks Modell« (so die Überschrift des fünften Kapitels). Damit ist der Vorschlag gemeint, den Delbrück im Jahr 1935 in einer Arbeit vorgelegt hatte, die auf postalischem Umweg in Schrödingers Hände gelangt war: Das interdisziplinäre Trio Delbrück /Timoféeff-Ressovsky/Zimmer zeigte, dass Gene als »Atomverband« zu verstehen sind und auf diese Weise eine eigene Einheit darstellen, die unterhalb (oder innerhalb) der Ebene der Zelle zu finden ist.

Schrödinger machte keinen Hehl aus der Tatsache, dass seine Ausführungen zu den Genen und zum Leben als Erläuterungen zu Delbrücks Arbeit zu verstehen sind, die auch rund zehn Jahre nach ihrem Erscheinen noch maßgeblich war. Der Nobelpreisträger verhalf dem bis dahin wenig bekannten Delbrück – und damit Bohrs Gedanken über »Licht und Leben« – zu großem Ruhm in der Gemeinde der Wissenschaftler, als er schrieb, dass die von Delbrück vorgelegte Erklärung der Erbsubstanz »die einzig mögliche ist«, um die Stabilität von Genen und ihren Varianten (Mutationen) zu verstehen: »Die physikalische Betrachtungsweise lässt keine andere Erklärung ihrer Beständigkeit [der der Gene] zu. Wenn das Delbrück’sche Bild versagen sollte, müssten wir alle weiteren Erklärungsversuche aufgeben.« Als Schrödinger dies schrieb (1944), arbeitete Delbrück in den USA. Auch er hatte Hitlerdeutschland verlassen; er erkundete Viren, die Bakterien angreifen und zerstören können.

Mitte der 1970er Jahre hielt Delbrück übrigens seine Abschiedsvorlesungen, und in ihnen versuchte er, das Verhältnis von »Wahrheit und Wirklichkeit« zu erkunden, so wie er es im Lauf seiner wissenschaftlichen Karriere erfahren hatte. In seinem Manuskript, das als Hommage an das allgemeine Denken von Niels Bohr zu lesen ist, ringt Delbrück mit drei »naiven Fragen«:

Wie können wir eine Theorie des Universums ohne Leben – und daher ohne Geist – entwerfen und dann erwarten, dass sich Leben und Geist aus diesem unbelebten und unbeseelten Anfang heraus entfalten? Wie können wir die Evolution der Organismen ersinnen, bei der der Geist streng als adaptive Antwort auf den Selektionsdruck konzipiert ist, der solche Exemplare bevorzugt, die sich mit dem Leben in der Höhle zurechtfinden, und dann erwarten, dass dieser Geist in der Lage ist, die tiefgründigen Einsichten in die Mathematik, die Kosmologie, die Materie, in die allgemeine Organisation des Lebendigen und den Geist selbst hervorzubringen? In der Tat, ist es überhaupt sinnvoll, den Standpunkt einzunehmen, dass die Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen, aus toter Materie entstanden ist?

Wer Delbrücks Antworten liest, versteht mehr von den Fragen, die seit Bohr bestehen, und wer sich mit ihnen beschäftigt, erkennt die Möglichkeiten und Grenzen besser, die der Wissenschaft gegeben sind.

Übrigens, Max Delbrück bezeichnete den erwähnten Watson voller Bewunderung einmal als den »Einstein der Biologie«, und er drückte damit gleichzeitig seine Hoffnung aus, dass der Brite Francis Crick noch zum »Bohr der Biologie« werden könne, um uns auf diese Weise so nah an ein Verständnis der dynamischen Vererbung heranzubringen, wie es Bohr mit seinem genuinen Zugang zu den Phänomenen beim Begreifen der stabilen Atomformen gelungen war. Delbrück meinte allerdings gegen Ende seines Lebens, dass der Bohr der Biologie doch noch nicht aufgetaucht sei; der Wissenschaftler, der neben den konkreten Ergebnissen der empirischen oder theoretischen Forschung auf diesem Gebiet auch immer die Abhängigkeit des jeweils erreichten Wissens von der Sprache bedenke und die allgemeinen Umstände im Blick behalte, die zum Erkennen durch Menschen gehören, werde noch gesucht.

Auf ihn warten wir immer noch.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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