September 1941
War diese Entwicklung tatsächlich unaufhaltsam? Heisenberg scheint nicht dieser Ansicht gewesen zu sein, wenn man den Hinweisen in seiner Autobiographie Glauben schenkt, mit denen er seinen von zahlreichen Gerüchten und Spekulationen umwölkten Besuch bei Bohr im September 1941 knapp schildert. Dem deutschen Gast »schien es äußerst wichtig« zu sein, wie er selbst schreibt, dass es das seltene U-235 war, das zur Kernspaltung eingesetzt werden müsse, denn dies bedeutete für den Bau von Atombomben »einen enormen technischen Aufwand«, der vielleicht gar nicht geleistet werden konnte – eine Auffassung, die sich unabhängig von Heisenberg Bohr selbst in einem 1941 auf Dänisch verfassten Aufsatz mit dem Titel »Nyere Undersögelser over Atomkernerns Omdannelser« (»Neuere Untersuchungen über Atomkerne«) zu eigen gemacht hatte, der in Band 39 der Fysike Tidsskrift erschienen (und in Deutschland unbekannt) war. Demnach gab es eine Chance, den Teufel zu erwischen und an seinem Tun zu hindern, denn die »tatsächliche Situation« bezüglich der Isotopen gab den Physikern in Heisenbergs Worten »bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit [selbst und ohne einen Einfluss durch die Politik] zu entscheiden, ob der Bau von Atombomben versucht werden solle oder nicht«. Und wenn Bohr und er sich in Kopenhagen in der Lage sähen, sich zu verständigen oder etwas zu vereinbaren, wonach weder von deutscher noch von alliierter Seite etwas in die Richtung einer physikalischen Waffenentwicklung unternommen würde, dann könnte der Menschheit der nukleare Schrecken vielleicht doch noch erspart bleiben.

Niels Bohr und Werner Heisenberg beim Skifahren in den bayerischen Bergen
So will Heisenberg das Gespräch mit Bohr eröffnet haben, doch der hörte offenbar an dieser Stelle schon gar nicht mehr zu, wie Heisenberg einräumte. Bohr war offenbar viel zu erschrocken bei dem Gedanken, dass die deutschen Physiker 1941 fleißig an der Atombombe arbeiteten und sogar einen Weg zu ihrer Realisierung sahen: »Vielleicht hinderte [Bohr] auch die berechtigte Erbitterung über die gewaltsame Besetzung seines Landes durch deutsche Truppen daran, eine Verständigung der Physiker über die Grenzen hinweg überhaupt in Betracht zu ziehen«, wie Heisenberg schrieb – der in diesem Augenblick zu seinem Leidwesen erkennen musste, dass die schönen und glücklichen Tagen von Kopenhagen vorüber waren und »die Wirklichkeit des Krieges auch Jahrzehnte alte menschliche Beziehungen wenigstens zeitweise zu unterbrechen vermag«.
Und mit diesem Bruch nehmen die wissenschaftlichen Dinge ihren furchtbaren historischen Lauf, dessen verheerendes Resultat im Rückblick die öffentliche Aufmerksamkeit vermehrt auf das Gespräch in Kopenhagen und die Hoffnungen, die mit ihm verbunden werden konnten, gelenkt hat.
Wenn man sich mit dem beschäftigt, was Heisenberg und Bohr im September 1941 besprachen, muss man sowohl die Vorgeschichte des Besuchs als auch einige dramatische politische Entwicklungen im Hintergrund berücksichtigen. Dänemark war im April 1940 von deutschen Truppen besetzt worden, wobei die Besatzungsmacht allerdings die Strategie verfolgte, sich als Freund zu präsentieren, der das Land vor einer englischen Invasion schützen wollte. Aus diesem Grund förderte man auf vielfache Weise deutsch-dänische Kooperationen; man richtete in Kopenhagen sogar ein eigenes »Deutsches Wissenschaftliches Institut« (DWI) ein, auch wenn die Dänen dies als Propagandawerk verabscheuten. Dorthin lud man unter anderem zu Astronomie-Vorträgen ein, bei denen dänische Zuhörer erwünscht waren, die deutschen Gelehrten zuhören sollten. Im Juni 1941 hatte Adolf Hitler den Befehl zum Krieg gegen die Sowjetunion gegeben, und als Heisenberg drei Monate später bei Bohr erschien, waren die deutschen Truppen bereits im Vormarsch.
Bohr machte sich große Sorgen um das deutsche Vorrücken in die Sowjetunion, wo er so viele Freunde hatte und Wissenschaftler kannte. Es musste ihn erschüttern, dass sich sein alter Freund Heisenberg in dieser Situation von einem Sieg Deutschlands überzeugt zeigte und offenbar der Ansicht war, dass es Europa unter seine Vorherrschaft bringen würde. Darüber hinaus erfuhr Bohr nun von Angesicht zu Angesicht, dass Heisenberg und seine Mitarbeiter im deutschen Uranverein weitgehend mit der Funktionsweise von Atomwaffen vertraut waren und über ihre Herstellung nachdachten.
Im Uranverein trafen sich unter anderem der Chemiker Otto Hahn und der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, die beide sehr unterschiedlich engagiert waren – ausgerechnet der sich in den Nachkriegsjahren als philosophierender Friedensforscher profilierende von Weizsäcker war beim Bau von Atombomben für Hitler wenig zimperlich und überraschend zielstrebig, wie der Briefwechsel von Elisabeth und Werner Heisenberg inzwischen belegt. Von Weizsäcker benutzte zwar nach 1945 gern die Formel, er sei »nur durch göttliche Gnade« vor der Versuchung bewahrt worden, eine deutsche Atombombe zu bauen – und die Öffentlichkeit vertraute ihm wegen seiner Schriften zum Frieden und glaubte, was er sagte –, aber inzwischen gibt es Hinweise darauf, dass Heisenbergs Schüler keineswegs so friedlich und harmlos gewesen ist, wie er es dargestellt hat. Im Gegenteil, er scheint das Motto der Forschung, »Wissen ist Macht«, politisch verstanden zu haben und im Uranverein nicht nur physikalisch, sondern auch machtpolitisch gedacht und die illusionäre Hoffnung auf die Möglichkeit gehegt haben, mit der neuen Waffe den »Führer« zu führen.
Von Weizsäcker war es schließlich auch, der Heisenberg 1941 überredete, in das von deutschen Truppen besetzte Kopenhagen zu fahren, um mit Bohr über die Möglichkeit von Atomwaffen zu sprechen – das ganze Unternehmen war vermutlich mit der Gestapo abgesprochen. Und im Sommer desselben Jahres, während deutsche Panzer Richtung Moskau rollten, meldete von Weizsäcker – im fernen Tokio von allen unbemerkt – ein Patent an für ein »Verfahren zur explosiven Erzeugung von Energie und Neutronen, z.B. in einer Bombe«, wie es inzwischen zum Beispiel im Nachrichtenmagazin Der Spiegel zu lesen war. Leider haben wir von dieser 1990 in Moskau entdeckten Patentschrift nicht durch Carl Friedrich von Weizsäcker selbst erfahren, was auch so gedeutet werden kann, dass der gefeierte und politisch einflussreiche Philosoph die ihn verehrende Öffentlichkeit jahrzehntelang hinters Licht geführt und sie über seine Taten während des Krieges belogen hat.
Das legendenumwobene Kopenhagener Treffen zwischen Bohr und Heisenberg scheint überhaupt nur dann begreiflich, wenn man die Figur im Hintergrund, den Diplomatensohn von Weizsäcker, stärker ins Licht rückt und annimmt, dass es bei dieser Zusammenkunft noch einen entscheidenden dritten Mann gegeben hat. Er war es, der konkret die Einladung ins DWI plante und im März 1941 durch einen ersten Aufenthalt in Kopenhagen vorbereitete. Er war es auch, der Druck auf die Dänen ausübte, zu den Vorträgen der deutschen Gelehrten zu kommen, weil sonst die SS ihr eigenes Kulturinstitut eröffnen würde. Und von Weizsäcker war es auch, der Bohr bei seinem Vorbesuch im Frühjahr 1941 gezielt zu einer Begegnung mit dem deutschen Direktor des DWI zwang und ihn damit in große Bedrängnis brachte, da Bohr nun befürchten musste, der dänische Widerstand würde von einer Kollaboration mit den Deutschen ausgehen.
Zwar hat Mark Walker in seiner Studie Nazi Science. Myth, Truth, and the German Atomic Bomb 1995 geschrieben, dass »die meisten Deutschen und höchstwahrscheinlich auch Heisenberg und v. Weizsäcker... Hitlers Sieg unmittelbar bevorstehen« sahen, was es »nicht sehr wahrscheinlich« macht, »dass die beiden deutschen Physiker tatsächlich über die Entwicklung von Nuklearwaffen noch für diesen Krieg besorgt waren«. Aber mittlerweile weiß man, dass von Weizsäcker an dieser Nutzung der Atomenergie sehr interessiert war, und es scheint, als hätte er herausbekommen wollen, was die alliierten Physiker von dem Weg wussten, der zur Atombombe führte, und wie weit sie ihn schon gegangen waren. Der Diplomatensohn glaubte, dies von Bohr erfahren zu können. Das Problem bestand jedoch darin, dass er selbst den dänischen Physiker darauf nicht ansprechen konnte; Heisenberg aber war in der Lage, dies für ihn zu tun. Von Weizsäcker musste nur noch dafür sorgen, dass sein Lehrer bei Bohr auftauchte. Zu diesem Zweck arrangierte er eine wissenschaftliche Konferenz im DWI, bei der Heisenberg einen Vortrag halten sollte. So ist auch leicht zu verstehen, weshalb Bohrs Gespräch mit Heisenberg misslingen musste: Die beiden waren mehr oder weniger zu dem Treffen verleitet worden und hatten sich zu dem Zeitpunkt nichts zu sagen, das von Bedeutung gewesen wäre.