Die Goldenen Zwanziger der Physik

Nach den elenden Nachkriegsjahren, die durch Bürgerkrieg, Hungersnöte, Arbeitslosigkeit, Bettelei, Rachitisepidemien aufgrund von Vitaminmangel und durch hohe Säuglingssterblichkeit gekennzeichnet waren, setzte bei den europäischen Staaten allmählich so etwas wie eine wirtschaftliche Stabilisierung im Inneren und eine politische Beruhigung nach außen ein. Von den vorangegangenen Krisen am schlimmsten betroffen war Deutschland, das bis 1923 eine radikale Inflation als Folge der Finanzierung des Ersten Weltkriegs und der enormen Staatsverschuldung bewältigen musste, um die wirtschaftlichen Verhältnisse zu stabilisieren.

Nach dem Stopp der Hyperinflation und dem allmählichen Einsetzen eines wirtschaftlichen Aufschwungs entwickelten viele Menschen so etwas wie ein neues Lebensgefühl. Sie besuchten jetzt Theater und Kinos, in denen etwa Dramen von Bertolt Brecht (Im Dickicht der Städte) oder Filme von Fritz Lang (Metropolis) aufgeführt wurden, zogen sich dazu modern an und trugen neuartige Frisuren – die Damen ließen sich einen Bubikopf schneiden, und die Herren trugen einen Seitenscheitel bei streng nach hinten gekämmtem Haar.

Beendet wurde diese kurze Blütezeit vor allem der deutschen Kunst, Kultur und Wissenschaft durch globale Ereignisse, unter denen die Weltwirtschaftskrise herausragt, die 1929 von dem Zusammenbruch der Börsen an der Wallstreet in New York ausgelöst wurde. Das erneute Elend, das sich anschließend in den Städten ausbreitete, radikalisierte die Menschen stärker als je zuvor und legte durch zunehmende soziale Spannungen einen wesentlichen Grund für den Aufstieg der Nationalsozialisten.

Zwischen 1924 und 1928 fand aber neben dem kulturellen Aufschwung ein radikaler wissenschaftlicher Umschwung statt. Die von Planck, Einstein und Bohr in die Wege geleitete frühe Quantentheorie – eine Theoretische Physik im alten Stil, nur mit Quantensprüngen – häutete sich und brachte eine Quantenmechanik zum Vorschein, eine Theoretische Physik in einem radikal neuen Stil. Einige amerikanische Historiker sehen gar einen Zusammenhang zwischen der Weimarer Republik und dem Aufkommen der Quantenmechanik mit ihrer ungewohnten Beschreibung der Atome, nicht zuletzt deshalb, weil die gewohnte Denkform der kontrollierten Kausalität keinen Bestand mehr erkennen lässt und sich auch andere Gewissheiten auflösen, die es in der Monarchie noch gegeben hat. Es ist Niels Bohr, der sich von 1927 an ernsthaft bemüht, die Physik von der zu strengen Fessel der Kausalität zu befreien und den Gedanken der Komplementarität in die philosophische Debatte einzuführen.

Bohr hatte bereits 1924 versucht, radikal zu sein, als er sich in einer Publikation zusammen mit Hendrik Kramers und dem amerikanischen Chemiker John C. Slater auf den Gedanken einließ, dass der Satz von der Erhaltung der Energie – die starke Säule der Physik seit fast achtzig Jahren – aufgeweicht werden kann und statistische Lücken erlaubt. Vielleicht konnte Energie ja doch in winzigen Mengen spontan erzeugt werden, wie Bohr anzunehmen riskierte. Mit diesem unkonventionellen Vorschlag praktizierte Bohr, was er später seinen Mitarbeitern immer wieder empfehlen würde: sich verrückte Dinge auszudenken, weil man nur mit ihnen zu den Atomen vordringen könne. Doch bald erwies sich diese Annahme als Irrtum; ein Irrtum allerdings, mit dessen Hilfe kurz danach herausgefunden werden konnte, wie Atome wirklich zu beschreiben sind und mit welchen Überraschungen derjenige rechnen muss, der dabei tatsächlich Erfolg hat.

Natürlich entstanden solche Hirngespinste in Kopenhagen nicht willkürlich, sondern vor dem Hintergrund von Beobachtungen der experimentell tätigen Physiker. Zu ihnen gehörten zum einen die genauen Messungen des radioaktiven Zerfalls, des sogenannten Beta-Zerfalls, bei dem Elektronen aus dem Inneren der Atome zu kommen schienen, und zwar so, dass ihnen dabei Energie abhandengekommen sein musste. Zum anderen die Messungen des amerikanischen Physikers Arthur Compton, der 1922 bei Streuungen von Röntgenstrahlen an Metalloberflächen bestätigen konnte, was Albert Einstein bereits 1905 vorgeschlagen hatte: dass sich Licht nicht allein als Welle verstehen lässt, sondern sich darüber hinaus wie ein Partikel (Teilchen) verhält. Diese Lichtteilchen – Atome des Lichts – hießen inzwischen Photonen, und Einstein hatte für ihre Auffindung 1921 den Nobelpreis für Physik bekommen. Woraus aber nicht folgte, dass Bohr sich mit den Lichtquanten anfreunden konnte. Im Gegenteil, er wollte sie nicht akzeptieren und versuchte in einer Art Verzweiflungsakt die Energieerhaltung zu opfern, um das Licht weiterhin als Welle gelten zu lassen.

Anfangs hatte Bohr ein Argument auf seiner Seite: Das Gesetz von der Energieerhaltung war nämlich nie im Bereich der Atome überprüft worden, und vielleicht gab es auf dieser Ebene tatsächlich auf irgendeine verrückte Weise keine strikte Gültigkeit, sondern nur eine, die sich im statistischen Mittel zeigt und entsprechend auswirkt. Einstein widersprach Bohr. Der Begründer der Relativitätstheorie brauchte festen Boden unter seinen Füßen und glaubte daher lieber an eine durchgängige Gültigkeit, was 1925 dann durch experimentelle Überprüfungen festgeschrieben wurde und Bohr in dieser Beziehung zum Rückzug zwang.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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