»Licht und Leben« – ganz grundsätzlich
In seiner Kölner Rede von 1962 ging Bohr zwar auf viele moderne Einsichten der Biologie nach 1932 ein, er kommentierte aber leider weder Delbrücks Wende zur Wahrnehmung, noch ging er seinen frühen konkreten Hinweisen – wie etwa denen zur Bedeutung der Quanten beim Sehen – weiter nach. Er äußerte jedoch eine tröstliche Zuversicht: »Das Leben wird immer ein Staunen sein; aber die Balance zwischen dem Staunen und dem Mut, nach Verständnis zu streben, ist es, die sich verschiebt.«
Außerdem erinnerte er an eine zentrale Überzeugung, die er zuerst 1932 in Kopenhagen vorgetragen hatte, die er in Köln bekräftigte und die an die Zeit anknüpft, als er in jungen Jahren den biologischen Gesprächen seines Vaters zugehört hatte. Diese Überzeugung besteht darin, »dass das Vorhandensein von Leben an sich als eine Grundtatsache in der Biologie angenommen werden müsse, im gleichen Sinne wie das Wirkungsquantum in der Atomphysik als ein Grundelement betrachtet werden muss, das nicht auf klassische physikalische Begriffe zurückgeführt werden kann«.
In der ursprünglichen Fassung von »Licht und Leben« aus dem Jahr 1932 hatte Bohr diesen Gedanken ähnlich ausgedrückt, wobei er ihn im Anschluss an die Frage vorgestellt hatte, ob eine physikalische Untersuchung (von toter Materie) und eine biologische Untersuchung (von lebender Materie) überhaupt verglichen werden können. Immerhin gibt es für »die Notwendigkeit, das Untersuchungsobjekt am Leben zu halten«, in der Physik kein Gegenstück. Daraus zog Bohr eine Lehre, die im Folgenden ausführlich zitiert wird, um zu zeigen, wie vorsichtig er sich schriftlich auszudrücken pflegte. Er wollte keine Sätze publizieren, die man als falsch erkennen konnte.
In Bohrs Sicht und Worten
würden wir zweifellos ein Tier töten, wenn wir versuchten, eine Untersuchung seiner Organe so weit durchzuführen, dass wir den Anteil der einzelnen Atome an den Lebensfunktionen angeben könnten. In jedem Versuch an lebenden Organismen muss daher eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die physikalischen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, bestehen bleiben; und es drängt sich der Gedanke auf, dass die geringste Freiheit, die wir in dieser Hinsicht den Organismen zugestehen müssen, gerade groß genug ist, um ihnen zu ermöglichen, ihre letzten Geheimnisse gewissermaßen vor uns zu verbergen. Von diesem Gesichtspunkt aus muss die Existenz des Lebens als eine Elementartatsache aufgefasst werden, für die keine nähere Begründung gegeben werden kann und die als Ausgangspunkt für die Biologie genommen werden muss, in ähnlicher Weise, wie das Wirkungsquantum, das vom Standpunkt der klassischen mechanischen Physik aus als ein irrationales Element erscheint, zusammen mit der Existenz der Elementarpartikel die Grundlage der Atomphysik ausmacht. Die behauptete Unmöglichkeit einer physikalischen oder chemischen Erklärung eigentlicher Lebensfunktionen dürfte in diesem Sinne analog zu der Unzulänglichkeit der mechanischen Analyse für das Verständnis der Stabilität der Atome sein.
Bohr beschäftigte die Frage, ob es im und für das Leben eine »eindeutige Kausalbeziehung der Phänomene« gibt, ob also ein mechanisches Verständnis des Organischen möglich ist. In seinem Vortrag erinnert Bohr daran, dass in der Physik eine »Kausalbeschreibung im klassischen Sinne nur in solchen Fällen durchgeführt werden« kann, »wo die infrage kommende Wirkung groß ist im Verhältnis zum Wirkungsquantum [also der bei einem Eingriff unvermeidliche Einfluss auf das Leben unmerklich bleibt] und wo daher die Phänomene unterteilt werden können, ohne wesentlich gestört zu werden«. In beiden Fällen passiert etwas, das der traditionellen Denkweise des naturwissenschaftlichen Vorgehens, die von Subjekten unter dem Stichwort der Objektivität gefeiert wird, entgegensteht. Unter dieser Objektivität hat man das Ziel der Wissenschaft verstanden, die Welt zu beschreiben, ohne dabei das verstehende Subjekt zu erwähnen. In der Quantenphysik war dieses Ideal verschwunden, da sich deren Objekte als unbestimmt erwiesen, bis eine Messung – eine Frage durch ein handelndes Subjekt – unternommen wurde. Die Bestimmung eines Elektrons oder eines Photons fällt also einem Subjekt zu, was in Bohrs Verständnis auch bedeutet, dass es keine »von den Beobachtungsmitteln unabhängige Existenz der Phänomene gibt«. Diese den Menschen zuerst in der Atomphysik begegnende »fundamentale Begrenzung unserer gewohnten Vorstellung« einer objektiven Wirklichkeit hat Bohr versucht, mit dem Wort Komplementarität in den Griff zu bekommen. Es stellt das dar, was er gern die Lektion der Atome nennt.