»Mozart, die Quantenmechanik und eine bessere Welt«

Zu den Physikern, die Bohr gut gekannt und mit seinen Ideen sympathisiert haben, gehört nicht zuletzt der aus Wien stammende Victor Weisskopf (1908–2002), der in den später 1920er Jahren, als Bohr den Gedanken der Komplementarität erfasst hatte, zu Gast am Kopenhagener Institut war und dort bei einem Fest seine spätere Frau kennenlernte. Dem letzten Kapitel seiner Autobiographie gab er den Titel »Mozart, die Quantenmechanik und eine bessere Welt«. Der ausgezeichnet Klavier spielende Weisskopf drückt mit diesen Worten zunächst ganz einfach das Glückgefühl aus, das jemand erfahren kann, der wie er sowohl mit Mozarts Musik als auch mit der Quantenmechanik virtuos umgehen kann – eine beneidenswerte Konstellation, wie sie nur wenigen vergönnt ist.

Viele Menschen werden sich jedoch eher irritiert zeigen, wenn die Physik in Zusammenhang mit Glück erwähnt wird, und sie werden genauer wissen wollen, wie mit der abstrakten Theorie namens Quantenmechanik dasselbe Erlebnis möglich werden soll, das Mozarts sinnlich fassbare Musik bereitet. Diese Frage bringt uns an die zentrale Stelle sowohl unserer Kultur als auch ihrer Vermittlung. Dabei wird ein Gedanke wichtig, der bereits in der besseren Welt steckt, die in Weisskopfs Kapitelüberschrift genannt wird. Gemeint ist der Gedanke der Komplementarität.

Wie Bohr es verstanden hatte, soll dieser Gedanke aus dem Bereich des Erkennens herausgeholt und auf die Lebensführung übertragen werden, bei der wir stets zwischen rationalen Erwägungen und irrationalen (emotionalen) Neigungen zu vergleichen haben – die Grundidee kann also auf moralische Fragen ausgeweitet werden. Der Gedanke der Komplementarität legt den Vorschlag nahe, die Balance zwischen den beiden Polen zu halten, um nicht zu einer Seite abzustürzen. Wir würden in einer besseren Welt leben, wenn wir uns stets daran erinnern würden, dass es zu jeder Ansicht von uns die eines anderen gibt, die ihr auf Augenhöhe widerspricht und damit ebenso Gültigkeit beanspruchen kann. Die bessere Welt ist die des Dialogs von komplementären Gegenübern. Dazu gehören auch Kunst und Wissenschaft.

Es wird niemanden überraschen, wenn an dieser Stelle der Standpunkt vorgetragen wird, dass die damit benannten großen Unternehmungen des Menschen komplementär zueinander sind. Wichtig an dieser Feststellung ist vor allem, dass sie der verbreiteten Ansicht wenig Bedeutung beimisst, Wissenschaft und Kunst als zwei unabhängige Tätigkeitsfelder des Menschen ohne gegenseitigen Bezug zu betrachten. Wir trennen sie bedenkenlos mit der Folge, dass sich die Vertreter der beiden Sphären des Geistes oft gleichgültig und verständnislos gegenüberstehen. Die beiden maßgeblichen Felder unserer Kultur hängen vielmehr in der Tiefe zusammen, wie es unter anderem Albert Einstein einmal in einer Radioansprache aus den 1930er Jahren ausdrückte: »Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Es ist das Grundgefühl, das an der Wiege von wahrer Wissenschaft und Kunst steht.«

Wer – wie Einstein es getan hat – den doppelten Charakter von Licht erfasst und versteht, dass es sich als Welle und Teilchen zu erkennen geben kann, weiß jetzt vor allem, dass Licht geheimnisvoll bleibt. Denn wenn etwas einmal Welle und einmal Teilchen ist, dann kann man eben nicht mehr mit einem Bild sagen, was es wirklich ist. Das Licht wird dann zu einem Kunstwerk, zu einem unauflösbaren Geheimnis auch für die Wissenschaft, und das ist das Schönste, was einem passieren kann.

Wie eng und fest das kulturelle Paar Kunst und Wissenschaft zusammenhängt, hat der amerikanische Schriftsteller Raymond Chandler durch eine wunderbare Formulierung ausgedrückt, die sich als Eintrag vom 19. Februar 1938 in seinen Notizbüchern findet. Dort heißt es:

Es gibt zwei Arten von Wahrheit: die Wahrheit, die den Weg weist, und die Wahrheit, die das Herz wärmt. Die erste Wahrheit ist die Wissenschaft, und die zweite ist die Kunst. Keine ist unabhängig von der anderen oder wichtiger als die andere. Ohne Kunst wäre die Wissenschaft so nutzlos wie eine feine Pinzette in der Hand eines Klempners. Ohne Wissenschaft wäre die Kunst ein wüstes Durcheinander aus Folklore und emotionaler Scharlatanerie (»emotional quackery«). Die Wahrheit der Kunst verhindert, dass die Wissenschaft unmenschlich wird, und die Wahrheit der Wissenschaft verhindert, dass die Kunst sich lächerlich macht.

Chandler musste als Autor von Kriminalromanen sowohl wissen, welche Dosis einen Stoff zum Gift macht, als auch fähig sein, aus dem Rohstoff des Verbrechens die Verführung der Literatur werden zu lassen. Seine Gegenüberstellung von Lächerlichkeit und Menschlichkeit soll zeigen, dass Kunst und Wissenschaft gleichberechtigt sind. Der »große Gedanke«, wie Chandler seine Einsicht selbst nannte, soll aber auch ausdrücken, dass wir die Wissenschaft besser verstehen, wenn wir sie nicht anonymen Kollektiven in anonymen Laboratorien zuschreiben, sondern in ihr dieselben kreativen Individuen am Werk sehen, die wir in der Kunst ganz selbstverständlich erwarten. Und er soll uns weiter zu verstehen geben, dass wir der Kunst näher kommen können, wenn wir etwas von den rational zugänglichen und nachvollziehbaren Gedanken erfahren, die Schriftsteller, Komponisten, Maler oder Bildhauer an- und umtreiben müssen, bevor sie ihr schöpferisches Tun beginnen oder während sie an ihren Werken arbeiten.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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