Die Frühjahrstagungen
In dem von Bohr errichteten Haus der Wissenschaft fanden von 1929 an Zusammenkünfte statt, die entweder als »Physikertreffen«, als »Kopenhagen-Konferenz« oder als »Frühjahrstagung« bezeichnet wurden. Der Plan zu solchen Treffen war mehr oder weniger spontan gereift, und zwar als zu Beginn des Jahres 1929 plötzlich mehrere Physiker, die einmal mit Bohr zusammengearbeitet hatten, für die Osterferien ihren Besuch in Kopenhagen ankündigten. »Es passte zu Bohrs väterlicher Haltung, dass dieses zufällige Zusammentreffen der Besuche ihn dazu bewegen sollte, eine vollständige Familienkonferenz einzuberufen«, wie Léon Rosenfeld in Erinnerung an die erste Konferenz in Kopenhagen schreibt.
Der aus Belgien stammende Physiker gehörte viele Jahre hindurch zu Bohrs vertrauten Mitarbeitern, was bedeutete, dass er einer von Bohrs bevorzugten Gesprächspartnern war – wobei das Reden meist Bohr überlassen blieb und Rosenfeld oder jemand anderes die Aufgabe zu übernehmen hatte, die Gedanken, die dabei verständlich wurden, zu notieren. Solche einseitigen Dialoge stellten Bohrs bevorzugte Art des Arbeitens oder Nachdenkens dar. Er benötigte jemanden, den er ansprechen konnte und der ihm Anregungen geben konnte, von denen aus sich seine Gedanken erneut auf ihre Bahn machten, ohne jemals an einem Ziel – einem klaren Ausdrücken der Wahrheit – anzukommen. Für Bohr war, taoistisch gesprochen, der Weg das Ziel, und er führte eigentlich immer wieder an den Anfang zurück, der natürlich im Dunkel liegen blieb.
Da es um das Denken und seinen Weg auf der Suche nach einem Verständnis elementarer Gegebenheiten wie der Stabilität der Materie ging, also nicht um fertige Ergebnisse, sondern um ein Begreifen dieser Ergebnisse, legte Bohr fest, dass es auf der Frühjahrstagung kein striktes und strukturiertes Programm geben, sondern dass jeder Teilnehmer die Gelegenheit erhalten sollte, das Thema oder die Frage anzusprechen, die ihm gerade auf dem Herzen lag. Bohr, der es sich nicht nehmen ließ, die anreisenden Physiker persönlich am Bahnhof zu begrüßen, fragte jeden Einzelnen nach seinen Wünschen. Er selbst sprach beispielsweise auf der Tagung 1929 über den Spin von Elektronen und wunderte sich, ob und wie sich diese besondere physikalische Eigenschaft der Materie beobachten lasse.
Der Spin war in diesen Tagen insofern in aller Physiker Munde, da es im Jahr zuvor dem britischen Theoretiker Paul Dirac (1902 bis 1984) auf höchst elegante Weise gelungen war, die beiden großen neuen Gebiete seiner Wissenschaft, Einsteins Relativitätstheorie und Heisenbergs und Schrödingers Quantenmechanik, zusammenzuschnüren und in Form einer Gleichung zu präsentieren. Man spricht heute von der Dirac-Gleichung, mit deren Aufstellung die allgemeinen Grundlagen der Atomphysik vorliegen, die damals noch überprüft und verstanden werden mussten. Vermutlich drängten aus diesem Grund im Frühjahr 1929 so viele Physiker nach Kopenhagen. Sie wollten von Bohr hören, was er davon hielt und wie er die alles abzuschließen scheinende Leistung von Dirac bewertete, dessen Gleichung unter anderem abzuleiten erlaubte, was vorher von Pauli intuitiv erfasst und postuliert worden war. Gemeint ist der Elektronenspin, der erstaunlicherweise ganz einfach aus Diracs Gleichung herausfiel. Kein Wunder, dass Bohr sich in seinem Beitrag auf der ersten Frühjahrskonferenz damit beschäftigte, ohne allerdings die entsprechende Physik wesentlich weiterzubringen.

Kopenhagener Frühjahrskonferenz 1930. In der ersten Reihe sitzen Niels Bohr (2. v. links), Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli und George Gamow.
In den folgenden Jahren kamen um die Osterzeit immer wieder Wissenschaftler aus der ganzen Welt im Hörsaal des Instituts für Theoretische Physik am Blegdamsvej zusammen, um ihre sonderbaren und oftmals unzumutbaren Ideen vorzustellen und um zu überprüfen, ob sie verrückt genug waren, um für die Wirklichkeit der Atome tauglich zu sein. Zweifellos gehörte wie immer Mut dazu, von der Freiheit Gebrauch zu machen, die die Frühjahrstagungen ihren Teilnehmern ließen. Auch wenn viele durchschnittlich begabte Physiker vermutlich wenig Neigung verspürten, sich dem Gericht ihrer genialen Kollegen zu stellen, so nahm die Zahl der Teilnehmer an den Frühjahrstagungen ständig zu.
Von Anfang an wurde es zur Gepflogenheit, ein Foto der Teilnehmer zu machen. Meistens sieht man darauf – neben Bohr, der sich am Rand aufhält – Heisenberg und Pauli in der ersten Reihe sitzen; sie war offenbar den besonders erfolgreichen jungen Wissenschaftlern vorbehalten. Auf dem Foto, das auf der Tagung im Jahr darauf gemacht wurde, sieht man, dass auf der Bank vor den beiden Kinderspielzeug liegt: vor Heisenberg eine kleine Trompete und vor Pauli eine kleine Kanone. Diese Gegenstände sollten von ihnen benutzt werden, falls sie der Ansicht waren, dass der Vortragende so viel Verrücktes von sich gab, dass es falsch war – oder wie Pauli es auszudrücken pflegte: »Was Sie da sagen, ist nicht nur nicht richtig, es ist nicht einmal falsch« –, also reiner Quatsch.
Ihren Höhepunkt erreichten die Kopenhagener Frühjahrstagungen wahrscheinlich im Jahr 1932, als es zum einen Goethes hundertsten Todestag zu feiern und zum anderen eine aufsehenerregende Entdeckung zu bestaunen galt: die im Februar 1932 durch den Briten James Chadwick (1891–1974) erfolgte Bekanntgabe von der Existenz eines dritten – neutralen – Basisteilchens, das als Neutron neben die beiden bekannten Ladungsträger Elektron und Proton trat. Die Physikergemeinde war elektrisiert und sprach vom Neutronenzauber, der nun neue Vorstellungen für den Aufbau und die Festigkeit des Atomkerns ermöglichte. Mit anderen Worte: Nach dem Atom-begann jetzt bereits das Kernzeitalter.
Was die Feier von Goethes Todestag anbelangt, so sei daran erinnert, dass es damals in Gelehrtenkreisen – dänische, niederländische, ungarische und russische Gelehrte mit eingeschlossen – zur Allgemeinbildung gehörte, den Faust zu kennen. Das hieß auch, lange Passagen daraus auswendig aufsagen zu können. Dies vermochten etwa der damals zwanzigjährige Carl Friedrich von Weizsäcker und der sechsundzwanzigjährige Max Delbrück, die sich aus der gemeinsamen Zeit im Berliner Laboratorium von Lise Meitner kannten. Es waren wohl die beiden, die auf die Idee kamen, eine eigene Version von Goethes Faust für die Kopenhagener Tagung von 1932 zu schreiben, die dann – vermutlich vor allem dank Delbrücks Ideen und Reimen – tatsächlich auch realisiert und aufgeführt wurde.
Delbrück und seine Mitarbeiter hatten ein etwa zwanzig Seiten starkes Manuskript produziert, das mit zahlreichen lustigen Zeichnungen geschmückt war und an die Teilnehmer der Konferenz verteilt wurde. In dem Kopenhagener Faust wurde Bohr natürlich die Rolle des Herrn übertragen, der von seinem Himmel aus so manches überwacht. Wolfgang Pauli schlüpfte in die des Mephisto, während im Faust selbst der holländische Physiker Paul Ehrenfest zu erkennen war. Heisenberg erschien nur im Chorus Mysticus, der das ganze Spiel mit folgenden Worten beschließt:
Alles Geladene / ist nur ein Gleichnis! / Das oft Missratene, / Hier wird’s Ereignis! / Das Phänomenale, / Hier ist’s getan! / Das Ewig-Neutrale / Zieht uns hinan.
Mit dem Neutralen ist natürlich das gerade entdeckte Neutron gemeint, von dem ein »idealer Experimentator« namens Wagner verkündet:
Neutron, es schwankt heran, / Masse, sie lastet dran, / Ladung, sie ist vertan, / Pauli, er glaubt daran.
Was den angesprochenen Teufel antworten lässt:
Gerettet ist das edle Glied / Der Geisterwelt vom Bösen. / Wer experimentierend sich bemüht, / Den können wir erlösen. / Und hat an ihm die Rechnung gar / Doch heimlich teilgenommen, / Begegnet ihm die edle Schar / Mit herzlichem Willkommen!
Zuvor war es natürlich um die bekannte Wette gegangen, bei der Mephisto (Pauli) versuchen sollte, dem Kopenhagener Faust (Ehrenfest) mit einer passenden Theorie den Augenblick zu verschaffen, in dem er verweilen und sich zufriedengeben möchte. Es gelang, wobei die Frage, was eine passende, zutreffende Theorie ist, nicht durch die Fachwelt, sondern – ganz modern – durch die Presse – Reporter und Fotografen – entschieden wurde. Faust starb mit den Worten:
Es bleibt die Spur von meinen Erdentagen / Doch in den Zeitungen bestehn! / Im Vorgefühl von solchem hohen Glück, / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick!
Und er wurde von den Presseleuten weggetragen.