»Gegensätze sind komplementär«
Niels Bohr trat sein wissenschaftliches Leben lang vehement und unermüdlich für einen Gedanken ein, den er »Komplementarität« nannte. Die Idee der Komplementarität sollte ausdrücken, dass zu jeder einleuchtenden Erklärung einer Frage oder Tatsache, die etwas als Ganzes erfasst, eine zweite gehört, die gleichberechtigt neben ihr zu stehen hat, auch wenn sie auf Anhieb wie der Widerspruch der ersten erscheint. Gegensätze sind komplementär und fügen sich zu einem Ganzen – dem »completum« – zusammen. Das Licht versteht zum Beispiel nur vollständig, wer die auf den ersten Blick einander ausschließenden Vorstellungen von Welle und Teilchen bemüht und beide zu ihrer Zeit einsetzt. Und was Farben sind, versteht nur umfassend, wer sich sowohl wie Isaac Newton im frühen 18. Jahrhundert auf ihre physikalischen Aspekte – ihre Wellenlängen und materiellen Grundlagen – als auch wie Johann Wolfgang von Goethe im frühen 19. Jahrhundert auf ihre sinnlichen Qualitäten mit den dazugehörigen Empfindungen einlässt. Bohrs Gedanke geht tief, er braucht Gewöhnung und macht Mühe, wie das Beispiel von Goethe zeigt, der die Ansichten Newtons nicht akzeptieren konnte und heftig gegen sie polemisierte.
Bohr selbst fand sein komplementäres Gegenstück in der Gestalt von Albert Einstein, wobei die beiden Giganten der Physik ihrer Zeit sich mit großem Respekt begegneten, da sie verstanden, dass ihre Argumente als gleichberechtigte aufeinanderprallten.
Einstein erkannte in dem Dialog mit Bohr sehr genau, dass der Däne seine Ansichten immer als jemand formulierte, der noch tastend suchte und immer neu danach fragte, was sich über die Natur sagen lässt. Bohr agierte niemals als einer, der glaubte, definitiv im Besitz der Wahrheit zu sein. Und er zweifelte auch hartnäckig daran, dass sein jeweiliger Gegenspieler diesen Anspruch erheben und seine Ansicht als die allein zutreffende vertreten könne.
Bei Bohr blieb die Wahrheit offen. Seine Laune stieg und jede Müdigkeit verflog, wenn er sich im Gespräch auf neue Wege begeben konnte, um ein Gelände zu erreichen, von dem aus ein weiterer Blick auf das anvisierte Ziel einer umfassenden Darstellung des Wirklichen zu werfen war. Seine Gesprächspartner brachte Bohr damit oft zur Verzweiflung. Aber er tat dies mit einem derart freundlichen Lächeln und offenem Herzen, dass er von allen geschätzt und geliebt wurde, von seinen physikalischen Freunden und Schülern ebenso wie von seinen philosophischen Gegnern. Die im Gespräch mit ihm spürbare Intensität des Denkens war unwiderstehlich und übertrug sich auf den Partner.
Saß man Bohr gegenüber, so hat es Carl Friedrich von Weizsäcker dem Autor einmal erzählt, beeindruckten besonders seine unter buschigen Brauen sitzenden Augen. Sie schienen genau auf die Dinge zu blicken und zugleich durch sie hindurch in eine unergründliche Ferne – ganz im Sinne der Komplementarität, die ein Wechselspiel von innen und außen annimmt. Bohr sah seine Mitmenschen zugleich zurückhaltend scheu und gütig zugewandt an, wie viele seiner Gesprächspartner berichtet haben.
Bohr wollte immer lernen. Und er wusste, dass man immer etwas lernen konnte. Er wusste, dass man bald nichts mehr begreifen würde, wenn man mit dem Lernen aufhörte, etwa weil man glaubte, die Atome würden sich dem Verstehen grundsätzlich entziehen. Um hier weiterzukommen, musste man zum einen bereit sein, den Antworten der Natur im Experiment zu vertrauen, und sich von intuitiven Modellen lösen. Und man musste zum Zweiten den Mut haben, auch scheinbare Verrücktheiten zu durchdenken, die der eigenen Vorstellungskraft entsprangen und möglicherweise dennoch in der Lage waren, die Natur wissenschaftlich zu erklären. Bohr meinte nicht, dass die Menschen die Natur so verstehen könnten, wie sie es gerade wollen. Er hoffte aber, beim Umgang mit den Atomen über die Physik hinaus etwas lernen zu können und bei diesen Bemühungen womöglich zu erfahren, was es im umfassenden und anspruchsvollen Sinne heißen kann, dass wir etwas »verstehen«.
Wenn man etwa die Atome so erfassen will, dass damit die Materie erklärt werden kann, von der aus man zu den Atomen gelangt ist, dann dürfen die Atome selbst keine Materie sein, wie der Student Bohr bereits erkannt hatte. Dies machte ihm Mut, bei dem Entwurf seines frühen Atommodells physikalische Gegebenheiten aufzunehmen, die mit der Materie nur noch korrespondierten, ohne bereits zu ihr zu gehören. Auf diesem Wege lernte er, sich ganz von bestehenden Wirklichkeitsannahmen zu lösen, um im Innersten der Welt die Möglichkeiten auszumachen, aus denen die Dinge letztlich bestehen und mit denen alles beginnt.
Lernen beruht auf Gegenseitigkeit. Bohr wurde entsprechend durch Widersprüche ermutigt. Sie gehörten für ihn untrennbar zum Denken dazu. Hatte man nicht erst dann etwas verstanden, wenn man sich auf beiden Seiten erkundigt und sich anschließend aufeinander zubewegt hatte? Konnte man Widersprüchlichkeiten nicht dadurch fruchtbar machen, dass man sie nicht nur aushielt, sondern ihre Spannung ausnutzte? Mit These und Antithese war wunderbar zu jonglieren, vor allem wenn man nicht bei der Synthese stehen bleiben wollte, sondern sie als neue These verstand und mit ihr den offen bleibenden Prozess des Lernens fortsetzte, für den die deutsche Sprache den Ausdruck »Bildung« bereitstellt.
Bohr war ein Mann mit einem außergewöhnlichen Sinn für Gerechtigkeit. Er wollte die Standpunkte von Menschen so ernst wie möglich nehmen und sie zugleich versöhnen. So gelangte er zu seiner Vorstellung der Komplementarität, von der er hoffte, sie könne den Menschen – besser als eine Religion, die die Wahrheit zu kennen vorgibt – eine Orientierung geben, die sie leitet, wenn sich im widersprüchlichen Wissen keine Klarheit zeigt. Diese Idee war sein Vorschlag zur Lösung scheinbar unüberwindlicher Probleme, die auf unversöhnlich wirkenden Gegensätzen beruhten.
»Contraria non contradictoria sed complementa sunt.« Gegensätze widersprechen sich nicht, sie ergänzen sich zu einem einheitlichen Ganzen, sie sind komplementär. Diesen Satz in lateinischer Sprache schrieb Bohr am 8. Mai 1961, mitten im Kalten Krieg, auf eine Tafel in der Moskauer Lomonossow-Universität, als er in der UdSSR zu Besuch war und nicht nur Vorlesungen hielt, sondern den dort tätigen Physikern auch seine Kooperation anbot. Bereits ein Vierteljahrhundert zuvor hatte Bohr darum gebeten, den ihm damals verliehenen ältesten dänischen Verdienstorden – den von seinem König überreichten Elefantenorden – mit dem Leitspruch »Contraria sunt complementa« zu versehen. Die Betonung liegt auf den Gegensätzen. Sie können gerade bei vernünftigen Antworten auf bedeutende Fragen auftreten, wie man seit den Tagen der Romantik weiß, aber zu wenig ernst nimmt. Widersprüche sollen aber nicht verwischt werden; die Versöhnung besteht nicht in einem Übermalen oder einem Ignorieren von Gegensätzen, sie besteht – im Gegenteil – in der Betonung und Befürwortung des Anderen.
Eine versöhnende Komplementarität dieser Art ist – auf höherer Ebene – überall möglich. 1912 versöhnte Bohr Rutherfords Experimente mit den klassischen theoretischen Vorstellungen. Das Ergebnis zeigte sich – nach einem Aufstieg in schwierigem Gelände – als Quantenmechanik. Sie vereinte das beobachtete Objekt mit dem subjektiven Beobachter. Beide – Subjekt und Objekt – finden und kommen im Phänomen zusammen und bilden dabei ein neues Atom, ein übergeordnetes Unteilbares, eine untrennbar zusammengehörende Einheit. Mit seinen offenen Überlegungen zur Komplementarität kittete Bohr den Schnitt, den René Descartes vor mehr als dreihundert Jahren zwischen Subjekt und Objekt gezogen hatte, um die Menschen in die Lage zu versetzen, eine Welt zu beschreiben, ohne dass sie als handelnde Beobachter in ihr auftauchten. Bohr wollte sich nicht damit zufriedengeben, zwischen einer wirklich vorhandenen und gegebenen Sache (der res extensa) und ihrer sinnlichen Wahrnehmung (der res cogitans) zu unterscheiden und Geist und Materie ausschließlich als Gegensätze zu betrachten, die nebeneinanderstehen, aber nichts miteinander zu tun haben. Beide sind aber auch nicht ein und dasselbe. Sie stellen sich Bohr zufolge als komplementäre Gegebenheiten dar, die wir in uns vereinen.
Auch der von Descartes proklamierte Gegensatz zwischen einer inneren und einer äußeren Realität ist nur Illusion. Gerade die Quantenmechanik hat deutlich gemacht, dass es nur eine Wirklichkeit gibt, auch wenn sie wie eine Münze zwei Seiten hat. In jedem Experiment müssen sich handelnde Menschen entscheiden, welchen Aspekt dieser Realität sie beobachten wollen. Sie können sich frei entscheiden, aber entscheiden müssen sie sich, auch wenn sie daraufhin nicht mehr frei, sondern an die Folgen der Entscheidung gebunden sind. Diese Erkenntnis findet sich übrigens schon bei Goethe, wenn er im Faust das »Gesetz der Teufel und Gespenster« erklären lässt, das lautet: »Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte.«
Die Physik Bohrs und seiner Mitstreiter hat gezeigt, dass die Wirklichkeit voller Möglichkeiten ist, für die man sich entscheiden kann. Die Kopenhagener Deutung stellt dem tatsächlich Seienden das nur der Möglichkeit nach Seiende gegenüber und stellt fest, dass beide zusammengedacht und komplementär behandelt werden müssen. Diese Offenheit der Welt müssen wir ebenso hinnehmen wie viele andere Dinge in ihr. Bohr selbst hat diesen Aspekt seiner Denkfigur betont. Wir müssen das Quantum der Wirkung ebenso hinnehmen wie die Existenz des Lebens an sich und sollten nicht darauf hoffen, sie elementar ableiten oder erklären zu können.
Auch unsere Gesellschaften müssen wir hinnehmen. Wenn wir sie und unsere Existenz verbessern wollen, können wir dies nicht einseitig tun – etwa mithilfe der Naturwissenschaften oder gegen sie. Es ist nur dann möglich, wenn wir komplementäre Standpunkte berücksichtigen, wenn wir also bereit bleiben, von anderen zu lernen. Bohr hat dies unermüdlich betont. Es sei nur möglich, »durch gegenseitiges Verständnis ein Mittel zur Hebung der menschlichen Kulturen zu schaffen«. Durch sein Leben und seine Forschungsleistung hat er die Wissenschaft in den Rang einer Kultur gehoben. Seine Haltung kann als Vorbild dienen.
Alles, was wir über die Atome wissen, haben wir von Bohr gelernt. Leider haben wir aber nicht alles begriffen, was er von den Atomen verstanden und uns zu sagen versucht hat. Unsere Zukunft ist offen, das Atomzeitalter dauert an. Wir tun gut daran, von Niels Bohr auch weiterhin lernen zu wollen.

Spätes Porträt von Bohr