Die traditionelle Trennung

Wir würden in einer besseren Welt leben, wenn sich Chandlers Gedanke allgemein verbreitet hätte und nicht das Gegenstück dazu so populär geworden wäre: die Rede von den zwei getrennten Kulturen, die zwei Jahrzehnte später – Ende der 1950er Jahre – durch den britischen Romancier und Physiker Charles P. Snow aufkam. Snow störte sich an der Überheblichkeit und dem Desinteresse vieler Intellektueller gegenüber technisch-industriellen Abläufen. In diesem Zusammenhang fiel Snow an der Universität Cambridge ein störendes Ungleichgewicht auf. Er brachte es auf eine griffige Formel, indem er die Sonette Shakespeares neben den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik stellte. Er verwies darauf, dass es zwar in bestimmten gebildeten Kreisen zum guten Ton gehöre, den erwähnten Hauptsatz der Wärmelehre für überflüssig und belanglos zu halten, während man zugleich jeden verachte, der sich nicht mit den Sonetten des elisabethanischen Dramatikers vertraut zeige. Tatsächlich zählt auch heute als ungebildet, wer Shakespeare nicht kennt, während man eher stolz darauf ist, von dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik noch nichts gehört zu haben.

Diese Asymmetrie durchzieht weite Bereiche der abendländischen Debatte um die Bildung. Sie erstreckt sich besonders auf das, was in Quizsendungen unter der Rubrik »Was man weiß, was man wissen sollte« zu finden ist. Jeder weiß, dass er etwas von Picassos »Rosa Periode« oder vom »Blauen Reiter« und seinen Malern wissen sollte. Aber niemand meint, dass es sich lohnt, ebenso über die Struktur der Doppelhelix, die Theorie der chemischen Bindung oder die Wirkungsweise von Antibiotika informiert zu sein und zu wissen, wem wir die diesbezüglichen Einsichten zu verdanken haben. Wer Arthur Schopenhauer nicht kennt oder nicht von ihm gehört hat, gilt als ungebildet. Wer hingegen Ludwig Boltzmann nicht einordnen kann, macht sich über diese Lücke keine Sorgen – und niemand hierzulande wird ihm dies übel nehmen. Dieses Gegenüberstellen könnte man unbegrenzt ausführen, da ein Buch, das Alles, was man wissen muss aufzählt – Bildung von Dietrich Schwanitz –, nicht zuletzt deshalb zu einem Beststeller geworden ist, weil es die Naturwissenschaften konsequent ausschließt.

Allerdings ließe sich einwenden: Natürlich nicken mehr Leute, wenn von den Sonetten Shakespeares gesprochen wird, und stets schütteln viele verständnislos ihr Haupt, wenn vom Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik die Rede ist. Doch obwohl jedes Publikum so reagiert, wie es Snow beschrieben hat, merken wir nicht, dass an dieser Stelle trotzdem etwas nicht stimmt. Es trifft meiner Erfahrung nach nämlich überhaupt nicht zu, dass jeder die Sonette und niemand die Hauptsätze der Thermodynamik kennt. Böse ausgedrückt könnte man behaupten, dass dem allgemeinen Publikum weder etwas zu den Gedichten noch zu den Gesetzen einfällt. Was bestenfalls zutrifft, lässt sich folgendermaßen formulieren: Zwar hat jeder von den Sonetten gehört, die Shakespeare geschrieben hat, trotzdem kennt oder versteht kaum jemand diese Texte genauer – eher noch weniger, als dies für den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik der Fall ist, dem zufolge eine physikalisch messbare Größe namens Entropie nur zunehmen kann.

An dieser Stelle fällt noch etwas anderes auf, nämlich die Tatsache, dass immer dann, wenn von Kunst gesprochen wird, der Name des Künstlers fällt, der mindestens ebenso bekannt ist – Mozart und Shakespeare in den hier angeführten Beispielen. Bei der Wissenschaft ist das nicht der Fall. Sie kommt ohne Namen aus. Weder bei der Quantenmechanik noch bei der Thermodynamik ist von den handelnden Personen die Rede, obwohl sie es verdient hätten. Tatsächlich wird uns sogar von höchster philosophischer Stelle aus unter dem Beifall der Intellektuellen im Feuilleton eingeredet, bei den Naturwissenschaften handele es sich um »eine anonyme, kollektive träge Bewegung«, wie es in George Steiners Grammatik der Schöpfung heißt, während die Kunst als eine Folge von unvergleichlichen Kreationen genialer Schöpfer gilt.

Wer so etwas schreibt – und wer so etwas lesend akzeptiert –, der verschließt seine Augen mutwillig vor den kreativen Prozessen, die für viele naturwissenschaftliche Entwicklungen konstitutiv sind. Sie bestehen keinesfalls aus schlichten Entdeckungen (im Sinne von Aufdeckungen bereits vorhandener Gegebenheiten), sondern erweisen sich bei näherem Hinschauen als ebenso freie Hervorbringungen des menschlichen Geistes, wie es die Kunstwerke sind. Dennoch denken wir bei den Naturwissenschaften eher an Inhalte (Quantenmechanik) und bei der Kunst eher an Menschen (Mozart). Da es nun zu den Eigenheiten der Menschen gehört, sich eher für Personalfragen als für Sachprobleme zu interessieren, entsteht der Eindruck, wir wüssten über die Kunst (via den Künstler) besser Bescheid als über die Forschung, die sich nur über ihre nicht immer leicht zugänglichen Gedankengebäude erschließt.

Wenn Wissenschaft die Popularität der Kunst im Rahmen der allgemeinen Bildung erlangen will, muss es ihr gelingen, ihre Protagonisten ebenso bekannt zu machen, wie es die Künstler bereits sind. Es gehört zu den wenig beachteten, aber trotzdem spannenden Fragen, warum es – abgesehen von Ausnahmen wie Albert Einstein und Stephen Hawking – Wissenschaftlern nicht einmal im Ansatz gelingt, den öffentlichen Bekanntheitsgrad zu erreichen, der für Künstler selbstverständlich ist.

Auf diese Weise bleiben die beiden Kulturen in der öffentlichen Meinung getrennt, obwohl wir sie als komplementäre Aktivitäten ansehen sollten. Schließlich finden wir in beiden Feldern das kreative Individuum, das die Mehrheit der anderen Künstler überragt, und eine beträchtliche Anzahl von handwerklich oft nicht weniger geschickten Menschen, die sich ebenfalls um ihre Produktion (ihr Werk) bemühen, ohne besonders aufzufallen oder zu gefallen.

Es könnte übrigens auch sein, dass die Antwort auf die Frage, warum sich die öffentliche Aufmerksamkeit und Verehrung so sehr auf eine bestimmte Person wie Mozart konzentrierten, komplementäre Aspekte zu beachten hat. Zum einen versteht man die Leistung eines Einzelnen nur im Kontext des kulturellen Umfelds, das ihn und das er bildet; zum anderen muss er hier die mittlere Position einnehmen, die der Komponist Hans Zender Mozart bescheinigt, wenn er schreibt: »Mozart scheint lächelnd im windstillen Zentrum jenes gewaltigen Hurrikans zu stehen, den das Ringen dieser Kräfte [zwischen dem alten barocken und dem neuen modernen Europa] entfacht hat. In seinem Werk blitzt einen Moment lang die Harmonie jener großen gegenstrebigen Fügung auf, die Europa als Kultur charakterisiert: das Alte zu bewahren und doch nicht vor der äußersten Umwälzung zurückzuschrecken; das Neue am Alten zu messen, aber auch das Alte immer wieder auf veränderte Weise zu sehen.« (zitiert nach Wolfgang Sander)

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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