Die doppelte Wirklichkeit

Es war dennoch alles sehr merkwürdig, was sich in der Sphäre der Atome abspielte, wie auch Einstein meinte, der die Doppelung der Natur des Lichts als Erster erkannt hatte. Da gab es zwei Theorien des Lichts, von denen eine mit Wellen operierte und die andere Quantenteilchen einsetzte, und zwischen beiden gab es keinerlei logischen Zusammenhang. Wellen waren keine Teilchen und Teilchen keine Wellen. Trotzdem mussten beide Vorstellungen gültig sein. Wie konnte das sein? Und was bedeutete das für die Wissenschaft namens Theoretische Physik?

Die Frage wurde noch dringender, als der junge französische Physiker Louis de Broglie (1892–1987) in seiner Doktorarbeit aus dem Jahr 1924 den Vorschlag machte, Einsteins Einsicht in eine duale Natur des Lichts zu erweitern und auf Elektronen und andere atomare Bestandteile auszudehnen. Auch materielle Gebilde sollten nach de Broglies wahrlich verrückten Vorschlägen die Eigenschaften sowohl von Wellen als auch von Teilchen zeigen.

Natürlich war der Gedanke einer doppelten Natur der Materie anfangs noch schwerer zu verkraften als der einer doppelten Natur des Lichts. Schließlich verfügen Elektronen nachweislich über eine wenn auch noch so winzige Masse. Trotzdem zeigte sich aber an dieser Stelle, dass unvermeidlich eine neue Sicht der physikalischen Dinge nötig wurde, vor allem nachdem bald in Experimenten gezeigt werden konnte, dass sich ein Elektronenstrahl tatsächlich genauso beugen lässt wie ein Lichtstrahl. Diese überraschende Beobachtung ermöglichte bald die Konstruktion von Elektronenmikroskopen, die ab den 1930er Jahren in Umlauf waren und mit Elektronenwellen so umgingen wie ihre Vorläufer mit Lichtwellen.

Die Zumutung der doppelten Dualität von Licht und Materie sollte noch im gleichen Jahr 1924 ergänzt oder gar übertroffen werden, als der aus Wien stammende Physiker Wolfgang Pauli (1900 bis 1958) die merkwürdige Idee vortrug, den drei Quantenzahlen für Elektronen von Bohr eine vierte hinzuzufügen, die wir heute als Spin kennen. Pauli dachte dabei höchst abstrakt an eine unanschauliche Markierung der Elektronen, die er und andere Physiker benötigten, um die Aufspaltungen von Spektrallinien zu erfassen; sie waren damals unter besonderen Umständen vor allem von Erdalkalimetallen her bekannt, in deren äußeren Schalen Bohr bei seiner Erklärung des Periodensystems freie Elektronen untergebracht hatte. Diese verfügten offenbar neben der Welle-Teilchen-Dualität noch über eine klassisch nicht verstehbare Zweiwertigkeit, wie Pauli seine Quantenzahl ausdrücklich bezeichnete (die er zunächst nur den Elektronen zurechnete). Der Spin stellte so etwas wie eine reine Quantenzahl ohne klassisches Vorbild dar, weshalb Pauli vorschlug, ihm halbe Zahlen zuzuordnen, und zwar + ½ und – ½. Diese Idee hatte tatsächlich Methode, denn bei einem Quantensprung von + nach – käme wieder das volle Quantum zum Tragen.

Paulis Spin hat sich durchgesetzt, weil sich mit seiner Hilfe verstehen ließ, wie chemische Bindungen zustande kommen. Wenn sich zwei Wasserstoffatome (H) zu einem Molekül H2 vereinen, dann sorgen die physikalischen Umstände dafür, dass das eine Elektron den Spin + ½ und das andere Elektron den Spin – ½ aufweist. Somit konnten die Physiker zu ihrer großen Freude nachweisen, dass diese Konfiguration energetisch günstig und stabil ist. Sie erwies sich sogar stabiler als zwei Wasserstoffatome, die für sich allein bleiben. Nun begriff man, weshalb in der Natur bevorzugt H2 zu finden ist. Die Physik konnte stolz auf sich sein, hatte sie doch mit dem Spin verstanden, warum chemische Bindungen stabil sind. Sie hatte die Bildung eines Moleküls erklärt, ohne es vorauszusetzen.

So funktionierte damals die Physik: Abwegige Ideen konnten plötzlich längst bekannte Tatbestände verständlich machen, was wiederum den Gedanken bekräftigte, dass an den zunächst unzumutbar scheinenden Ideen etwas dran sein musste und es sich lohnte, über sie nachzudenken. Zum Glück tauchte in dem ganzen Tumult und Durcheinander immer wieder ein systematischer Halt oder ein nachweisbarer Fortschritt auf, an dem man sich orientieren und neuen Mut schöpfen konnte. So wurde Bohrs Aufbauprinzip des Periodensystems mit der neuen Quantenzahl namens Spin viel durchsichtiger. (Bald stellte sich jedoch heraus, dass Paulis Zweiwertigkeit selbst auch wieder zweiwertig war. Neben den physikalischen Gebilden mit halbzählendem Spin gibt es reale Mitwirkende am atomaren Geschehen, deren Spin durch ganze Zahlen auszudrücken ist, zum Beispiel der Spin des Photons durch die Eins.)

Bohr und Pauli hatten sich 1922 in Göttingen – bei den »Bohr-Festspielen« – kennengelernt, und der Ältere war von dem Jüngeren sehr beeindruckt. Schon kurz darauf kam der aus Wien stammende und in seinen Studententagen als Wunderkind angesehene Pauli, der als Neunzehnjähriger einen buchlangen Beitrag über die damals selbst von gestandenen Professoren kaum verstandene allgemeine Form der Relativitätstheorie von Einstein geschrieben hatte, nach Kopenhagen zu Besuch. Pauli agierte anderen Physikern gegenüber als Zyniker, der gnadenlos ihre Schwächen aufdeckte und so den Spitznamen »Geißel Gottes« bekam. Lediglich seinen Lehrer Arnold Sommerfeld verehrte er ohne Einschränkungen. Bald weitete Pauli aber seine Bewunderung auch auf Bohr aus, was darin zum Ausdruck kam, dass er Bohr über sechzig Briefe schrieb. Pauli erkannte in Bohrs Denken die einzige Grundhaltung, die er unmittelbar akzeptierte, die mit festem Mut und großer Entschlossenheit vertretene »intellectual honesty«.

Bohr wiederum liebte Paulis kritischen Geist, und wenn der Ältere dem Jüngeren auch vorwarf, seine Texte zu lesen wie der Teufel die Bibel, so ermutigte Bohr Pauli doch, seine Idee des Spins energisch weiterzuverfolgen. Dies führte 1925 zu der Formulierung des sogenannten Pauli-Prinzips, für das sein Urheber zwanzig Jahre später mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde. Paulis Idee wird manchmal auch als das Prinzip der Ausschließung bezeichnet, weil es in einfacher Form ausdrückt, dass es in einem Verbund mit atomaren Ausmaßen ausgeschlossen ist, dass zwei Elektronen in all ihren vier Quantenzahlen übereinstimmen. Sie müssen sich in mindestens einer Quantenzahl unterscheiden, und wenn auch unklar bleibt, wie die Natur es tatsächlich bewerkstelligt, Elektronen als Individuen zu handhaben, so erlaubte Paulis Prinzip plötzlich in aller Klarheit, die Stabilität der Materie zu verstehen. Die Elektronen können in einem Atom nicht alle in den Kern sacken und dort an einem Ort bleiben. Sie müssen solche Bahnen besetzen, die ihre Quantenzahlen verschieden machen. Aus diesem Grund kann Bohrs Aufbauprinzip ein Element nach dem anderen errichten und die materielle Grundlage unserer Wirklichkeit verstehen.

Niels Bohr - Physiker und Philosoph des Atomzeitalters
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