Eine zweite Form der Quantenmechanik
Nachdem Heisenberg mit Max Born Rücksprache gehalten, seine Überlegungen veröffentlicht hatte und mit seiner Erfindung auf Vortragreise ging, gab der österreichische Physiker und Wissenschaftstheoretiker Erwin Schrödinger (1887–1961) eine Reihe von Arbeiten heraus, die der noch jungen Quantenmechanik ein zweites Gesicht verliehen. Schrödinger war Professor für Theoretische Physik in Zürich; er fühlte sich aber im Grunde mehr als Philosoph denn als Naturwissenschaftler, und es bedurfte eines besonderen äußeren Anlasses, um ihn dazu zu bewegen, sich ernsthaft mit den Problemen der Atome zu beschäftigen. Den Anlass bot ihm Heisenbergs Ansatz, den Schrödinger entsetzlich fand. Ihn widerte an, dass die »verdammte Quantenspringerei« zum entscheidenden Merkmal der Physik werden sollte, und dieser Ärger machte ihn kreativ. Im Winter 1925/26 fuhr er zum Skilaufen nach Arosa, und im Verlauf dieses Aufenthalts brachte er den ersten Entwurf der Gleichung zu Papier, die heute als Schrödinger-Gleichung bekannt ist und für Schrödingers Weltruhm als Begründer der Quantenmechanik gesorgt hat.
Woher rührte Schrödingers Abscheu vor der »Quantenspringerei«? So wie Heisenberg unerschütterlich an die Konstanz der Energie glaubte, als er seinen Durchbruch erzielte, vertraute Schrödinger fest und unbeirrt der Vorstellung, dass in der Natur alles kontinuierlich und stetig vor sich geht. Nun ließ sich natürlich nicht leugnen, dass ein Atom Licht nur mit präzise festliegenden Energiewerten ohne Zwischenstufen aussendet. Das zeigten überdeutlich die Spektrallinien. Wer ohne Quantensprünge auskommen wollte, musste die Lücken zwischen diesen Linien erklären, und zwar mit klassischen Vorstellungen. Schrödinger stellte sich diese Aufgabe, und Anfang 1926 meinte er, sie gelöst zu haben. Er präsentierte eine Wellengleichung, eben die Schrödinger-Gleichung, die das Verhalten von Elektronen in Atomen beschreiben sollte. Das Elektron, vorgestellt als ein winziges Etwas, sollte eine stehende Welle sein, deren Schwingen sich so verändert, wie es zum Beispiel die Saite einer Violine beim Spiel tut. Dabei entströmen einer kontinuierlichen Saite bekanntlich diskrete Töne – ein A oder ein D etwa –, und gleicherweise sollte sich das Elektron verhalten: ein kontinuierliches Bewegen mit festen Stationen.
Tatsächlich hat Schrödinger entdeckt, dass sich die atomare Realität durch Wellenbewegungen und die dazugehörigen Gleichungen erfassen lässt, aber er hat sehr lange gebraucht, um seine eigene Leistung und damit das zu verstehen, was er wirklich gefunden hat: eine Gleichung, die eine Wellenbewegung in Räumen mit imaginären Dimensionen beschreibt. Die berühmte von ihm eingeführte Funktion, die er seltsamerweise mit dem sonst nur in der Psychologie gebräuchlichen griechischen Buchstaben Psi bezeichnet hat, erfüllt seine Gleichung nur, wenn sie mit einem Imaginärteil ausgestattet ist, also genau dieselbe neue Dimension in die Physik einführt, die auch Heisenberg mit seinem Ansatz – der mit Größen operiert, die Fachleuten als Matrizen bekannt sind – benötigte.
Schrödinger konnte sehr bald beweisen, dass seine Version einer Atommechanik mit Quanten der von Heisenberg gefundenen Fassung gleichwertig ist, was bedeutet, dass immer dann, wenn die dabei auftretenden Gleichungen auf ihre realen Anteile reduziert werden und alles Imaginäre methodisch sauber auf die Seite kommt, dasselbe Ergebnis erzielt wird. Damit stehen den Physikern zwei Paletten zur Verfügung, mit deren Farben sie das Bild der Atome malen können – jedem steht es frei, die Palette zu wählen, mit der er besser zurechtkommt. Schrödingers Wellengleichung schneidet dabei besser ab als Heisenbergs Matrizenrechnung, weil die Mathematik eine größere Menge Vorschriften bietet, in welcher Weise eine Gleichung der Art, wie Schrödinger sie als Beschreibung der Atome und ihres Lichts vorschlägt, zu lösen ist. Selbstverständlich stehen beide Versionen gleichberechtigt in den Lehrbüchern, die in diesem Zusammenhang gern vom Schrödinger- beziehungsweise vom Heisenberg-Bild der atomaren Wirklichkeit sprechen.
Das Wunderbare an der Existenz zweier Formen der Quantenmechanik lag nun darin, dass unmittelbar auf der Ebene der Mathematik zum Ausdruck kam, was den Physikern zuvor – allen voran Einstein – als extrem merkwürdig auf der Ebene der Erscheinungen selbst aufgefallen war: die Doppelnatur des Lichts und der Elektronen.

Die berühmte Schrödinger-Gleichung zur Beschreibung der atomaren Dynamik. Bei den verwendeten Symbolen fällt sofort das »i« auf, mit dem angezeigt wird, dass es sich um imaginäre Zahlen handelt.
Es fiel selbst Physikern wie Planck und Bohr schwer, diesen von Einstein als revolutionär eingeschätzten Gedanken zu akzeptieren. Schließlich meinten die Physiker seit mehr als hundert Jahren verstanden zu haben, was Licht ist, nämlich eine Wellenbewegung. Erst hatten sie gezeigt, dass Licht genau das kann, was man von einer Welle erwartet – sogenannte Interferenzerscheinungen zustande bringen, bei denen Licht plus Licht Dunkelheit ergibt –, dann konnten sie sogar zeigen, dass die Lichtwelle aus elektrischen und magnetischen Anteilen aufgebaut ist, die sich gegenseitig bedingen und hochschaukeln. Und auf einmal sollte das alles nicht mehr stimmen? Weil Einstein erklärte, dass diese Wellenvorstellung nur die Hälfte der Wahrheit enthält, und noch eins draufsetzte, indem er seinen Kollegen klarmachte, dass die Frage nach der Natur des Lichts niemals eine eindeutige Antwort bekommen wird? Licht kann sowohl als Welle als auch als Teilchen in Erscheinung treten, es gibt keine Versuchsanordnung, in der beide Eigenschaften zugleich nachweisbar sind, und somit müssen wir uns bis heute mit der Janusköpfigkeit des Lichts bescheiden.