Feste Kerne und freie Kräfte
Auf dem Bild, das die Teilnehmer der zweiten Kopenhagener Frühjahrtagung aus dem Jahr 1930 mit ihrem Kinderspielzeug zeigt, sitzt in der ersten Reihe gleich neben Bohr, Heisenberg und Pauli der aus Russland stammende Physiker George Gamow (1904–1968). Bei der Erwähnung seines Namens in einer Runde von Kundigen erntet man ein Lächeln, denn Gamow ist stets durch seinen Sinn für Spaß und Schabernack aufgefallen, weshalb auch anzunehmen ist, dass der Einsatz einer Trompete und einer Kanone zur Befragung eines Redners auf seine Anregung zurückgeht. Gamows Name ist übrigens dadurch literarisch verewigt worden, dass der amerikanische Biochemiker James D. Watson seinen Erinnerungen den Titel Genes, Girls, and Gamow: After the Double Helix gegeben hat.
Der umtriebige Russe schrieb kurz vor seinem allzu frühen Tod im amerikanischen Bundesstaat Colorado seine eigenhändig illustrierte Geschichte der Quantentheorie unter dem Titel Thirty Years that Shook Physics und erzählte darin unter anderem, wie er auf einem Umweg nach Kopenhagen gekommen ist und dabei den verehrten Bohr kennengelernt hat.
Nach dem Abschluss seines Studiums der Physik im Frühjahr 1928 in Leningrad, dem heutigen St. Petersburg, bekam Gamow von der sowjetischen Regierung überraschend die Erlaubnis, zwei Monate in Göttingen am Seminar von Max Born verbringen zu dürfen, um Zugang zu der neuen Quantenmechanik zu bekommen. In der Göttinger Zeit versuchte er unter anderem, Bohrs ursprüngliche, intuitive Theorie der Atome und ihrer Elektronen abstrakter zu fassen und in die neu geschaffene quantenmechanische Sprache mit Wahrscheinlichkeiten anstelle von festen Bahnen zu übertragen. Seitdem wurde nicht mehr von »Orbits«, sondern von »Orbitalen« gesprochen, worunter bahnförmige Aufenthaltsbereiche von Elektronen in einem Atom zu verstehen sind. Am Ende seines Göttinger Aufenthalts beschloss Gamow trotz enormer Geldknappheit, den Rückweg in die Heimat über Kopenhagen anzutreten.
In der dänischen Hauptstadt angelangt, quartierte er sich in ein billiges Zimmer ein, um dort eine einzige Nacht zu verbringen, mehr konnte er sich nicht leisten. Anschließend machte er sich auf zum Blegdamsvej 17, klopfte an und bat Bohrs langjährige Sekretärin, »Frøken Schultz«, um einen Termin. Bohr empfing ihn gleich am Nachmittag. Und auf dessen Frage, womit er sich in Göttingen in der Physik beschäftigt hatte, verschwieg der junge Russe seine nicht sehr weit gediehenen Versuche, Bohrs Atommodell in eine rigide mathematische Struktur zu bringen, und erzählte lieber von seiner Idee, sich mit der Stabilität der Atomkerne befassen zu wollen, die durch die Radioaktivität ins Wanken geraten könne.
Bohr wollte sofort mehr darüber wissen, und Gamow erzählte, ihm sei bei seinen Berechnungen etwas Merkwürdiges aufgefallen. Es gebe tatsächlich eine Möglichkeit, mit der zweiten Form der Quantenmechanik – der Wellengleichung von Schrödinger – neben anderen Dingen auch den spontanen Zerfall eines Kerns zu berechnen. Man könne mit der neuen Quantenmathematik sogar zeigen, dass Teilchen aus einem Atomkern auch dann entkommen und ihn zerfallen lassen können, wenn sie dazu mehr Energie aufwenden müssen, als ihnen eigentlich zur Verfügung steht.
Gamow erklärte weiter: Offenbar sorgen Atomkerne dadurch für ihren Zusammenhalt, dass sie eine Art Barriere um sich errichten, die so hoch oder fest ist, dass deren Überwindung mehr Energie kostet, als einzelne Partikel im Atomkern an- und aufnehmen können. So sind und bleiben sie stabil. Das heißt, klassisch gesehen ist die Lage der Kernteilchen hoffnungslos, sie müssen für alle Zeit im Kern gefangen bleiben. Die Gleichungen der Quantenmechanik erlauben aber etwas anderes. Mit ihnen lässt sich nämlich ausrechen, dass es eine von null verschiedene, also nicht verschwindende und sogar messbare Wahrscheinlichkeit gibt, mit der ein atomares Objekt die Barriere überwinden und folglich den Atomkern verlassen kann – so wie es in der Natur passiert, wenn dort radioaktive Strahlen auftauchen und gemessen werden.
Tatsächlich hatte Gamow in den zwei Monaten in Göttingen das richtig erfasst, was heute im Lehrbuch als Tunneleffekt bekannt ist und zu den zwar vielfach experimentell bestätigten, aber trotzdem wundersam bleibenden Fähigkeiten gehört, über die das Wirkliche offenbar in der Quantenwelt verfügt. Wer einem Kern entkommen will, versucht gar nicht erst den Energiewall um ihn herum zu überspringen, denn dazu reichen die Mittel nicht. Der Trick besteht darin, nicht oben drüber, sondern unten durch zu laufen, den Wall eben zu tunneln, wie man heute dank Gamow sagen kann. Wer auf der Ebene der Anschauung den Tunneleffekt nachvollziehen will, müsste fähig sein, durch eine Wand zu gehen – es wird kolportiert, dass ein Professor der Physik, der zum ersten Mal von dem Tunneleffekt in einem Atom hörte, den Vortragenden empört und leicht verständnislos darauf hingewiesen habe, dass er zwar kaum durch die Wand gehen, wohl aber aus dem Fenster fliegen könne.
Bohr reagierte hingegen begeistert und wollte sofort wissen, wie lange Gamow noch in Kopenhagen bleibe. »Ich bin nur heute da und reise morgen wieder ab, über mehr Mittel verfüge ich nicht«, antwortete dieser wohl, aber Bohr insistierte: »Warum bleiben Sie nicht ein ganzes Jahr bei uns? Ich sorge dafür, dass Sie ein Carlsberg-Stipendium bekommen, was durch unsere Akademie der Wissenschaften vergeben und nicht lange auf sich warten lassen wird. Was meinen Sie?«
Gamow willigte beglückt ein. Mit ihm und seinen Theorien war nun auch die Kernphysik am Blegdamsvej angekommen.