FÜNFUNDSIEBZIG
Teddy konnte sehen, wie der Richter seinen Hammer auf den Tisch schlug, wie die Geschworenen ihr Urteil verkündeten, den Aufruhr, der in der Presse folgte – sechs Jahre Berufungsverfahren in einem Fall, der zu bizarr war, um real zu sein, es aber doch war. Staatsanwalt Alan Andrews wurde verurteilt für den Mord an Edward Trisco III, einem Serienmörder, dem von den Behörden zur Last gelegt wurde mehr als zwölf Menschen gefoltert und brutal ermordet zu haben. Das entzog sich jeder Vorstellung, fraß sich in die Seele und hinterließ Spuren. An einem bestimmten Punkt zog sich Andrews von der Verhandlung zurück und gab schließlich auf.
Teddy warf einen Blick auf Nash, der neben dem Piloten saß. Dann sah er aus dem Fenster auf die Erde und schaute zu, wie die Welt in der Dunkelheit vorbeizog. Sie machten den kurzen Flug von West Chester nach State College. Teddy hatte das zweimotorige Flugzeug organisiert. Nach der Landung würde ein Wagen mit Fahrer warten, um sie zum Hinrichtungskomplex im Rockview-Gefängnis zu bringen. Alan Andrews sollte in weniger als zwei Stunden mit einer Spritze hingerichtet werden und sie waren spät dran.
Es waren turbulente sechs Jahre gewesen.
Andrews wurde auch für zwei separate Anschläge auf Teddys Leben verurteilt. Als Michael Jackson mit den Zahlungen konfrontiert wurde, die er von Andrews erhalten hatte, und mit den Schuhabdrücken, die im Schnee am See draußen gefunden wurden, bekannte er sich im Hinblick auf eine mildere Strafe schuldig und gab zu, dass er die Bremsschläuche in Teddys Wagen angeschnitten hatte. Er hätte Anweisungen von Andrews befolgt, sagte er. Obwohl Andrews es abstritt und der Verdacht bestand, dass Jackson log, um seine eigene Haut zu retten, hatte der Detective genug Erfahrung vor Gericht, um als glaubwürdiger Zeuge zu erscheinen und den Geschworenen seine Seite der Story zu verkaufen. Als er damit konfrontiert wurde, Teddy auf den Kopf geschlagen und Barnett mit dessen eigenem Auto überrollt zu haben, schwor Jackson, dass er nichts davon wusste, unterzog sich einem Lügendetektortest und bestand diesen.
Bezüglich des zweiten Anklagepunktes stritt nicht einmal Andrews ab, dass er eine Waffe auf Teddy gerichtet und abgefeuert hatte. Seine Fingerabdrücke waren auf der Waffe gefunden worden. An seiner rechten Hand waren Schmauchspuren entdeckt worden. Seine Story, dass er Teddy furchterregend fand, dieser mit einer Schrotflinte bewaffnet war, die Waffe nicht herunternahm und er deshalb in Panik geriet, überzeugte einfach nicht.
Anders als bei Michael Jackson wurde der forensischen Wissenschaftlerin, Vera Handover, die im Polizeilabor arbeitete, kein Deal angeboten. Obwohl Teddy enttäuscht war, dass Handovers Stimme nicht mit seiner Erinnerung an Dawn Bingels übereinstimmte und es bis zu diesem Tag ein Rätsel blieb, wie er zum Bootshaus geführt worden war, mussten die Ermittler sie nicht zum Reden bringen, um genau herauszufinden, was sie getan hatte. Nash und die Studenten, die an seinem Rechts-Workshop teilnahmen, wiesen mit ihrer Untersuchung den Weg. Was sie nicht herausfinden konnten war, was Jackson als Teil seiner Abmachungen getan hatte. Die forensische Wissenschaftlerin hatte Zahlungen von Andrews angenommen, die im Notizheft, das in seinem Stadthaus gefunden wurde, standen. Als Gegenleistung für diese Zahlungen hatte sie in einigen seiner wichtigsten öffentlichen Fälle Beweise erfunden und falsche Zeugenaussagen gemacht. Sie war Teil eines Teams, das dafür verantwortlich war, insgesamt sechs Unschuldige in den Tod geschickt zu haben. Zu ihrer Verteidigung sagte sie, dass sie dachte, diese Menschen wären schuldig und sie habe zu jener Zeit geglaubt, sie würde das Richtige tun, wenn diese Leute dadurch hinter Gitter kämen. Die Gelder wären quasi Boni von Andrews für einen gut gemachten Job gewesen. Vor Gericht hätte sie nicht gelogen, meinte sie. Ihre Meinungen, speziell in der Analyse der Fingerabdrücke, wären für Interpretationen offen gewesen und sie hätte ihr Bestmögliches getan. Als die Untersuchungen gegen sie tiefer gingen, kamen zwölf weitere gefälschte Fälle hoch. Neun Männer und drei Frauen wurden aus dem Todestrakt gerettet und kamen frei, während Vera Handover ins Gefängnis wanderte.
Alan Andrews stand kurz davor, für einen einzigen Mord hingerichtet zu werden. Aber jeder wusste, dass sein Tod alles in allem das Resultat seines Berufslebens war, der Entscheidungen, die er in dessen Verlauf getroffen hatte und seinen Bemühungen die Wahrheit dahin gehend zu manipulieren, dass er Erfolge vorweisen, Punkte sammeln und wie ein Held dastehen konnte.
Das Flugzeug landete sanft, die Fahrt nach Rockview dauerte weniger als zwanzig Minuten. Teddy sah die Reihe der Demonstranten, die handgemalte Schilder in die Luft hielten und vor den Gefängnismauern skandierten. Als der Fahrer durch das Tor fuhr, blieb Teddys Blick an einem seltsam aussehenden Mann hängen, der am Rande stand. Er hielt eine Taschenlampe auf seine Bibel gerichtet und las die Worte jedem vor, der vielleicht zuhörte. Es hatte nicht den Anschein, als ob es jemand tat.
Der Wagen fuhr an einen Halt, sie stiegen aus und folgten ihrer Eskorte zum Hinrichtungskomplex. Als sie die Stufen hochstiegen, bemerkte Teddy, dass Nash leicht hinkte. Als er nachfragte, sagte Nash ihm, dass er auf dem Boden seines Fitnessraumes ausgerutscht sei.
»Es ist nichts, Teddy. Nichts, was nicht bald wieder heilen würde.«
Die Eskorte führte sie ins Gebäude hinein. Nachdem sie eingecheckt hatten, wurden sie den Gang hinunter zum Zeugenraum im ersten Stock begleitet. Als sie eintraten, waren nur noch ein paar Plätze frei. Ihre Plätze waren in der vordersten Reihe nebeneinander. Teddy zögerte einen Moment, bevor er Nash den Mittelgang hinunter folgte und Platz nahm.
Der Zeugenraum war ziemlich klein. Es gab aber genügend Plätze, um fünfundzwanzig Leute für den Rest ihres Lebens mit dem Erlebnis einer Hinrichtung zu belasten. Teddy drehte sich um und sah in die Gesichter. Einige erkannte er als Mitglieder von Andrews’ Familie. Seine Mutter und Schwester saßen neben ihrem geistlichen Berater – Andrews war nicht verheiratet und hinterließ keine Kinder. Einige der anderen hatte er in der Zeitung gesehen. Sie gehörten zu den Familien von Andrews’ Opfern. Hauptsächlich waren es Frauen, die in den Nachrichten fast jeden Abend berichteten, dass sie sehen wollten, wie der Kerl genau wie ihre Ehemänner starb. Der Rest der Zuschauer waren offizielle Zeugen und Reporter.
Die junge Frau mit dichtem Haar, die einen Armani-Anzug trug, war ein neues Gesicht von einer der lokalen Fernsehstationen. Sie hatte jene Frau ersetzt, die dieselbe Kleidung trug, sogar dieselbe Frisur, sich aber geweigert hatte ihr Gesicht liften zu lassen, als sie allmählich älter und reifer aussah. Als Teddy auf den jungen Ersatz schaute, bemerkte er, dass ihre Augen an diesem Abend etwas größer waren als gewöhnlich. Vielleicht lud sie sich mehr auf, als sie verkraften konnte. Vielleicht war das Leben wichtiger, als nur für Geld das vorzulesen, was man ihr auftrug, vor den Kameras vorzulesen.
Er drehte sich in seinem Sitz wieder zurück und sah durch die Fenster in die Leichenkammer. Er nannte es die Leichenkammer, obwohl Nash ihm mehr als einmal gesagte hatte, dass es immer noch Hinrichtungskammer hieß. Als er seinen Blick herumschweifen ließ, hatte er eher den Eindruck einer Bühne. Mit den gefliesten Wänden sah es mehr wie ein Operationssaal aus, als ein Raum, der renoviert worden war und in dem vielleicht einmal eine Gaskammer oder ein elektrischer Stuhl untergebracht waren. Tatsächlich hatte Teddy in den letzten paar Wochen irgendwo gelesen, dass der Hinrichtungskomplex in Rockview einmal ein Feldlazarett war.
Er sah wieder durch das kugelsichere Glas. Ein einzelner Stuhl war am Boden befestigt, dem Design nach glich er eher einem Flugzeugsitz der ersten Klasse. Ein elektrisches Kabel führte vom Schaltkasten, der am Stuhl angebracht war, zu einer Steckdose in der Wand. Teddy hatte erwartet, eine einfache Rollbahre zu sehen. Stattdessen hatte jemand den gepolsterten Stuhl speziell dafür gebaut, um Leute zu töten. Er sah kalt, steril und ultramodern aus – vielleicht das Werk des Geistes von Frank Lloyd Wright. Neben der Tür an der hinteren Wand war ein kleines Regal in die Fliesen eingelassen, das gerade groß genug für ein Tischtelefon war. – Warum ein Tischtelefon? Warum nicht ein einfaches Telefon an der Wand?
Ein Mann betrat den Raum. Es war ein älterer Herr, der wie ein Chirurg gekleidet war und vielleicht sogar als Gerichtsmediziner durchgehen konnte. Um seinen Hals hing eine Gesichtsmaske und er trug ein Paar Latexhandschuhe. Er trat zum Stuhl, wobei seine Augen die fünfundzwanzig Gesichter mieden, die ihn durch die Fenster entlang der nahen Wand anstarrten. Dann drückte er auf den Knopf am Schaltkasten. Der Stuhl kippte zurück und verwandelte sich in eine Liege. Als er einen zweiten Knopf drückte, schlossen sich die Vorhänge hinter den Fenstern.
»Sie bringen Andrews jetzt rein«, flüsterte Nash. »Es wird nur noch ein paar Minuten dauern.«
Teddy zitterte in seinem Sitz und er fragte sich, ob er im Zuschauerraum bleiben und zusehen konnte, wie der Mann starb. Er schob eine Hand in die Tasche und zog ein kleines Foto heraus. Es war ein Bild seines Vaters. Er hatte es selbst mit einer 35-Millimeter-Kamera gemacht, als sie durch das offene Gelände auf der anderen Straßenseite gestreift waren, versteckte Fasane im hohen Gras aufstöberten und zusahen, wie die Vögel hochflogen. Er blickte in die Augen seines Vaters und strich ihm mit dem Finger übers Gesicht. So hatte er ihn in Erinnerung: in einer Lederjacke mit hochgestelltem Kragen, das unbekümmerte Lächeln auf dem Gesicht, die Nachmittagssonne im windverwehten Haar.
Teddy hatte während der vergangenen sechs Jahre die Sache einigermaßen verarbeiten können. An einem Wochenende, während Andrews’ erster Gerichtsverhandlung, hatte er sich die Fächermappe aus dem Schrank seiner Mutter geholt und sie in sein Zimmer mitgenommen. Er hatte immer gewusst, dass sie Aufzeichnungen über das, was seinem Vater passiert war, gesammelt hatte, und dass sie die Storys aufgehoben hatte, die in den Zeitungen standen. Er hatte aber nie zuvor einen Blick darauf werfen können. Als er über die Verhaftung seines Vaters und dessen anschließendem Tod im Gefängnis las, blieben Fragen zurück. Er wollte den Strafverfolger ausfinden machen, ein Staatsanwalt namens Stephen Faulk, konnte ihn aber nicht finden.
Nach dem, was er gelesen hatte, hatte seine Mutter Recht. Faulk war jung und wollte sich in Chester County einen Namen machen. Teddys Vater war ein Mann mit gutem Ruf und sah wie ein großer Fang aus. Als Teddy seine Mutter danach fragte, sagte sie, dass der Strafverfolger schon vor langer Zeit gestorben sei. Er sah den Ausdruck in ihren Augen, wie der Schmerz wieder aufflammte, und wollte sie deshalb nicht nach Details fragen, wenn es nicht notwendig war. Deshalb begann er auf eigene Faust herauszufinden, was mit Stephen Faulk geschehen war. Er fing beim örtlichen Polizeirevier an, aber niemand konnte ihm etwas sagen, was ihm seine Mutter nicht schon gesagt hatte. Die Gesichter änderten sich im Laufe der Zeit und jene, die geblieben waren, schienen kein großes Interesse zu haben und waren nicht sehr gesprächig. Das überraschte Teddy. Fast sein halbes Leben lang hatte er jedes Mal, wenn ein Polizist am Haus vorbeiging gedacht, dass die Geschichte das Einzige war, was sie im Kopf hatten.
Nach mehreren erfolglosen Wochen war Teddy in die Bücherei gegangen und hatte einen ganzen Tag damit verbracht, die Mikrofilm-Archive der Daily Local News durchzugehen, einer regionalen Bezirkszeitung. Seine Mutter hatte an dem Tag aufgehört Presseausschnitte zu sammeln, als sein Vater starb. Aber es waren die darauf folgenden zwei Wochen, die die Geschichte erzählten: Faulk hatte die Detectives, die an dem Fall arbeiteten, zu einer Verhaftung gedrängt. Er hatte täglich Pressekonferenzen abgehalten und jede Gelegenheit genutzt, den Fall in der Presse zu verhandeln, bevor überhaupt ein Gerichtstermin angesetzt war. Es war für Teddy offensichtlich, dass Faulk einen Komplex hatte; ein Reporter beschrieb seine Stimme als schrill. Nachdem sein Vater aber gestorben war, änderte sich alles. Der Buchhalter meldete sich, von Schuld überwältigt, und gab zu, dass er der wahre Mörder sei und nicht Teddys Vater. Faulk hatte tatsächlich versucht, das Geständnis zu ignorieren, aber örtliche Detectives und die des Landkreises widersprachen dem Staatsanwalt und schlugen zurück. Die Kontroverse zog sich über eine Woche oder mehr hin und ging durch die Presse, bis der Landkreis entschied, dass es reichte und sie den Mann feuerten. Drei Tage danach wurde Faulks Körper hinter dem Steuer seines Autos bei geschlossenem Garagentor und laufendem Motor gefunden. Der Dreckskerl hatte den leichten Ausweg gewählt.
Teddys Albträume schienen zu verschwinden, nachdem er herausgefunden hatte, was tatsächlich passiert war. Er stürzte sich in seine Karriere und kümmerte sich um Oscar Holmes’ Interessen, verbrachte aber die meiste Zeit im Gerichtssaal als Strafverteidiger. Zuerst waren es nur kleine Fälle, wobei Nash ihn durch den Prozess führte. Als er erfahrener wurde, begann seine Kanzlei zu florieren. Oftmals nahm sich Nash einen freien Tag von seiner Lehrtätigkeit, um im Gerichtssaal als Beobachter zu sitzen. Nach jeder Verhandlung bot Nash, besonders anfangs, bei einer Tasse heißem Kaffee im Büro eine detaillierte Kritik an. Als Teddy vor einem knappen Jahr begonnen hatte Fortschritte zu machen, weiteten sie ihre Diskussion bei erlesenen Weinen aus.
Als er auf das Foto starrte, wünschte er, sein Vater wäre hier und könnte sehen, wie die Dinge sich entwickelt hatten. Er wünschte, sein Vater könnte sehen, dass er jetzt selbstständig war und es ihm gut ging. Er konnte seine Schulden zurückzahlen, lebte in einem Apartment in den Wäldern von Radnor an der County Line Road – ein großes Haus, das vor mehr als hundert Jahren erbaut und jetzt in Apartments unterteilt worden war. Es entsprach nicht den Bauvorschriften, aber niemand in der Nachbarschaft redete darüber. Seine Mutter schien auch wieder auf die Beine gekommen zu sein. Sie und Quint hatten jemand kennengelernt, mit dem sie zusammen malen konnten – sie hatten in Oscar Holmes einen neuen Freund gefunden.
Oftmals, wenn Teddy auf einen Besuch vorbeikam, fand er sie alle zusammen malend im Atelier. Holmes hatte seine Nachbarin geheiratet und ihre Tochter adoptiert. Obwohl er es schaffte, mit seiner Kunst einen kleinen Unterhalt zu verdienen, blieb er wegen des Martyriums, das er wegen Alan Andrews und Eddie Trisco durchgemacht hatte, psychisch geschädigt. Aber schlimmer war, dass die Leute auf der Straße immer noch auf ihn zeigten und ihn den Veggie-Metzger nannten. Teddys Mutter war wahrscheinlich die einzige Person auf Erden, die verstand was er durchmachte, und seine häufigen Besuche in ihrem Haus schienen beiden zu helfen.
Der Vorhang zur Leichenkammer öffnete sich.
Teddy schloss die Hand um das Foto und schob es in seine Tasche. Als er durch das Fenster auf Andrews blickte, bemerkte er, dass sein Platz zu nahe war, weniger als einen Meter entfernt.
Andrews hatte seit dem letzten Mal, als er ihn gesehen hatte, Gewicht verloren und seine Haut war viel blasser. Er wurde am Stuhl festgeschnallt, schien aber bequem unter einem Laken zu ruhen. Der Doktor trug jetzt einen Augenschutz und die Gesichtsmaske war eng über seinen Mund gezogen. Die beiden schienen miteinander zu reden, während der Doktor das Elektrokardiogramm heranrollte und die Drähte, die an Andrews’ Brust befestigt waren, prüfte.
Teddys Augen gingen zu Andrews Armen hinunter. Direkt über jedem Handgelenk war je eine Infusionsnadel angebracht. Merkwürdigerweise führten die Plastikschläuche, mit denen die Nadeln verbunden waren, um den Stuhl herum in eine kleine Öffnung in der hinteren Wand. Über der Öffnung war noch ein Fenster, aber die Vorhänge dort blieben zu.
Die Lichter im Zeugenraum wurden gedimmt. Teddys Aufmerksamkeit richtete sich auf die Reflexionen in der Glasscheibe. Er konnte die Leute sehen, die hinter ihm saßen, ihre Gesichter waren starr und still. Einige wischten sich ihre Augen mit Taschentüchern ab. Andere schauten herausfordernd. Eine Frau in der hinteren Reihe, vielleicht die Reporterin, fing zu husten an und konnte offenbar nicht aufhören.
Es war 18:58 Uhr. Ein Mann in Uniform, von dem Teddy annahm, dass er der Wärter war, betrat die Leichenkammer und stellte sich neben das Telefon. Es schien eine Formalität zu sein, denn jeder wusste, dass der Gouverneur Ambitionen auf die Präsidentschaft hatte. Hinrichtungen waren der Traum eines Imageberaters und ein wichtiger Schritt, wenn man Präsident in der freien Welt werden wollte. Es war sehr unwahrscheinlich, dass der Gouverneur heute Abend von seiner Villa in Harrisburg aus anrufen würde.
Teddys Augen wanderten nach links und er bemerkte noch ein Fenster. Dort gab es einen weiteren Zeugenraum. Er sah die Detectives Vega und Ellwood hinter der Glasscheibe, zusammen mit Staatsanwältin Carolyn Powell. Sie wirkte nervös und verletzlich, aber vor allem sah sie müde aus. Teddy hatte sie schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen. Ihre Beziehung hatte entweder seine Entscheidung als Verteidiger für das Strafrecht zu arbeiten nicht überlebt oder ihre Beförderung und Wahl zum neuen Job. Carolyn war durch die strafrechtliche Verfolgung Andrews’ scheinbar in einen Kokon geraten und steckte dort fest. Für Teddy war der Prozess eine Befreiung gewesen. Sie nahmen alle paar Monate noch Kontakt miteinander auf, aber einigten sich nie auf ein Treffen mit einer weiteren Runde Martinis – es war inzwischen sein Drink der Wahl und in den ganzen sechs Jahren hatte er nie einen bestellt, ohne an sie zu denken oder sich an jene Nacht zu erinnern, die sie zusammen verbracht hatten.
Ein Licht an der hinteren Wand fing an zu blinken und die Lautsprecher wurden eingeschaltet. Der Wärter blickte auf den Doktor und fragte Andrews dann, ob er eine Erklärung abgeben wolle. Andrews lehnte mit einem einfachen Kopfschütteln ab. Als die beiden Männer den Raum verließen und die Tür geschlossen wurde, rückte sich Andrews unter seinen Einschränkungen noch zurecht und nahm einen tiefen Atemzug. Er war allein. Bereit für den Beginn des ewigen Schlafes.
Dann öffnete sich der Vorhang am Fenster an der hinteren Wand und enthüllte drei Männer mit schwarzen Kapuzen. Als Teddy sie sah, versuchte er sich selbst daran zu erinnern, dass er in einer zivilisierten Welt lebte. Dennoch war das Bild, wie ihre Augen im Vorzimmer hinter Andrews unter den Kapuzen herausspähten, erschreckend. Er wusste, was sie taten. Ihm war der Vorgang sehr bewusst. Das Hinrichtungsteam bestand aus drei Gefängnisangestellten. Zwei würden Andrews einen Drogencocktail eingeben, der zu einer Überdosis führen und das Lebenslicht auslöschen würde. Der Dritte würde einen falschen Beutel mit dem tödlichen Gebräu füllen. Am Ende wäre keiner sicher, wer genau Andrews’ Leben ausgelöscht hatte.
Teddy glaubte zu wissen, wann das Natriumpentothal den Arm des Mannes erreichte und die volle Wirkung eintrat. Andrews wehrte sich gegen das Betäubungsmittel, aber bei einer fünfzigfachen Dosis im Vergleich zu einer normalen Operation fingen seine Augen schließlich an zu flackern und wurden träge. Sein Blick wanderte über die Decke, glitt dann an der Wand hinunter, am Fenster vorbei und durch die Glasscheibe. Er machte die Gesichter der Zuschauer ausfindig, ging im dämmrigen Licht von einem zum anderen. Bei einigen verweilte er länger, andere überging er, bis seine Augen Teddy in der vordersten Reihe fanden und schläfrig auf ihm verweilten.
Teddy zuckte. Eine Welle von Furcht raste seine Wirbelsäule hinauf bis zu seinem Hals. Die Sekunden vergingen in Schauern. Fast eine ganze Minute. Andrews starrte ihn an, warf ihm einen letzten Blick zu, bevor er losließ und sich von jenem Zeugen verabschiedete, der ihn vor Gericht gebracht hatte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war nicht hart, sondern unerwartet sanft und entspannt. Er schien ewig zu währen und in gewissem Sinne war es auch so.
Als Andrews’ Augen schließlich wie eine Kerze verloschen dachte Teddy, er wäre tot und sah auf den Monitor. Zu seiner Überraschung schlug Andrews’ Herz immer noch. Es dauerte zehn Minuten, bis das Pancuroniumbromid sein Zwerchfell gelähmt hatte und die Lungen kollabierten. Dann folgten weitere Minuten, bis das Kaliumchlorid sein Herz erreichte und den letzten Schalter umlegte. Dann änderte sich der Glanz in Andrews’ Augen und wurde schwächer, bis er seitlich wegrollte und sich für immer in der Ferne verlor.
Das Chaos war vorbei, die Schlacht verloren. Die Entscheidung endgültig.
Nach einer Weile betrat der Doktor den Raum und ging zum Stuhl hinüber, ohne auf Andrews’ Leiche oder die Gesichter zu achten, die ihn durch das Fenster anstarrten. Teddy sah, wie seine Hand zum Schaltpult hinunterreichte. Als er den Knopf drückte, ging der Vorhang zu.