ZWEIUNDSIEBZIG
Die Stahltür schlug hinter ihnen zu und Oscar Holmes, früher bekannt als der Veggie-Metzger, trottete in die Gefängnishalle. Er trug seine eigene Kleidung und drückte seine Skizzen, ein paar Zeitschriften und einen Stapel Briefe fest an seine Brust. Seine leblosen Augen huschten über die Wände und konzentrierten sich dann auf den Eingang und den Parkplatz draußen. Sein zusammengefallenes Gesicht blieb leer, seine Emotionen waren immer noch in einer Art Trance verschlossen. Was er gesehen hatte und vergessen wollte, blieb so außer Reichweite.
Teddy drückte die Tür auf und sie traten hinaus. Die Sonne war verschwunden. Ein ganzes Meer von dunklen und grauen Wolken schob sich vom Südwesten her. Als er Holmes beobachtete, wie er schwerfällig und still über den Parkplatz ging, wusste er, dass Nash Recht hatte: Oscar Holmes war noch nicht bereit für die Welt da draußen.
Teddy zeigte auf den Ford Waggon und sie stiegen ein. Holmes übergroße Gestalt ließ das Auto winzig wirken und er schob wortlos den Sitz zurück. Als sie vom Parkplatz fuhren, sah Teddy, wie Holmes auf die Presse starrte, die sich hinter dem Wachhäuschen vor dem Tor draußen aufgestellt hatte. Holmes zwinkerte nicht einmal, als die Lichter blitzten. Stattdessen drehte er sich im Sitz um, hielt den Blick auf sie gerichtet und sah zu, wie die Curran-Fromhold-Strafvollzugsanstalt im Hintergrund langsam verschwand.
Teddy fuhr rechts auf die Autobahnauffahrt und fuhr auf die I-95, wo sie in starken Verkehr gerieten. Er würde Holmes nicht zu seinem Apartment fahren. Mit Holmes Nachbarin, der jungen Mutter, die im Flur gegenüber wohnte und von Anfang an mit ihrer Tochter zu Holmes gehalten hatte, war ein Arrangement getroffen worden. Sie würden die Feiertage im Haus ihrer Eltern in Cape May an der Küste verbringen. In einer Woche oder so, mit ein wenig Glück, würde sich die Presse zurückhalten und Holmes den Raum zum Durchatmen lassen, den er brauchte. Zumindest hörte es sich auf dem Papier gut an…
Teddy schielte zu dem Mann hinüber, der immer noch seine Besitztümer mit den großen Händen eng an seine Brust gepresst hielt. Tränen strömten an Holmes’ Wangen hinunter, während er durch die Windschutzscheibe hinausblickte.
»Ich will meine Schwester nicht sehen«, flüsterte er. »Ich will auch nicht Barnett sehen.«
»Das müssen Sie nicht, Holmes. Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Sie sind frei.«
»Aber sie haben angerufen.«
Holmes wischte seine Wangen ab und drehte sich um. Teddy folgte seinem Blick zum Holmesburg-Gefängnis in der Ferne. Aus einem der Kamine konnte man schwarzen Rauch aufsteigen sehen. Nicht bereit, seinen eigenen Dämonen zu begegnen, umklammerte Teddy das Lenkrad fester und schaute weg.
»Und dann ist da das hier«, sagte Holmes.
Teddy spürte, wie ein Umschlag auf seinen Schoß fiel, nahm ihn aber nicht auf. Er fuhr von der Autobahn ab, schlängelte sich durch die Bauzone, bis er die Dritte Straße erreichte und unter der Benjamin Franklin Bridge einen Platz zum Parken fand. Holmes’ Nachbarn waren noch nicht da.
Er ließ den Motor laufen, drehte die Heizung herunter, öffnete dann den Umschlag und zog den Brief heraus. Er sah das Datum vom Vortag unter dem Briefkopf und fing an zu lesen. Es war ein Geschäftsangebot, eine große Summe Geld lag auf dem Tisch. Jemand wollte eine Restaurantkette in der Stadt eröffnen und Holmes’ Spitznamen – Veggie-Metzger – benutzen. Als Teddy zu Holmes hinüberschaute, lächelte der Mann sogar über die Ironie.
»Ich werde jemanden brauchen, der meine Geschäfte in die Hand nimmt«, sagte Holmes.
»Ich werde alles tun, was Sie wollen.«
Holmes sah auf das Geschäftsangebot. »Ich will das nicht machen.«
Teddy nickte, schob den Brief in seine Jackentasche und langte auf dem Rücksitz nach einer Papiertüte. Er reichte sie Holmes, der überrascht wirkte. Nach einer Weile legte Holmes seine Skizzen und Zeitschriften ab und griff in die Tüte. Auf dem Weg zum Gefängnis hatte Teddy bei einem Geschäft für Künstlerbedarf angehalten und hatte verschiedene Farben und Pinsel gekauft. Holmes starrte auf das Geschenk und schien überwältigt.
»Darlene Lewis hat für Sie Modell gestanden, nicht wahr?«, meinte Teddy.
Holmes schwieg und fuhr mit dem Daumen über einen Pinsel.
»Ich habe Ihre Bilder gesehen«, sagte Teddy. »Die Röntgenaufnahmen. Sie kannten die Tattoos. Warum haben Sie nichts gesagt?«
»Ich habe mir meistens Zeit gelassen, um die Post zu sortieren und habe durch das Fenster am Eingang gespäht. Darlene dachte, ich würde sie anschauen und manchmal tat ich das auch. Wer würde das nicht? Aber meistens schaute ich nur auf das, was an ihren Wänden hing.«
»Aber sie hat für Sie Modell gestanden, richtig?«
»Nein«, sagte er langsam. »Sie hat nicht geglaubt, dass ich male. Sie hänselte mich deswegen und nannte mich einen Idioten.«
»Woher haben Sie dann von den Tattoos gewusst?«
»Vom Computer. Sie hatte mir gesagt, wo die Fotos sind.«
»Warum haben Sie sie am Ende übermalt?«, fragte Teddy.
»Weil sie nicht richtig herausgekommen sind. Sie sahen so traurig aus.«
Holmes drehte sich um. Seine Augen leuchteten auf, als er einen metallic-blauen Honda Civic sah, der auf der anderen Straßenseite zu einer Parkuhr fuhr. Teddy erkannte das kleine Mädchen auf dem Rücksitz als Holmes’ Nachbarin und betrachtete die Frau hinter dem Lenkrad. Der graue Himmel reflektierte auf der Glasscheibe und blockierte einen Großteil der Sicht, aber er sah das blonde Haar, ihre hohen Wangenknochen und einen Ansatz von Blau in ihren Augen, das in den Wolken verschwand. Sie sah jung aus, sanft und irgendwie vertraut. Nach einer Weile dämmerte es Teddy, dass sie auch für Holmes Modell gestanden hatte. Auf den ersten zwei Gemälden, die Andrews ihm im Kunstmuseum gezeigt hatte, war sie zu sehen gewesen. Nur war jetzt die ganze Melancholie weg.
Holmes sammelte seine Skizzen und Farben ein und öffnete die Tür.
»Erinnern Sie sich, was passiert war?«, wollte Teddy wissen. »Ist der Tag, an dem Darlene Lewis starb, klarer?«
Holmes schüttelte den Kopf und senkte seine Stimme. »Nur sein Gesicht. Das in der Zeitung. Es ist dasselbe Gesicht, das ich in meinen Träumen sehe. Er hält ein Messer und schneidet meine Hände auf.« Holmes schauderte und sah ihn an.
Die Geschichte kommt bröckchenweise und nur allmählich an die Oberfläche, dachte Teddy, wie Flugzeugtrümmer im Meer. »Sie haben meine Adresse und Telefonnummer, ja?«
Holmes nickte.
»Was ist mir Ihrer Medizin?«
Holmes griff an seine Jackentasche und nickte wieder. Sie schüttelten sich die Hände. Dann stieß Holmes mit dem Knie die Tür zu und ging über die Straße. Teddy sah, wie er in den Civic stieg, die Frau und ihre Tochter umarmte und sie küsste. Als sie schließlich davonfuhren, blickte das Mädchen durch das Heckfenster auf Teddy zurück, warf ihm ein Lächeln zu und winkte.
Teddy drückte die Tür auf und fand Nashs Assistentin, Gail Emerson, am Schreibtisch bei ihrer Arbeit vor. Die Tür zu Nashs Büro war zu, aber von der anderen Seite waren Stimmen zu hören.
Gail sah auf die Wanduhr und lächelte. »Er ist in einem Meeting«, sagte sie. »Es wird wahrscheinlich noch den ganzen Nachmittag dauern. Vielleicht bis in die Nacht hinein.«
»Wer ist bei ihm?«
»Die Staatsanwaltschaft und drei Studenten vom Workshop. Sie gehen ihre Arbeit vom letzten Semester durch.«
Die fünf Todesurteilsfälle, in die Andrews verwickelt war. Die Staatsanwaltschaft machte Druck auf die Untersuchung, um sie zu beschleunigen.
»Ist Carolyn Powell da drinnen?«
Gail schüttelte den Kopf. »Es ist nur ein Briefing. Sie wollen wissen, was wir haben.« Sie warf ihm einen wissenden Blick zu und lächelte wieder, als ob sie das hätten, worauf es ankam.
»Glauben Sie, es würde ihm etwas ausmachen, wenn ich hineinginge?«
»Ich glaube nicht, dass Sie das tun sollten, Teddy. Aber ich werde ihm sagen, dass Sie hier waren.«
Teddy verstand und ging. Als er in die kalte Luft hinaustrat und den Gehsteig zu seinem Auto hinunterging, überkam ihn ein Gefühl der Einsamkeit. Er war nicht mehr dabei. Seine Rolle war beendet und hatte einer Art von Leere Platz gemacht, die er seit seinen Teenagertagen nicht mehr erlebt hatte. Er dachte, ein Bier könnte helfen. Vielleicht würde der Schmerz in seiner Schulter nach zwei oder drei Gläsern ebenfalls in den Hintergrund treten.