FÜNFZEHN
Es war ein exklusiver Klub im obersten Stockwerk eines Hochhauses, direkt am Rittenhouse Square. Der Mann am Empfangstisch schien darauf zu bestehen, ihn nicht einzulassen. Er sah auf Teddys Schuhe und Hose hinunter, die immer noch feucht vom Fluss waren.
Als Vernunft nichts half, packte Teddy ihn am Kragen und schob ihn beiseite. Er eilte den Gang hinunter, fand den Speiseraum und sah Nash an einem Ecktisch beim Fenster. Eine schöne, exotisch aussehende Frau saß bei ihm. Ihre Haut war tiefbraun, ihr Gesicht fein und sanft.
Das Licht in Nashs Augen glühte ein wenig, als Teddy sich dem Tisch näherte. Als Nash an ihm vorbeischaute und nickte, drehte sich Teddy um und sah, wie der Mann, an dem er sich gerade rüde vorbeigedrängt hatte, seine Jacke zurechtrückte und kopfschüttelnd, wie es kleine Männer tun, den Gang hinunter verschwand.
»Setzen Sie sich«, sagte Nash. »Wir genießen gerade den Wein. Möchten Sie auch ein Glas?«
Teddy nickte, obwohl er keinen Wein wollte. Ein Kellner erschien mit einem dritten Glas und einer Flasche Williams & Selyem Pinot Noir.
Als das Glas halb gefüllt war, stellte Nash Teddy seiner Freundin Lynn Guzman vor. Sie lächelte warmherzig und reichte ihm ihre Hand. Teddy schüttelte sie höflich, bemerkte ihren britischen Akzent und war froh, als sie sich entschuldigte, um einen Anruf zu machen. Sie zog sich zurück. Es war natürlich eine höfliche Geste von jemandem, der merkte, dass etwas anstand, ohne es auszusprechen.
»Gehen wir nach draußen«, sagte Nash. »Nehmen Sie lieber Ihr Glas mit.«
Er folgte Nash auf die Terrasse. Gasbrenner hielten den Platz warm. Es gab Bänke und Stühle, die entlang der gesamten Länge des Gebäudes in kleinen Gruppen arrangiert waren. Nash blieb am Geländer stehen und blickte auf die Stadt. Teddy trat neben ihn und dachte, dass der Name des Klubs perfekt zur Lage passte.
Die Aussicht von der Terrasse des Skyline-Klubs war fantastisch. Er konnte die ganze Stadt überblicken, vom Kunstmuseum bis zu den blauen Lichtern, die die Benjamin Franklin Bridge umrahmten.
»Es scheint, Sie hatten einen langen Tag«, sagte Nash mit leiser Stimme, obwohl sie unter sich waren.
Teddy sah ihn an. »Sie wissen es, nicht wahr? Sie wissen über die zweite Leiche Bescheid.«
»Wir hörten es im Radio, als wir herfuhren. Ich habe schon erwartet, dass Sie mich morgen wieder aufsuchen würden.«
»Es besteht die Möglichkeit, dass er unschuldig ist«, sagte Teddy.
Nash nippte an seinem Wein, ohne etwas zu sagen. Aber Teddy konnte sehen, dass er einen Nerv getroffen hatte und Nash sich seine Gedanken machte.
»Sie wissen das auch, nicht wahr?«, sagte Teddy. »Deshalb haben Sie mir eigentlich die Geschichte von Derek Campos’ Verhaftung und seiner Hinrichtung erzählt. Deshalb haben Sie Ihre Hilfe verweigert. Trotz der Beweise wussten Sie, dass es möglich ist, dass Holmes auch unschuldig sein könnte.«
»Sie legen Bedeutungen in Dinge hinein, die nie so gemeint waren. Als ich Ihnen diese Geschichte erzählt habe, dachte ich dabei nicht an Holmes. Ich dachte dabei an Ihren Vater. Er war unschuldig, nicht wahr?« Nash starrte ihn jetzt an. Sein Blick wirkte, als hätte er den Nachmittag in seiner Bibliothek verbracht und sich über das Thema informiert.
Aber Teddy war nicht bereit für die Frage. Er griff nach seinen Zigaretten und zündete sich eine an. Er hatte nie mit jemandem darüber gesprochen, was mit seinem Vater passiert war und war selbst überrascht, als er sich Ja sagen hörte.
»Es war der Buchhalter«, sagte Nash. »Er hat den Partner Ihres Vaters ermordet. Die drei waren Freunde.«
Die Sicht der Skyline verschwand. Teddy merkte, wie er in den Abgrund starrte und nickte. »Sie haben an einem Projekt gearbeitet«, flüsterte er. »Es war viel Geld im Spiel. Der Partner meines Vaters erwischte den Buchhalter, wie er Geld veruntreute und konfrontierte ihn damit.«
»Der Buchhalter hat den Partner Ihres Vaters ermordet und es nach etwas anderem aussehen lassen.«
Teddy zog an der Zigarette. »Es war eine kleine Polizeistelle im Vorort. Sie hatten wenig Erfahrung und machten viele Fehler. Nachdem mein Vater im Gefängnis starb, hatte der Buchhalter einen Nervenzusammenbruch und gestand. Eine Woche später versuchte er sein Geständnis zu widerrufen, aber es war zu spät. Er wusste Dinge, die nur der Mörder wissen konnte. Sie hatten ihn.«
»Sie waren damals noch ein Junge. Wie haben Sie sich gefühlt, als die Polizei Ihren Vater mitnahm?«
Teddy schüttelte bei dieser Erinnerung den Kopf. »Warum müssen wir darüber reden?«
»Weil es wichtig ist. Wie haben Sie sich gefühlt?«
»Ich wollte sie töten«, flüsterte er.
»Ging die Wut mit der Zeit weg?«
»Nicht wirklich.«
Nash machte eine Pause, um das aufzunehmen. »Als Sie in den Mordfall von Darlene Lewis hineingezogen wurden, kamen da die Erinnerungen an Ihren Vater wieder hoch?«
Teddy nickte. »Alles wurde wieder lebendig.«
»Wurde es schlimmer?«
»Ja.«
»Als Sie das erste Mal ihre Leiche sahen, was dachten Sie da?«
»Dass ich vielleicht krank bin. Dann konnte ich nur an den Mann denken, der das getan hat.«
»Und als Sie Holmes das erste Mal trafen, konnten Sie da immer noch ihre Leiche sehen? Konnten Sie immer noch Darlene Lewis’ verstümmelten Körper vor Ihren Augen liegen sehen?«
»Ich konnte das Bild nicht aus meinem Kopf bekommen.«
»Es machte Sie wütend«, sagte Nash.
»Nachdem der Schock vorbei war, ja.«
»Als Sie mit Holmes im selben Raum waren und mit ihm sprachen, machte er da den Eindruck eines Killers? Sah er wie einer aus? Benahm er sich so?«
Teddy nickte, unfähig zu sprechen. Er war sich genau bewusst, dass sich beinahe das wiederholte, was seinem Vater angetan worden war. Die Vorstellung verfolgte ihn, seit das kleine Mädchen von nebenan in Holmes Atelier getreten war.
Er nahm sein Glas hoch und trank es mit zwei schnellen Schlucken aus. Die Flut von Fragen fühlte sich nicht wie ein Verhör an. Stattdessen war eine gewisse Freundlichkeit in Nashs Stimme. Sogar Verstehen und Mitgefühl, als er Teddy weiter bedrängte. Nash trug die Schichten ab und wies auf seine Vorurteile hin. Er grub eine Linie in das schwarze Loch seiner Vergangenheit und gab Teddy eine erste Vorstellung eines Ausweges. Als Nash fragte, wie die zweite Leiche gefunden wurde, erzählte Teddy ihm alles über die Ereignisse dieses Nachmittags. Nash schien besonders fasziniert über den Anruf von Dawn Bingle zu sein und stimmte Teddy zu, dass er zum Bootshaus hingeführt worden war.
»Der Anruf könnte harmlos gewesen sein, aber das ist unwahrscheinlich«, sagte Nash. »Es besteht die Möglichkeit, dass sie die Leiche gefunden hat und nichts mit der Polizei zu tun haben wollte, aber das glaube ich nicht. Am Ende haben wir nicht genug Informationen, um Vermutungen anzustellen.« Nash wandte sich wieder der Aussicht zu, seine kobaltblauen Augen schienen gedankenverloren.
Es verging eine Weile, bevor er das Schweigen unterbrach, seine Stimme blieb leise, obwohl sie alleine waren. »Es gibt also eine zweite Leiche«, sagte Nash. »Einen zweiten Mörder. Aber ich nehme an, Sie haben mir noch nicht gesagt, was Ihren Meinungsumschwung verursacht hat.«
»Valerie Kramp wurde im Oktober entführt, aber erst vor ein paar Wochen ermordet. Ich war gerade in Holmes’ Apartment. Es wäre für ihn nicht möglich gewesen, sie dort festzuhalten. Holmes hat ein Leben. Er hat Freunde. Nachbarn. Einen Terminplan und einen Vollzeitjob. Falls die Morde miteinander in Beziehung stehen, dann besteht die Möglichkeit, dass Holmes unschuldig ist – die Möglichkeit, dass der Staatsanwalt und alle anderen auf die physischen Beweise schauen und sie aus irgendeinem unerklärlichen Grund falsch liegen.«
Nash nahm noch einen Schluck Wein. »Es sieht eigenartig aus, nicht wahr?«
Teddy blieb ruhig und beobachtete, wie Nash laut überlegte.
»Wenn Holmes schon zuvor getötet hat«, sagte Nash, »wenn Darlene Lewis nicht sein erstes Opfer war… wie oft hat man von einem Mörder gehört, der, wie er, am helllichten Tag in blutigen Kleidern von einem Tatort flüchtete? Sie sind gewöhnlich viel cooler, ihre Handlungen besser geplant.«
Die Frage blieb im Raum stehen. Beide starrten auf das eine Zeichen, das am Tatort hinterlassen worden war und das von Holmes weg zeigte.
»Dann stimmen Sie zu, dass es möglich ist«, sagte Teddy.
Nash drehte sich um und sah ihn lange an. »Wichtig ist, dass Sie das glauben. Aber das heißt noch lange nicht, dass Holmes es nicht war, Teddy. Wir reden hier nur bei einem Glas gutem Wein.«
Teddy schaute in den Speisesaal und sah, wie Nashs Freundin an den Tisch zurückkehrte. Nash folgte seinem Blick und drehte sich wieder um.
»Er hat Darlene Lewis nicht umgebracht«, sagte Teddy.
»Nein, hat er nicht.«
»Er hat ihr nicht dieselben Dinge angetan.«
Nash senkte sein Glas. »Sagen Sie mir, was Sie glauben, dass der nächste Schritt ist«, sagte er.
»Sie brauchen Zeit, um die Beweise zu bearbeiten. Die Autopsie ist für morgen eingeplant. Während sie damit beschäftigt sind, muss ich herausfinden, ob es eine Verbindung zwischen Holmes und Valerie Kramp gibt.«
»Es ist wichtig, dass Sie auch bei der Autopsie dabei sind. Bringen Sie morgen früh die Mordakte vorbei, damit ich sie mir genauer ansehen kann. Und rufen Sie heute Nacht noch Barnett an und sagen Sie ihm, dass ich auf jeden Fall dabei bin.«
Er war dabei. Teddy fühlte sich erleichtert, als er Nash das sagen hörte. Aber genauso war Teddy jetzt dabei. Er dachte an den Schadensfall, an dem er gestern noch gearbeitet hatte, sogar noch heute Nachmittag. Er schien da noch so wichtig zu sein. Jetzt war er bedeutungslos. Tausende Kilometer weg. »Ich rufe ihn auf dem Heimweg an«, sagte er. »Aber ich habe es heute Abend vermasselt. Sie glauben, dass Holmes mir gesagt hat, wo die Leiche zu finden ist. Sie glauben, dass ich sie deshalb gefunden habe.«
Nash zeigte ein schwaches Lächeln. »Wenn ich an deren Stelle wäre, Teddy, bin ich nicht sicher, ob ich Ihre Geschichte geglaubt hätte. Lass die für den Moment denken, was sie wollen. Wir sind erst am Anfang.«
Nash öffnete die Tür und sie gingen wieder zurück in den Speiseraum. Als Nash Teddy noch ein Glas Wein anbot, lehnte er ab. Er wollte bei klarem Verstand bleiben. Die Nacht war ein Hin und Her zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Er musste einen großen Druck aushalten und war froh, dass er am Nachmittag diese Flasche mit Aspirin eingesteckt hatte. Dennoch fühlte er sich erleichterter über die Entwicklung der Dinge und nickte sogar dem kleinen Mann hinter dem Empfangstisch auf dem Weg nach draußen zu.
Als er in sein Auto gestiegen war und sich in den fließenden Verkehr einfädelte, versuchte er Barnett zu erreichen, aber bekam wieder mal nur dessen Anrufbeantworter dran. Er nahm an, dass Barnett vom zweiten Mord gehört hatte und gerade Holmes’ Familie tröstete. Teddy hinterließ eine lange Nachricht, berichtete was passiert war und dass er den ganzen Tag damit verbracht hatte, aber dass William S. Nash jetzt auch mit an Bord sei. Teddy hasste lange Nachrichten, aber er wollte Barnett nicht in der Luft hängen lassen. Er wollte ihm eine gewisse Hoffnung geben. Alles hatte sich geändert. Sie würden Holmes nicht durch das System begleiten, damit er den Rest seines Lebens in einer Anstalt für kriminelle Geisteskranke verbringen konnte. Sie würden nicht versuchen, einen schnellen Deal mit Alan Andrews zu machen. Jetzt schon gar nicht.
Er bog am Bahnhof an der Dreißigsten Straße rechts ab und fuhr auf die Schnellstraße. Der Nebel hatte etwas nachgelassen und er konnte die Lichterkette an den Gebäuden auf der anderen Seite des Flusses entlang der Bootshäuser sehen. Als er in den Rückspiegel blickte, sah er die Stadt in den Wolken und ließ seine Gedanken schweifen. Er war nicht sicher, ob er heute Nacht schlafen konnte. Wenn Holmes nicht der Mörder war, wenn er zum Verbrechen dazukam und es störte, dann hieß das, dass der wahre Mörder immer noch draußen herumlief. Irgendwo in einem dieser Gebäude, die hinter ihm im rauchigen Dunst erleuchtet waren.