EINUNDZWANZIG
Teddy war auf den Geruch nicht vorbereitet… Es kam wie eine Welle auf ihn zu und wurde immer bedrückender, je weiter er in das Gebäude der Gerichtsmedizin hineinging und schließlich die Untersuchungsräume erreichte. Der Geruch des Todes war so stark, dass Teddy dachte, es würde ihn umhauen.
Als Junge hatte er einmal einen Hirsch gefunden, der am Straßenrand lag. Als Student, erinnerte er sich, öffnete er einmal einen Kühlschrank, der schon seit einer oder zwei Wochen ausgeschaltet war. Aber nichts, was er in seiner Vergangenheit erlebt hatte, kam dem auch nur annähernd nahe.
Sie hielten vor einem Raum an, der wie ein Vorbereitungsraum aussah. Teddy folgte Andrews, Powell und Detective Vega hinein. Während zwei Gerichtsmediziner Overalls verteilten, erwischte Teddy Andrews dabei, wie er ihn anstarrte. Der Mann lachte ihn an und musste auf Teddys Reaktion auf die faulen Gerüche gewartet haben.
»Man gewöhnt sich daran«, sagte Vega.
»Wie lange dauert es?«
»Ein paar Jahre«, warf Andrews ein.
Teddy ignorierte Andrews und zog vorsichtig den Overall über, da er aus Papier war. In der Ecke des Raumes sah er mehrere Overalls im Abfalleimer und ihm wurde klar, dass die Schutzkleider weggeworfen wurden, wenn die Autopsie vorüber war. Er warf einen Blick auf Powell und bemerkte ihre langen Beine, als sie den Papieranzug über ihren kurzen schwarzen Rock streifte. Sie hatte Holmes Scheckheft nicht erwähnt. Sie hatte noch kein Wort zu ihm gesagt, seit sie das Gebäude betreten hatte. Er wusste, dass sie immer noch wütend auf ihn war und ihm seine Story, wie er Valerie Kramps Leiche im Bootshaus gefunden hatte, nicht glaubte. Noch schlimmer war für sie, dass es jetzt vorbei war. Es war in dem Moment vorbei, als Andrews das Auffinden der Leiche zu seinem Verdienst gemacht hatte. Sie sah frustriert aus, versuchte, ihren Job angesichts Andrews politischer Karriere abzuwägen. Wenn er die beiden in ihrer Interaktion beobachtete, schienen sie so verschieden wie Tag und Nacht zu sein und er fragte sich, ob sie miteinander zurechtkamen.
Teddy knöpfte seinen Overall zu. Ein Mediziner reichte ihm eine Art Duschhaube und eine Schutzbrille, zeigte auf die Gesichtsmasken und auf eine Schachtel mit Latex-Handschuhen auf dem Tisch, wobei er ihn vor den Gefahren von Tuberkulose und HIV warnte. Als jeder entsprechend angezogen war, betraten sie den Untersuchungsraum.
Die Wände waren gefliest. Die rostfreien Rollbahren waren leicht nach vorne gekippt. Die nackten Körper von Darlene Lewis und Valerie Kramp lagen Seite an Seite wie tote Zwillinge.
Teddy erschauerte bei dem scheußlichen Anblick und sah weg. Als er Andrews erneut dabei erwischte, wie er ihn anstarrte, sogar hinter der Maske lächelte, wusste er, dass der Mann auch auf diesen Moment gewartet hatte.
Der Mediziner stieß Teddy an und wies auf die Schienen der Rollbahre. Sie sahen eher wie Regenrinnen auf dem Dach eines Hauses aus. Er sah die Löcher am Fuße der Bahre und verstand jetzt, warum sie leicht nach vorne geneigt waren. In ein paar Minuten würden Körperflüssigkeiten die Schienen hinunter rinnen und durch die Löcher abfließen wie Regen auf den Boden.
»Wenn Sie anfangen ohnmächtig zu werden«, sagte der Mediziner«, dann verlassen Sie den Raum. Glauben Sie mir, wir wollen den Kontakt zum Boden minimal halten.«
Andrews lächelte wieder; Carolyn Powell und Detective Vega sahen ihn gelassen an. Teddy biss die Zähne hinter seiner Maske zusammen und beschloss, dabeizubleiben. Aber es war hart. Er blickte auf Valerie Kramps Körper auf dem weiter entfernten Tisch; ihr Brustkorb war bereits wie eine Jacke geöffnet. Dann sah er wieder auf Darlene Lewis’ Gesicht, deren Augen aus dem Kopf hervorquollen. Während er seinen Blick über ihren Körper wandern ließ und die Blutergüsse an ihrem Hals und die fehlenden Hautstellen aufnahm, machte der Mediziner den ersten Schnitt. Es war ein langer, tiefer Schnitt, als ob Darlene Lewis ein Stück Fleisch wäre. Noch schlimmer: Der Einschnitt war identisch mit der Wunde, die der Mörder Valerie Kramp bereits zugefügt hatte. Der Schnitt formte den Buchstaben Y, ging von den Schultern des Mädchens über ihre obere Brust und gerade hinunter zur fehlenden Haut direkt über der Vagina. Als der Mediziner die Geflügelschere nahm und anfing, die Rippen des Mädchens wegzuschneiden, merkte Teddy, dass er genug gesehen hatte und hielt seinen Blick für den Rest des Geschehens auf das Gesicht des Mediziners gerichtet.
Die Arbeit dauerte ewig. Der Mediziner zeigte keine Emotion, nur jede Menge Neugier und Professionalität. Bei jedem Schritt nahm er seine Beobachtungen auf ein Tonbandgerät auf. Er hielt oft inne, um seine Hände abzuwischen und etwas aufzuschreiben. Manchmal tauschte er sich mit dem Mediziner aus, der auf der nächsten Rollbahre an Valerie Kramp arbeitete. Gelegentlich wanderte Teddys Blick auf einen der Körper, aber je weiter die Autopsien fortschritten, desto schlechter wurde die Sicht und seine Augen richteten sich wieder nach oben. Jedes Mal, wenn er zu Andrews hinschaute, sah er, wie der Mann ihn anstarrte. Es war fast so, als ob der Staatsanwalt den Horror der Autopsie als eine Art Initiation oder Mutprobe ansah; fast, als ob Andrews ihn verhöhnte und hoffte, er würde ohnmächtig werden.
Aber die schaurige Zerreißprobe trug Früchte. Sie war es wert, denn sie lernten etwas. Als der Mediziner Darlene Lewis’ Hals untersuchte, fand er zerrissene Knorpel und einen gebrochenen Knochen, was darauf hinwies, dass sie durch Strangulation starb. Und es war schnell gegangen, bemerkte der Mediziner. Der Mord wurde von jemandem mit starken Händen verübt.
Teddy versuchte nicht an die Größe von Holmes’ massiven Händen zu denken oder an die Fingerabdrücke, die am Hals des Mädchens wie eine Perlenschnur unter dem Schwarzlicht am Tatort geleuchtet hatten. Als er sich im Raum umblickte, war es offensichtlich, dass alle anderen dasselbe dachten, aber den Gedanken nicht heraus ließen.
Obwohl das Ende für Darlene Lewis schnell kam, schloss der Mediziner, dass sie vielleicht zwei Stunden lang vom Mörder gefoltert wurde, bevor sie starb. Der Gerichtsmediziner wies auf die fehlende Haut hin. Er verglich es mit einem Vorspiel und sagte, sie wurde wahrscheinlich entfernt, als sie noch lebte. Detective Vega schien auch schon zu diesem Schluss gekommen zu sein und meinte, das würde die Blutmenge am Tatort erklären. Der Gerichtsmediziner stimmte zu und sagte ihnen, dass der Killer die Haut wahrscheinlich entfernte und darauf wartete, bis sie verblutet sei. Dann habe er aus irgendeinem Grund seine Meinung geändert und sie erwürgt. Holmes’ Name wurde hemmungslos erwähnt. Auch gab es eine lange Diskussion darüber, was er wohl mit der Haut gemacht hatte. Alle Schlüsse waren vorläufig und Teddy hörte zu, ohne etwas zu sagen. Irgendwann begann er sich zu fragen, ob sie vielleicht vergessen hatten, dass er im Raum war. Als aber der Gerichtsmediziner seine eigene Theorie anbot – dass Holmes die Haut des Mädchens vor ihren Augen gegessen und sie dann getötet hatte, als sie bewusstlos wurde – wurde es plötzlich ganz still im Raum.
Das Schweigen unterstrich ihre gemeinsame Theorie: Holmes stand in dem Moment nicht mehr unter Schock, als Darlene Lewis bewusstlos wurde; er hatte seine Zuschauerin verloren und der Nervenkitzel war vorbei. Das war die Tat von jemandem, der mehr als gestört und noch viel mehr als krank war. Als sie ohnmächtig wurde, erwürgte er sie – so einfach war das.
Valerie Kramps Schicksal war viel weniger aufschlussreich, weil sie lange im Fluss gelegen hatte. Dennoch hatte das kalte Wasser sie besser konserviert, als die beiden Gerichtsmediziner gedacht hätten. Obwohl sie eine begeisterte Joggerin war und sich am Tag, als sie verschwand, wahrscheinlich in guter Form befand, hatte ihr Muskeltonus nachgelassen, bevor sie starb. Sie wurde geschwächt, vielleicht war sie sogar verhungert. Eine Untersuchung ihres Halses enthüllte, dass Kramp auf genau die gleiche Weise starb wie Darlene Lewis. Es war nicht der Schnitt – das Zungenbein war gebrochen, was darauf hinwies, dass sie ebenfalls durch Strangulation starb.
Andrews schien aufgrund der Verbindung auszuflippen und stieß überschwänglich eine Faust in die Luft.
Während die anderen den Ausbruch des Staatsanwaltes ignorierten, bemerkte Teddy, dass beide Mediziner Kramps offenen Brustkorb besonders interessant fanden. In ihrem Körperinnern waren die Dinge nicht unbedingt da, wo sie sein sollten. Das Bustier hatte sie zusammengehalten, ihre Organe gut konserviert. Das Wort Kannibalismus kam wieder auf, trotz Teddys Gegenwart. Die Mediziner diskutierten erneut darüber, wie lange sie wohl schon im Wasser gelegen hatte, und kamen zu der Übereinstimmung, dass sie nicht sicher sein konnten, was geschehen war. Was beide beunruhigte war der Umstand, dass allem Anschein nach Dinge in ihrem Körper angefasst und womöglich absichtlich versetzt wurden.
Teddy spürte, wie ihm allmählich übel und schwindlig wurde. Er hatte sich alle Mühe gegeben und lange gekämpft, wusste jetzt aber, dass er erledigt war. Als er sich aus dem Untersuchungsraum entschuldigte, kicherte Andrews.
»Was habe ich euch gesagt«, meinte der Staatsanwalt hinter ihm her. »Er bringt’s einfach nicht. Er ist halt noch ein Kind und hat nicht das Zeug dazu.«