ZWEIUNDFÜNFZIG

Er fand Jill in seinem Büro beim Drucker. Sie hatte die Fälle des Staatsanwaltes der letzten zehn Jahre herausgesucht. Es gab Hunderte, Tausende – der Drucker spuckte so viel Papier aus, dass Teddy nur noch an tote Bäume denken konnte.

»Was hat Stokes gesagt?«, wollte Jill wissen.

Teddy zuckte die Achseln. »Ich bin bereits erledigt, aber das sollte ich noch nicht wissen. Er gab mir ein paar aufmunternde Worte.« Er setzte sich an den Computer und ging die Liste auf dem Monitor durch. Sie hatten einen Fehler gemacht. Weil Andrews der Staatsanwalt war, bezogen die Suchparameter jeden Fall ein, den die Behörde seit der Wahl behandelt hatte. »Wir müssen das hier stoppen«, sagte er.

Jill beugte sich über seine Schulter, nahm die Maus und drückte auf Abbrechen. Als der Drucker weiter Bäume auffraß, fuhr sie die Maschine herunter, um den Speicher zu löschen und startete neu.

»Was passt nicht?«, fragte sie.

»Ich will die Suche auf Fälle eingrenzen, die Andrews als Ankläger selbst behandelt hat.«

»Wonach suchst du?«

»Keine Ahnung«, sagte er. »Ich weiß nur, dass wir keine Zeit haben, so viel Papier durchzugehen.«

Sie tauschten die Plätze. Jill änderte die Suchparameter. Innerhalb weniger Minuten spuckte der Drucker noch mehr Papier aus. Es waren zweihundertsiebenunddreißig Fälle. Es schien immer noch überwältigend, aber Teddy schnappte sich die Ausdrucke, setzte sich an seinen Schreibtisch und fing an. Er hatte zwei Kopien der Liste. Die erste war nach dem Urteilsspruch aufgelistet, die zweite nach der Straftat.

Teddy fing mit der zweiten Liste an, sortierte die Vergehen aus und konzentrierte sich auf die Verbrechen. Davon gab es nur fünfundsiebzig. Als er sie mit den Straftaten abglich, fielen drei auf. Jeder Fall passierte innerhalb der ersten beiden Jahre von Andrews Beförderung zum Morddezernat in der Staatsanwaltschaft. Jeder Fall wurde verloren.

Im ersten Fall ging es um einen Mann, der beschuldigt wurde, seine Frau ermordet zu haben. Ihr wurde einmal in die Brust geschossen. Die Ärzte konnten sie nicht wiederbeleben und sie wurde am Tatort für tot erklärt. Der Mann behauptete, es sei ein Unfall gewesen. Seine Frau sei in dem Moment um die Ecke gekommen, als sich beim Waffenreinigen ein Schuss löste. Obwohl er sagte, dass er nicht wusste, dass die Waffe geladen war, war er ein Waffensammler und hätte es wissen müssen. Andrews nahm an, dass er log und verfolgte den Fall aufgrund von Befragungen der Nachbarn, die gehört hatten, wie das Paar sich früher am Tag gestritten hatte. Der Gerichtsmediziner stimmte zu. Für den Tod der Frau war nur eine einzige Kugel nötig, weil es ein Volltreffer war, der direkt auf ihr Herz gerichtet wurde. Aber Andrews war damals ein junger stellvertretender Staatsanwalt. Er hat wenig Erfahrung in der Auswahl der Geschworenen. Er wählte hauptsächlich Frauen aus und dachte, sie würden mit dem Opfer sympathisieren. Er hatte aber nicht mit dem Angeklagten gerechnet. Er war ein Frauentyp. Geschmeidig, attraktiv, sogar sympathisch. Was Andrews nicht merkte war, dass jede Frau der Geschworenen verliebt in den Typ war. Sie konnten ihre Augen nicht von ihm lassen. Als der Mann in den Zeugenstand trat und zu seiner eigenen Verteidigung sprach, bearbeitete er die Frauen unter den Geschworenen wie Gato Barbieri es mit seinem Saxofon tat. Er sprach über die Liebe zu seiner Frau, seine Hingabe, wie sehr er sie vermisste. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und sagte, sein Leben sei ruiniert und es sei ihm egal, was jetzt mit ihm passiere. Die Geschworenen nahmen ihm das ab und sprachen den Mann frei. Später erfuhr Andrews, dass der Mann schon seit sechs Monaten ein Verhältnis mit einer jüngeren Frau hatte, die etwas weiter die Straße runter wohnte. Sie zog am Tag seiner Haftentlassung bei ihm ein.

Im zweiten Fall ging es um einen bewaffneten Raubüberfall auf einen Gemischtwarenladen, der in einem Mord endete. Obwohl der Vorfall nach Mittenacht passierte, waren drei Leute Zeugen der Schießerei. Ein junger Mann mit einer Skimaske über dem Kopf ging mit gezogener Waffe zur Theke. Als er das Bargeld aus der Kasse eingesteckt hatte, schoss er vier Mal auf den Angestellten, bevor er floh. Als er über den Parkplatz rannte, zog er die Maske ab, wodurch drei Zeugen sein Gesicht gut sehen konnten. Der Mord war sogar auf einem Videoband einer Kamera, die hinter der Theke angebracht war, aufgezeichnet. Andrews dachte, der Fall sei eine todsichere Sache. Er glaubte, dass er nicht verlieren könne, tat es am Ende aber doch. Der Angeklagte war Mitglied einer Gang. Die Namen der Zeugen waren aufgrund ihrer Aussagen bei der Voruntersuchung offiziell belegt. Furcht und Einschüchterung florierten. Ein Zeuge nach dem anderen machte einen Rückzieher. Und die Bandaufzeichnung war nicht überzeugend. Wegen der Skimaske und der schlechten Bildqualität war es unmöglich, den Mörder zu identifizieren. Andrews nahm die Niederlage hin und ein weiterer Mörder kam frei.

Es war aber der dritte Fall, der dem Mann wirklich zugesetzt haben muss. Als Teddy die Zusammenfassung las, wunderte er sich, wie Andrews es dennoch geschafft hatte, bis ganz nach oben zu kommen. Es war ein brutaler Fall, aber viel undurchsichtiger als die anderen. Ein Teenager wurde beschuldigt, seine Freundin erschossen zu haben, als er erfahren hatte, dass sie schwanger war. Die Waffe wurde nie gefunden. Das Verbrechen geschah nachts in einer Gasse abseits der Straße. Andrews hatte eine Augenzeugin, die die beiden unter einer Straßenlampe stehen sah. Es war eine Frau mittleren Alters, die einen Schuss hörte und mit dem Jungen zusammenstieß, als er zu fliehen versuchte. Eine weitere sichere Sache. Noch ein Fall, von dem der junge Alan Andrews dachte, er könne ihn nicht verlieren. Was noch besser war: Der Junge konnte es sich keinen eigenen Verteidiger leisten. Stattdessen wurde ein Anwalt vom Gericht bestellt. Andrews hatte inzwischen seine Lektion gelernt und besetzte die Geschworenen mit Männern, die entweder Großväter oder Väter von jungen Mädchen waren. Die Verteidigung behauptete, der Junge wäre unschuldig. Das Mädchen sei von jemand anders erschossen worden, den niemand gesehen hatte. Die Polizei konnte die Mordwaffe nicht liefern und an den Händen des Jungen wurden keine Schmauchspuren gefunden. Andrews hielt dagegen, dass der Junge weggerannt sei, die Waffe vergrub und genug Zeit hatte, seine Hände zu waschen. Die Verteidigung sagte, dass der Junge rannte, um Hilfe zu holen und brachte Aussagen einer Reihe von Zeugen ein, die über den Charakter des Jungen aussagten. Nach übereinstimmenden Angaben liebte der Junge das Mädchen und hatte geplant, sie zu heiraten. Er ging mit dem Mädchen zum Schwangerschaftstest beim Arzt, konnte aber bei der Bekanntgabe des Ergebnisses nicht bei ihr sein. Ein Freund des Jungen bezeugte, dass sie darüber gesprochen hatten. Der Junge hatte gehofft, dass sie schwanger wäre und wünschte sich mehr als ein Kind, da er als Einzelkind aufgewachsen war.

Aber Andrews hatte seine Augenzeugin. Seine sichere Sache. Die Frau mittleren Alters kam in den Zeugenstand. Sie hatte den Schuss gehört und das Gesicht des Jungen gesehen. Sie behauptete, dass er praktisch in sie hineingerannt sei. Als Andrews fertig war, verbrachte der Verteidiger eine Stunde damit, die Einzelheiten im Kreuzverhör durchzugehen. Wie sicher sie war und warum. Dann verbrachte er eine Stunde damit, sie hinsichtlich der Körperbeschreibung des Jungen wiederholt zu durchlöchern. Sein Gesicht. Seine Augenfarbe, deren Form und Größe. Und wie waren seine Nase, sein Mund und das Haar? Der Verteidiger versperrte die Sicht der Zeugin auf den Angeklagten. Jedes Mal, wenn sie versuchte, um ihn herum zu spähen, trat er ihr in den Weg. Der Anwalt sagte, er wollte wissen, wie der Angeklagte in der Mordnacht ausgesehen habe, nicht jetzt. Was weder Andrews noch sonst jemand wusste war, dass der Verteidiger eine Künstlerin engagiert hatte, die im Gerichtssaal saß. Eine junge Frau, die am College Kunst lehrte. Sie skizzierte das Gesicht nach der Beschreibung der Zeugin. Als die Zeugenaussage fertig zu sein schien, zeigte der Verteidiger der Zeugin das Bild und fragte, ob das der Mann sei, der vom Tatort weggerannt war. Die Frau sagte Ja. Sie war diesbezüglich sicher. Das sei er. Dann reichte der Anwalt die Zeichnung an die Geschworenen zur Beurteilung weiter. Es war überhaupt nicht der Angeklagte. Die Ähnlichkeit war nicht einmal annähernd.

Teddys Augen gingen zur Zusammenfassung hoch. Er suchte den Namen des Verteidigers. Es war ein Mann, von dem er noch nie gehört hatte und das überraschte ihn. Seine Arbeit war beeindruckend und hervorragend.

Teddy legte den Stoß der Zusammenfassungen ab. Enttäuscht, dass er nichts Relevantes zum Fall Holmes gefunden hatte, ließ er seine Gedanken wandern. Drei Prozesse. Drei Niederlagen. Andrews hatte danach seine Wunden geleckt und sein Leben umgekrempelt. Er wurde gewiefter und fand einen Weg zu gewinnen. Trotzdem musste da etwas sein. Ein Grund, warum Andrews im Fall Holmes eine Verfahrensabsprache akzeptieren wollte. Andrews musste für den Deal eine Gegenleistung bekommen. Es musste eine Art Tauschhandel geben.

Teddy sah zu Jill, die etwas in den Computer tippte. »Was machst du?«, fragte er.

»Ich habe eine Webseite gefunden, die politische Spenden veröffentlicht«, sagte sie. »Andrews hat bereits eine Menge Geld in seiner Kriegskasse. Die Wahl ist aber noch mehr als ein Jahr hin.«

»Du meinst, da stehen die Namen? Die Spender?«

Jill nickte.

»Lies sie vor«, sagte er. »Ich brauche nur die Familiennamen.«

Teddy schnappte sich den Ausdruck. Während Jill die Namen laut vorlas, durchsuchte er Andrews Fälle. Es gab mehr als dreihundert Spender und es brauchte Zeit, alle Blätter durchzugehen. Aber nach einer Stunde fand er eine Übereinstimmung. Es war die einzige. Ein Fall den Andrews, ein Jahr bevor er Staatsanwalt wurde, behandelt hatte. Es ging nicht um ein Schwerverbrechen. Nicht einmal um ein geringfügiges Vergehen. Es war ein Fall, bei dem Andrews entschieden hatte, ihn nicht zu verfolgen. Stattdessen wurde der Beschuldigte in eine psychiatrische Einrichtung zur Behandlung geschickt. Sein Name lautete Edward Trisco III.

Teddy schaute sich die Zusammenfassung an. Offensichtlich war Edward ein aufstrebender Künstler mit einem Drogenproblem.