SIEBENUNDZWANZIG
Durch den Nebel konnte er seinen Vater sehen, der ihn aus dem Schnee hob und in seinen Armen wegtrug. Seine Zähne klapperten vor Kälte, seine Knochen zitterten wie Stöcke, die sich auf der Suche nach Hitze, nach Feuer aneinander rieben. Als Teddy über das Bild nachdachte, glaubte er, er hätte vielleicht die Fahrkarte ins Jenseits gelöst und das wäre die Sicht vom langsamen Zug aus, in dem die Toten befördert wurden. Sein Vater legte ihn auf sein Bett nieder, berührte die Wunde an seiner Stirn und verließ das Zimmer. Die Zeit raste vor und zurück. Teddy fand sich im Wind gefangen. Er war siebenundzwanzig, dann zwanzig. Als er aus dem Bett sprang und zum Fenster lief, konnte er sehen, wie die Polizisten seinen Vater mitnahmen. Da wusste er, dass er wieder vierzehn war.
Man hat das Geld nie gefunden. Der Buchhalter hatte den Geschäftspartner seines Vaters ermordet, als er dabei erwischt wurde, wie er große Geldsummen der Firma veruntreut hatte. Nachdem Teddys Vater für den Mord verhaftet wurde und später im Gefängnis starb, überkamen den Buchhalter am Ende Schuldgefühle, sodass er gestand. Dennoch hatte er nie jemandem erzählt, was er mit dem Geld gemacht hatte. Da er mit einem Schuldspruch für Mord und einem Leben hinter Gittern konfrontiert war, wusste er, dass er das nicht musste.
Geld war ein großes Thema in Teddys Leben, gerade seit sein Vater gestorben war. Jedes Mal, wenn er den Hörer abnahm, war ein anderer unhöflicher Fremder mit einer schroffen Stimme am Telefon und wollte seine Mutter sprechen. Er konnte hören, wie sie Fragen mit einem besorgten Ausdruck in ihrem Gesicht beantwortete. Ihre Antworten waren immer dieselben, auch als sie angefangen hatte zu arbeiten: »Nächste Woche«, sagte sie gewöhnlich. »Nächsten Monat.« Oder sogar: »Ich habe es im Moment nicht. Meine Familie zu ernähren hat Vorrang. Sie müssen einfach warten.« Sie war eine bemerkenswerte Frau. Nach jedem Anruf hatte es ein paar Minuten gedauert, aber sie hatte immer ein warmes Lächeln bereit. Immer eine liebe Umarmung für Teddy und seine kleine Schwester, nach einem dieser Anrufe. Manchmal waren ihre Umarmungen zu lieb, als ob sie sich vielleicht festhalten wollte. Das hatte ihm aber nicht wirklich etwas ausgemacht. Ihre Wangen waren weich und er liebte ihr langes, braunes Haar und den leichten, klaren Duft ihres Parfums.
Sie aßen anscheinend immer öfter Spaghetti, wie Teddy bemerkte. Und wenn seine Kleidung oder die seiner Schwester, abgetragen war, wendete seine Mutter sie oder bügelte Flicken darauf, anstatt etwas Neues zu kaufen. Nachts schlich sich Teddy oft zur Scheune hinaus und beobachtete sie durch das Fenster beim Malen. Sie konnte wegen ihrer neuen Arbeit nur nachts und an den Wochenenden malen. Er wusste, dass das Malen für sie die wichtigste Sache der Welt war, etwas, das sie ihre Mission nannte. Aber sie sah müde aus und oftmals, wenn er durch das Fenster spähte, sah er sie weinen. Er wusste, dass sie einsam war und die ganze Sache sie belastete.
Trotzdem war es zu Hause viel besser als in der Schule. Teddy war nicht mehr der Sohn eines Mannes, der Welten baute. Nach Meinung seiner Klassenkameraden war Teddy nun der Sohn eines Mörders und würde wahrscheinlich auch zu einem heranwachsen. Der ganze Ärger fing mit Hänseleien an und gelegentlich machten sie sich über ihn lustig. Nach ein paar Wochen durfte er mit einigen seiner Freunde nicht mehr spielen – ihre Eltern wollten es nicht. Als Teddy seinen besten Freund dabei erwischte, wie er Teddys kleine Schwester in der Pause verhöhnte, sie eine dämliche Fotze und eine zukünftige Strafgefangene nannte, schlug ihm Teddy vier Zähne aus, bevor der Lehrer ihn wegziehen konnte.
Seine Suspendierung dauerte drei Tage – ohne einen Vortrag oder eine Ermahnung seiner Mutter, wie er sich erinnerte. Danach ließ jeder ihn und seine Schwester in Ruhe. Das Gesicht seines Freundes erinnerte sie daran, dass das besser war. Die falschen Zähne und der Haken auf seiner Lippe von Teddys Faust blieben, sogar als sie für das Jahrbuch als Oberstufenschüler fotografiert wurden.
Eigenartigerweise hatte der Buchhalter zwei Kinder in der gleichen Schule, die anscheinend nie etwas erdulden mussten. Selbst als deren Vater für den Mord schuldig gesprochen wurde und ins Gefängnis wanderte, schien jeder immer noch zu glauben, dass Teddys Vater der eigentliche Schuldige war. Teddy konnte sich das nicht erklären. Nach einigen Monaten dachte er, es läge daran, dass die Kinder des Buchhalters Mädchen waren.
Er teilte mit einer der beiden drei Unterrichtsstunden: Janice Sawyer benahm sich so, als ob nichts passiert wäre oder je passieren würde. Teddy wusste, dass das nur Show war, weil sie ihn nie ansah, nachdem ihr Vater ins Gefängnis gekommen war. Dennoch, trotz allem, was passiert war, faszinierte ihn ihr Verhalten und er fand es schwer, seine Augen von ihr zu lassen. Sie hatte natürlich blondes Haar und eine gewisse Gepflegtheit, die über ihr Alter hinausging. Sie wurde auch schneller erwachsen als die meisten anderen Mädchen. Er erinnerte sich daran, wie er sie am ersten Tag im neunten Schuljahr gesehen hatte. Es sah aus, als ob ihr im Sommer große Brüste gewachsen wären und sie sich in eine Frau verwandelt hätte. Teddy fand ihre Anziehungskraft auf ihn verwirrend, denn tief im Innern hasste er sie. Was es für ihn noch schwerer machte war, dass ihm auffiel, dass sie jeden Tag etwas Neues trug und ihre Kleidung teuer wirkte. Als er sich umhörte und herausfand, dass die Mutter des Mädchens nicht arbeiten musste, ging ihm das unter die Haut.
Teddy dachte oft an das Geld, das der Vater der Mädchen gestohlen hatte. Dieses Geld hatte ihr ganzes Leben ruiniert. Manchmal beschäftigte ihn das so sehr, dass er nachts keinen Schlaf fand. Er hatte seine Theorien – die wahrscheinlichste war, dass die Sawyers das Geld im Garten hinter dem Haus vergraben hatten. Er stellte sich oft vor es auszugraben und zu stehlen, während sie schliefen. Wie er es seiner Mutter gab und zusah, wie die Sawyers genauso litten wie seine Familie.
An einem Samstag ging er zu ihrem Haus und sah Janice’ Mutter bei der Gartenarbeit hinter dem Haus. Teddy versteckte sich zwei Stunden lang in den Büschen hinter einem Baum und behielt sie im Auge, aber es stellte sich heraus, dass sie nur Blumen pflanzte. Als er nach Hause kam, fand er seine Mutter, wie sie in der Küche ein paar alte Papiere seines Vaters durchging. Sie hatte den Nachmittag damit verbracht Schränke auszuräumen und hatte nicht den Leuten nachspioniert. Sie hatte eine Lebensversicherungspolice gefunden, von der sein Dad nie etwas gesagt hatte. Danach hatten sich die Dinge verändert und wurden leichter. Aber nicht gleich, denn die Versicherungsgesellschaft bestritt, dass die Police gültig war. Teddy war damals sechzehn und nahm an, dass die Versicherungsgesellschaft darauf hoffte, dass sich nach zwei Jahren niemand mehr darum kümmern würde anzurufen und sie das Geld für sich behalten könnten. Aber seine Mutter rief immer wieder dort an. Und als das nichts nützte, fragte sie einen Freund, Quint Adler, mit dem sie oft malte, und bat ihn zu sehen, was er tun könnte. Quint war ein Freund der Familie. Ihm gehörte eine Farm direkt an der Sanctuary Road weiter oben. Sein Bruder arbeitete für ihren Kongressabgeordneten und Teddy vermutete, dass der Anruf aus Washington der wahre Durchbruch war. Teddy betrachtete Quint dennoch stets als die Person in ihrem Leben, die versucht hatte, zumindest einen Teil des großen Unrechts wiedergutzumachen. Teddy war diesem Mann für immer dankbar. Jahre später, als Quint öfters bei seiner Mutter vorbeischaute, war Teddy sehr erfreut. Er hatte seinen Vater nicht ersetzt, sondern wurde nur ein weiteres Mitglied der Familie.
Das Geld reichte nicht aus, um sie reich zu machen, erinnerte sich Teddy. Es war nicht genug, um die Collegegebühren für ihn oder seine Schwester zu bezahlen. Es reichte nicht einmal, dass seine Mutter tagsüber malen konnte – sie konnte ihren Job nicht aufgeben. Aber damit hörten die unverschämten Telefonanrufe von all diesen Geldeintreibern auf. Niemand fragte mehr mit schroffer Stimme nach seiner Mutter. Und wenn doch, hatte Teddy die Erlaubnis aufzulegen.
Natürlich hatte Teddy damals geglaubt, dass das Geld weiter reichen würde. Er hatte es gehofft. Aber nachts, wenn er zur Scheune hinausschlich und durch das Fester seine Mutter beim Malen beobachtete, kam es vor, dass er sie immer noch weinend fand. Das Geld hatte nichts daran geändert. Es konnte die Toten nicht wiederauferstehen lassen oder einen Traum wahr machen, der von den Gierigen zerstört wurde. Es konnte keinen Ehemann oder gar einen Vater zurückbringen. Es war nur Geld.