ACHTUNDZWANZIG

Er konnte sie weinen hören. Der Klang seiner Mutter drang von der Scheune über den Schnee und ins Haus hinüber, bis er die andere Seite ihrer Schlafzimmertür erreichte. Es schien schon sehr spät zu sein…

Als er seine Augen öffnete, sah er Sally Barnetts Gesicht, das sich von seinem zurückzog, und er bemerkte, dass sie ihn gerade auf die Wange geküsst hatte. Er lag unter einer schweren Decke auf der Couch im Arbeitszimmer der Barnetts. Seine Schuhe waren ausgezogen, sein Hemd und seine Krawatte offen. Sally hielt einen Waschlappen in der Hand, tauchte ihn in eine Schüssel mit warmem Wasser und legte ihn wieder auf seine Stirn zurück. Er sah in das Feuer, das im Kamin brannte, dann wieder in ihr Gesicht. Es waren Sallys Tränen, die er gehört hatte, nicht die seiner Mutter, und sie sah mehr als nur verstört aus.

»Was ist passiert?«, flüsterte er.

»Ich habe Sie im Schnee gefunden.«

Er nahm die Nachricht auf, während er versuchte, sich wieder zu erinnern. Seine Arme und Beine fühlten sich schwer an. Er wusste nicht, wie er hierherkam oder warum, und er konnte durch den Schmerz, der über seiner Braue zog, nicht denken. »Ich habe Kopfschmerzen«, sagte er und stützte sich hoch.

Sie ließ den warmen Waschlappen auf seiner Stirn und erhob sich. Die Küche war hinter ihm und so konnte er nicht sehen, was sie tat. Als er hörte, wie sich mehrere Schränke öffneten und wieder schlossen, kehrten seine Augen zum Feuer zurück. Die Eichenscheite waren trocken, die Hitze erreichte ihn über den Raum und hüllte ihn wohlig ein.

Sally ließ sich auf der Couch nieder, gab ihm zwei Paracetamol und ein Glas kaltes Leitungswasser.

»Wie spät ist es?«, fragte er.

»Drei Uhr in der Früh. Als Sie nicht ins Krankenhaus zurückkamen, machte ich mir Sorgen und rief ein Taxi. Sie lagen unter einem Baum bei der Eingangstür.

Ihre Worte waren kaum hörbar, ihre Augen geschwollen vor Sorge. Teddy schluckte die Pillen und bemerkte, dass sie zitterte. Er erinnerte sich, dass Barnett einen Unfall hatte. Teddy war hergekommen, um ein paar Dinge für Sally zu holen und hatte gesehen, dass der Schnee in der gesamten Einfahrt voller Blut war. Was danach passierte, blieb unklar. Er fragte sich, ob er gegen einen Baum geprallt war.

Sally nahm das Glas und stellte es auf den Tisch. Dann nahm sie eine Tube Desinfektionsmittel, ein großes Heftpflaster und fing an, die Wunde an Teddys Kopf zu behandeln.

»Das ging knapp an der Schläfe vorbei«, sagte sie. »Glauben Sie, dass Sie eine ärztliche Behandlung brauchen?«

»Es geht schon«, sagte er, obwohl er sich nicht sicher war. Seine Kopfschmerzen waren viel zu heftig für die paar Pillen. »Wie geht es Jim?«

»Das wissen sie erst in ein paar Tagen«, sagte Sally und wandte ihr Gesicht ab. »Aber sie glauben, dass er durchkommen wird.« Sie bedeckte die Augen mit ihren Händen. »Der Wagen hat seine Beine zerquetscht. Sie wollen mir nicht sagen, ob er je wieder laufen kann. Seine Genesung wird Zeit brauchen, sagten sie. Viel Zeit. Ich kann nicht gut alleine leben.«

Teddy wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Die Erkenntnis dessen, was Barnett passiert war, schien so überwältigend, so schrecklich.

Sally wandte sich wieder ihm zu, betupfte seine Wunde mit Desinfektionsmittel und klebte das große Pflaster darüber. Als sie mit ihren Händen über seine Stirn strich, roch er den Duft von frischem Kaffee, der in der Küche gebrüht wurde.

Sie stand auf und verließ das Zimmer. Ein paar Minuten später kam sie mit zwei kochend heißen Tassen zurück.

»Jim ist ein Kämpfer«, sagte Teddy und versuchte hoffnungsvoll zu klingen.

Sie sagte nichts. Sie konnte nicht.

»Wenn die Ärzte sagen, dass er es schaffen wird, dann wird er es auch«, sagte er.

Sie hörte ihm zu und nickte, wobei sie sich am anderen Ende der Couch niederließ und an ihrem Kaffee nippte.

Barnett hatte einen starken Willen und war gut in Form. Teddy hatte genügend Zeit mit ihm verbracht, um zu wissen, dass, falls der Mann eine Chance hatte, er sie ergreifen und wahrnehmen würde. Obwohl es stimmte, dass er neuerdings verschiedenste unbekannte Medikamente zu sich nahm, hatte Teddy das an ihm noch nie bemerkt, bevor sie den Holmes-Fall übernommen hatten.

»Er war in letzter Zeit erregt, nicht wahr?«, meinte Teddy.

Sie drehte sich zum Feuer, ohne zu antworten. Ihr Gesicht war ausdruckslos, als sie in die Flammen starrte.

»Ich habe ihn zuvor nie so erlebt«, sagte er. »Es hat etwas mit Oscar Holmes zu tun.«

»Er will, dass es schnell abgeschlossen wird«, flüsterte sie.

»Das ist genau das, was ich nicht verstehe.«

»Er hatte ein problematisches Leben, Teddy.«

»Sie meinen Holmes?«

Sie nickte, während sie immer noch ins Feuer starrte. »Seine Familie war schon fast sein ganzes Leben lang um ihn besorgt.«

»Wie das?«

Sie machte eine Pause und dachte darüber nach. »Er schien sich nie anzupassen«, sagte sie nach einer Weile. »Er hatte immer seinen eigenen Kopf. Es gab Zeiten, als er erwachsen war, wo er sich nicht so gut um sich selbst kümmern konnte. Er hatte ein Problem mit Depressionen, aber ich glaube, Jim hat Ihnen das schon gesagt. Seine Familie wusste, dass es eines Tages zu so etwas kommen würde, und das tat es.«

»Jim sagte mir, dass er die Familie schon lange kennt«, sagte er. »Was ist das für eine Familie?«

Sie wandte sich ihm zu, das Feuer spiegelte sich in ihren Augen. »Oscar Holmes ist mein Bruder, Teddy. Mein Mädchenname ist Holmes.«

Das kam in etwa so subtil rüber wie ein Todesstrahl. Oscar Holmes war Sallys Bruder. Holmes war Barnetts Schwager. Diese Tatsache manifestierte sich im Zimmer wie ein tiefes Grab, das gerade aufgerissen und offengelegt wurde. Soweit Sally wusste, hatte ihr eigener Bruder zwei junge Mädchen brutal ermordet. Und jetzt sagte der Staatsanwalt, dass es vielleicht zehn weitere gäbe. Teddy wurde bewusst, dass sich eine weitere Familientragödie auftat. Er dachte wieder an Barnetts Schreibtischschublade – wie sie in den letzten Tagen zum Medikamentenschrank wurde. Und Barnetts Haltung von Anfang an – wie er telefonisch nicht erreicht werden konnte, und wenn doch, wollte er nur, dass der Fall schnell zu einem Ende kam und sichergestellt wurde, dass Holmes die Betreuung bekam, von der seine Familie dachte, dass er sie bräuchte. Barnett war die Familie, nicht ein mysteriöser Freund aus der Kindheit oder ein Klient der Firma. Die Morde waren nicht etwas, worüber man aus der sicheren Entfernung in Worten las, die in einer Zeitung stehen – Jim und Sally Barnett waren Teil der Geschichte und durch Familienbande eng mit dem Verbrechen verknüpft. Kein Wunder, dass Barnett die Sache nicht klar sehen konnte.

Teddy setzte seine Kaffeetasse ab. Es fiel ihm ein, dass Holmes an dem Abend, als er im Gefängnis ankam, ein R-Gespräch mit seiner Schwester führen wollte, sie es aber nicht annahm. Diese Schwester war Sally Barnett. Er sah sie am anderen Ende der Couch, ihr Kopf war gegen ein Kissen gelehnt und ihre Augen geschlossen. Ihr Atem war ruhiger und es schien, als ob sie schliefe. Er fragte sich, warum sie an jenem Abend den Anruf nicht angenommen hatte. Es schien seltsam, eigenartig. Sie hatte ihren Bruder auch nicht besucht.

Teddy hob die Decke und wickelte sie um Sally. Er schlüpfte in seine Schuhe und stand auf. Seine Beine waren etwas wackelig. Als er schließlich das Gleichgewicht fand und den Schmerz tief in seinem Kopf spürte, überlegte er, ob er nicht doch einen Arzt rufen sollte. Er sah seinen Mantel auf dem Stuhl beim Feuer und zog ihn an. Als er zur Haustür ging und hinausschaute, sah er, dass es wieder schneite. Er konnte den Abdruck sehen, den sein Körper direkt vor der Tür im Schnee gemacht hatte. Als er in die kalte Luft hinaustrat, knöpfte er den Mantel zu und besah sich die Markierungen, die er hinterlassen hatte, als er von der Einfahrt hochgekrochen war. Der Schneefall hatte sie fast überdeckt. Eigenartigerweise gab es eine Reihe von schwachen Fußabdrücken, die entlang der gleichen Spur verliefen. Er starrte eine Weile darauf und fragte sich, was er da vor sich hatte. Es hatte nicht wirklich den Anschein, als ob er zur Tür gekrochen wäre. Stattdessen sah es mehr so aus, als ob sein Körper dorthin geschleppt worden war.

Der geistige Nebel lichtete sich und löste sich schnell auf. Er erinnerte sich an das Schnapsglas aus Sterlingsilber mit großen Schiffen und Walen, die auf der Seite eingraviert waren. Er war nicht in einen Baum gerannt. Nichts, was heute Nacht hier passiert war, war ein Unfall. Er sah wieder auf den Schnee, der auf die Erde fiel und die Abdrücke schwächer machte und zudeckte.

Er rannte über den Rasen zu seinem Auto, wobei er den Schmerz ignorierte. Er riss das Handschuhfach auf, fischte die Taschenlampe heraus und schaltete sie ein. Dann eilte er in den Hof, nahm die Fußspuren auf und folgte ihnen über die Einfahrt bis zu den Bäumen. Es war schwer, sie zu sehen – die Abdrücke waren undeutlich geworden, einige durch den Schneefall bereits ganz verschwunden.

Da war ein Mann, erinnerte er sich. Die Gestalt von jemandem, der in der Dunkelheit direkt hinter ihm stand. Ein Hund hatte irgendwo in der Nachbarschaft gebellt, aber Teddy hatte es nicht als Warnung verstanden. Er ging zu der Stelle, an der er seiner Erinnerung nach mit dem Silber-Schnapsglas gestanden hatte, wo er niedergeschlagen wurde und umgefallen war. Er erwartete nicht, es dort noch zu finden, kniete sich aber trotzdem nieder und fuhr mit den Händen durch den Schnee. Nach fünfzehn Minuten hatte er das ganze Gebiet abgesucht und wusste, dass es zwecklos war. Der Mann war offensichtlich wegen des Schnapsglases zurückgekehrt, hatte Teddy gesehen, wie er es in seinem Schal hielt und ihn niedergeschlagen, als er sich umdrehte.

Teddy sah zum Haus zurück. Ein Licht nach dem anderen ging aus. Das dunkle Gebäude sah wie jedes andere in der Nachbarschaft aus.

Als die Brise wieder stärker wurde und er die Zweige über dem Kopf klappern hörte, tat er so, als ob er sich nicht fürchtete, obwohl er es doch tat. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in die andere Richtung und machte einen Schritt in die Baulücke an der Grenze zu Barnetts Haus. Er ließ den Lichtstrahl über den Schnee gleiten und konnte die Spuren, die von Baum zu Baum zur Straße hin führten, jetzt nicht mehr finden. Alles, was der Mann zurückgelassen hatte, war entweder weg oder ausgelöscht, außer jenen flüchtigen Eindrücken, die Teddy in seinem Kopf behielt.