ZWEI

Teddy Mack hatte gerade die erste Hälfte seines Geflügelsalat-Sandwichs gegessen und nahm einen Schluck Tee. Die heiße Brühe wärmte seinen Magen, half aber nicht viel in Bezug auf seine Füße. Er saß an der Theke eines Imbissstandes, der wie ein Restaurant eingerichtet war – nur ein Stand unter etwa fünfzig im Herzen des Reading Terminal Market. Dieser Platz war einmal ein Bahnhof gewesen. Jetzt war es ein Bauernmarkt mitten im Stadtzentrum mit frischen Früchten, Gemüse, Metzgerei, Bäckerei und verschiedenen Imbiss-Theken, an denen man Delikatessen aus fast jedem Land der Welt für nicht mehr als fünf Dollar kosten konnte. Teddy liebte den Geruch an diesem Ort, die Geräusche der Leute, die sich in den langen, schmalen Gängen drängten und von einem Stand zum nächsten gingen.

Heute hatte er das Restaurant aus einem viel praktischeren Grund ausgesucht: Vor zwei Monaten war ein Geldautomat an der Wand am Ende der Theke installiert worden. Teddy hatte nur zwanzig Minuten Zeit, bevor er wieder im Rathaus sein musste. Es war bloß zwei Blocks entfernt, aber es wurde kalt und dunkel und die Wettervorhersage kündigte weiteren Schneefall an.

Teddy wusste, dass seine Zukunft im Anwaltsbüro Barnett & Stokes sehr davon abhängen konnte, was nach der Mittagspause im Rathaus geschah. In zwanzig Minuten würde er Richter Roland Brey treffen, zusammen mit den Rechtsanwälten, die die Capital Insurance Life vertraten. Es war ein kleiner Fall, aber es war auch Teddys erster Fall, den er ganz alleine vertrat. Teddy hatte die juristische Fakultät an der Penn State absolviert und war erst vor drei Monaten als Anwalt zugelassen worden. Was aber den Fall so wichtig machte war, dass er ihm von Jim Barnett persönlich übertragen wurde, als Gefallen für einen der größten Firmenkunden der Kanzlei.

Teddy wusste, dass er das Mandat bekam, weil die Erfolgsaussichten gering waren. Damit Teddy gewinnen konnte, müsste Richter Brey Neuland betreten. Man musste nicht erfahren sein, um zu verstehen, dass Richter es nicht sehr mochten Neuland zu betreten. Teddy wusste auch, dass niemand sonst in der Kanzlei darin verwickelt werden wollte, weil es auf einen Fall von Körperverletzung hinauslief. Barnett & Stokes vertraten fünfunddreißig der fünfzig reichsten Unternehmen im Dreiländereck. Von privaten Untersuchungsfällen nahmen sie Abstand. Sie wurden höchstens sang- und klanglos an eines von drei Unternehmen in der Stadt abgegeben, die ihre Dienste nicht auf der Seite von Bussen bewarben.

Aber dieser hier war anders. Ein Gefallen für den Präsidenten der Pennwell Oil Company, der in das Büro von Jim Barnett hineinspaziert war und ihn fragte, ob da was zu machen wäre.

Vor fünfzehn Jahren war der Sohn des Mannes auf der I-70 nach Westen ins College unterwegs gewesen, als ein Sattelschlepper von hinten auf ihn auffuhr, der Petersilie und Basilikum für Golden Valley Spices & Co geladen hatte. Der Unfall war schrecklich und das Überleben des jungen Mannes ein Wunder. Er war mit einem VW-Bus unterwegs gewesen und hatte wegen Straßenbauarbeiten angehalten. Der Lastwagen war mit voller Geschwindigkeit und seinem ganzen Gewicht auf den VW aufgefahren.

Der Unfall ereignete sich in Washington, Pennsylvania, einer kleinen Stadt, etwa fünfzig Kilometer südlich von Pittsburgh. Als die Rettungskräfte ankamen, wurde der junge Mann ins Washington Hospital gebracht, das zu jener Zeit auch gerade renoviert wurde und voll belegt war.

Nach zwei Stunden untersuchte ein Arzt endlich den jungen Mann und es wurden einige Röntgenaufnahmen gemacht. Als feststand, dass keine Knochen gebrochen waren, wurde er ohne weitere Betreuung und ohne einen Ort, den er aufsuchen konnte, entlassen.

Die nächsten paar Tage waren für den jungen Mann ziemlich kompliziert. Die meiste Zeit verbrachte er in einem örtlichen Motel-Zimmer. Da er sich wegen der gestauchten Hals- und Rückenwirbel nicht bewegen konnte, wurde er von den Mitarbeitern des Motels betreut, bis ein Collegefreund aus dem achthundert Kilometer entfernten Washington kam, um ihn abzuholen. Was vom Besitz des jungen Mannes übrig war, wurde in das Auto des Freundes gepackt und zusammen fuhren sie dann zur Schule. Der junge Mann war in einer hervorragenden physischen Verfassung, als der Unfall passierte. Er rannte gewöhnlich acht Kilometer am Tag und war ein aktiver Schwimmer, was ihm wahrscheinlich das Leben gerettet hatte.

Nach zwei Monaten waren sein Hals und Rücken geheilt und er war mehr an seinem Studium interessiert als an einem Gerichtsprozess, was bedeutet hätte, dass er nach Hause hätte zurückkehren müssen. Sein Vater war damit einverstanden, dankbar, dass sein Sohn überlebt und sich, wie er dachte, vollständig erholt hatte. Mit der Capital Insurance Life wurde ein Vergleich über Materialschäden geschlossen, obwohl er damals, wie sich der Vater erinnerte, über die unnachgiebige Einstellung des Versicherungsrepräsentanten überrascht war, als es um die Verhandlung über den Wert des geschädigten Besitzes seines Sohnes ging. Die Versicherungsgesellschaft kam bei dieser Sache gut weg, und jeder, der darin verwickelt war, wusste das. Ihre lausige Einstellung ergab keinen Sinn.

Zehn Jahre vergingen und der Unfall war vergessen. Dann, eines Tages, musste der Sohn auf eine Geschäftsreise und bestieg das Flugzeug mit einer Erkältung. Als das Flugzeug landete, fing sein rechtes Ohr an zu klingeln und hörte nicht mehr auf.

Nach der Reise ging er zu einem Arzt. Tests wurden durchgeführt und es wurde festgestellt, dass er dreißig Prozent seines Hörvermögens in seinem rechten Ohr eingebüßt hatte, und zwar aufgrund der Gehirnerschütterung, die er vor einem Jahrzehnt erlitten hatte. Das Geräuschspektrum, das verloren war, war sehr spezifisch und das konnte nicht von einem plötzlichen lauten Krach oder durch Musik passiert sein.

Es vergingen weitere fünf Jahre und der Zustand des jungen Mannes verschlechterte sich. Jetzt, da er fünfunddreißig Jahre alt war, hatte er Schwierigkeiten, sein Gleichgewicht zu halten. Das Leben hatte sich für ihn verändert und er war mit seiner Weisheit am Ende. Zur Zeit des Unfalls hatte er das getan, was er damals für richtig hielt. Aber jetzt wurde ihm klar, dass er betrogen worden war.

Der Vater des Burschen war mit dem Problem zu Jim Barnett gekommen, wohl wissend, dass inzwischen fünfzehn Jahre vergangen waren und es jetzt nicht mehr viel gab, was ein Rechtsanwalt tun konnte.

Barnett erklärte die Schwierigkeiten ganz offen und bat Teddy dann, sich der Sache anzunehmen, um dem Klienten gerecht zu werden. Die Familie hatte alle Aufzeichnungen über den Unfall aufgehoben und Teddy hatte diese sorgfältig studiert. Drei Wochen später und zu jedermanns Überraschung war Teddy erfolgreich. Das war vor einem Monat und Richter Brey hatte bereits festgestellt, dass das Krankenhaus den Jungen zu früh entlassen hatte. Die richtige Behandlung für eine schwere Gehirnerschütterung erforderte mehr als eine einfache Röntgenuntersuchung nach Frakturen am Skelett. Sie hätten auch sein Gehör überprüfen müssen. Aufgrund der Schwere des Unfalls hätten sie alles überprüfen müssen, ungeachtet dessen, ob es ihnen damals gerade passte oder nicht. – Teddy war nicht entgangen, dass Richter Roland Brey ein kleines Hörgerät in seinem rechten Ohr trug.

Was Teddy aber wirklich wollte, war die Versicherungsgesellschaft: Capital Insurance Life und ihre beiden gut situierten Rechtsvertreter, die Tausend-Dollar-Anzüge trugen und die passenden Mercedes dazu fuhren.

Nachdem er die Briefe studiert hatte, die nach dem Unfall vom Vertreter der Versicherung an die Familie geschickt wurden, war für Teddy klar, dass Capital Insurance Life auf Verjährung spekulierte wie ein Geier, der einem Büffel beim Verenden zusah. Noch schlimmer: Einige Briefe schienen darauf hinzudeuten, dass die Versicherungsgesellschaft ihre Verantwortung in der Sache einschränkte. Wenn man die Briefe sorgfältig studierte und aus dem, was sie aussagten, herauslas, was sie sagen wollten und wirklich meinten, sah es für Teddy wie Betrug aus und er wollte einen Weg um die Verjährung herum finden.

Richter Brey würde seine Entscheidung nach der Mittagszeit treffen. Wenn er den Beweis so interpretieren würde wie Teddy und entscheiden würde, dass es genügend Nachweise gab, um einen Betrug zu beweisen, dann ginge der Fall vor Gericht, oder die Versicherungsgesellschaft würde versuchen, noch einen weiteren schnellen Vergleich zu erzielen.

Barnett war hocherfreut, wenn nicht sogar schockiert, wie ihr Klient. Aber noch besser: Der führende Anwalt der Capital Insurance Life rief Teddy letzte Nacht an und versuchte vorzufühlen, was ein zweiter Vergleich kosten würde. Teddys Antwort war einfach: Die Versicherungsgesellschaft hatte den Klienten übervorteilt und jetzt war es Zeit für die Abrechnung. Teddy wollte alles. Nicht nur ein paar Mercedes, sondern ihre Anzüge, ihre Häuser, einen Lastwagen voller Cash und entgangene Zinsen von fünfzehn Jahren.

Sein Mobiltelefon klingelte. Teddy griff mit der Hand in seine Tasche und zog das Telefon heraus. Er bemerkte, wie der Mann neben ihm ihn anstarrte, und deshalb trat er von der Theke weg, um den Anruf anzunehmen. Es war Brooke Jones, eine Rechtsanwältin aus seiner Kanzlei. Jones war ein Jahr vor ihm zur Kanzlei gekommen und hatte alles getan, was sie konnte, um seine ersten drei Monate schwierig zu machen.

»Barnett will, dass Sie in die Kanzlei zurückkommen«, sagte sie. »Wo sind Sie?«

Er schaute auf die Uhr. Sein Treffen mit Richter Brey war in fünfzehn Minuten. Jones Stimme schien besonders angespannt zu sein. »Ich bin auf dem Weg zum Rathaus«, sagte er. »Was gibt’s? Stimmt etwas nicht?«

Jones zögerte einen Moment, dann räusperte sie sich: »Ich werde Sie im Gericht bei Richter Brey vertreten«, sagte sie. »Barnett will Sie sofort sehen. Er hat keine näheren Angaben gemacht. Das muss er auch nicht, weil ihm die Kanzlei gehört. Er hat mich nur gebeten, für Sie einzuspringen und diesen Anruf zu tätigen. Und genau das mache ich jetzt.« Sie legte auf.

Teddy konnte es nicht glauben, aber sie hatte es getan.

Er klappte das Telefon zu, ging zu seinem Platz an der Theke zurück und fragte sich, was passiert war. Er winkte der Kellnerin. Während sie die Rechnung schrieb, aß er sein Sandwich mit drei schnellen Bissen auf.

Jemand hatte den Fernseher an der Wand oben angemacht, wahrscheinlich wegen seines Telefongesprächs. Teddy konnte es ihnen nicht verübeln. Er hasste Leute, die ihr Handy an öffentlichen Orten benutzten, ebenfalls.

Er warf einen Blick auf den Fernseher. Die lokalen Sender hatten ihr Programm mit einem Sonderbericht unterbrochen, der die Gerüchte bestätigte, die Teddy schon den ganzen Vormittag gehört hatte: William S. Nash und sein Rechts-Workshop an der juristischen Fakultät von Penn State hatten belegt, dass jemand, den Staatsanwalt Alan Andrews wegen Mordes vor Gericht gebracht hatte und der später durch eine Todesspritze starb, tatsächlich unschuldig war. Nash hatte die Ergebnisse des DNA-Tests, den Beweis für Andrews Fehler, der wissenschaftlich unanfechtbar war. Aber nur für den Fall, dass noch irgendjemand daran zweifelte, legte Nash nicht nur die DNA-Testergebnisse vor, sondern auch ein Geständnis von jenem Mann, der den Mord wirklich begangen hatte, ein notorischer Krimineller, der wegen Vergewaltigungen angeklagt war und jetzt noch wegen einer zweiten Anklage wegen Mordes in einem Stadtgefängnis einsaß. Trotzdem war die erste Reaktion des Staatsanwaltes, Nash und die Studenten, die am Workshop teilnahmen, anzugreifen. Staatsanwalt Andrews war nicht für seine Fehler bekannt, aber für seinen hohen Prozentsatz an Strafverfolgungen. Teddy wusste, dass Andrews Karrierepläne hatte, und er sah, wie der Mann vor den Kameras schwitzte. Alan Andrews war als nächster Bürgermeister der Stadt vorgesehen. Die Wahl war erst in einem Jahr, aber jeder wusste, dass Andrews der Spitzenkandidat war – selbst wenn er gerade auf dem Eis ausrutschte und mit dem Kopf voraus gegen eine Mauer schlitterte.

Die Kellnerin kam mit der Rechnung und überreichte sie Teddy mit einem Lächeln. Er hinterließ ein großzügigeres Trinkgeld, als er sich leisten konnte, nahm seine Aktentasche und ging zur Kasse. Andrews konnte so viel er wollte in die Kameras schreien, aber es würde nichts helfen. William S. Nash hatte den landesweiten Ruf, einer der hervorragendsten Anwälte zu sein, die je einen Gerichtssaal betreten hatten. Er hatte sich vor einem halben Jahrzehnt zurückgezogen und angefangen, an der juristischen Fakultät von Penn State zu unterrichten. Die Fakultät konnte ihr Glück immer noch nicht fassen und Teddy wusste: Sie würden alles tun, um Nash zu unterstützen.

Teddy warf einen Blick auf die Uhr an der Wand, knöpfte seinen Mantel zu und verließ eilig das Restaurant. Als er sich den Marktaußentüren näherte, blies ihm die eiskalte Luft ins Gesicht und er trat ins Freie. Er ging gegen den Wind schnellen Schrittes die Filbert Street hoch. Die Probleme des Staatsanwaltes schienen momentan weniger wichtig als seine eigenen. Er war wütend.

Barnett hatte ihm einen aussichtslosen Fall übergeben und Teddy war dennoch damit durchgekommen. Der Richter wollte gerade seine Entscheidung bekannt geben. Das war ein wichtiger Moment. Teddys erstes Urteil in seinem ersten Fall, den er ganz alleine durchgezogen hatte. Was konnten Barnetts Beweggründe sein?

Teddy überlegte, ob Barnett ihn vielleicht gar nicht sehen wollte und Brooke Jones das Ganze aus Bosheit inszenierte. Wenn er die Kanzlei erreichte und herausfand, dass es ein Scherz war und zurück zum Gericht ginge, wäre er zehn Minuten zu spät. Er wusste, dass Jones zu so etwas fähig wäre. Aus irgendeinem Grund, den er nicht kannte, ärgerte sie sich über ihn. Als er aber am Gericht vorbeikam, erblickte er Jones auf dem Bürgersteig vor dem Rathaus. Sie eilte mit ihrer Aktentasche in Richtung des Gebäudeeingangs und schleppte die Unterlagen in einer Stofftasche mit sich, die Teddy als die seinen erkannte.

Teddy hatte die Antragspapiere in seiner Aktentasche. Aber der Richter hatte sein Urteil bereits gefällt und deshalb gab es keinen wirklichen Grund überhaupt Akten mitzubringen – außer, wenn man Brooke Jones war.

Er überquerte die Straße im Zickzack.- Vorbei am Rathaus zur Market Street. Und er ging wieder schneller. Barnett & Stokes belegten das sechzehnte und siebzehnte Stockwerk des One Liberty Place, des höchsten Hauses der Stadt. Der Bau des Gebäudes war umstritten – wegen der Höhe und seiner Auswirkung auf die historische Skyline von Philadelphia. Aber als die Baufirma mit dem Bau fertig war, sagte niemand ein Wort. One Liberty Place war ein Werk der modernen Kunst, das die historischen Gebäude noch besser hervorhob, damit man sie wieder sah. Die Skyline hatte nie einen besseren Anblick geboten.

Teddy eilte durch die Eingangshalle, nickte dem Wachdienst zu und ignorierte die Weihnachtslieder, die durch die Lautsprecheranlage drangen, als er zu den Aufzügen ging und in den siebzehnten Stock hochfuhr. Er raste an der Empfangsdame vorbei, drückte die Glastüren auf und eilte den langen Gang hinunter zu Barnetts Eckbüro ganz am Ende des Flures. Barnetts Assistentin Jackie war am Telefon und sah besorgt aus. Als Teddy sich ihrem Schreibtisch näherte, senkte sie die Augen und winkte ihn durch.

»Wo zum Teufel waren Sie?«, fragte Barnett, als er eintrat. Barnett stand vor seinem Schreibtisch, belud seine Aktentasche mit Unterlagen, verschiedenen Rezepten von seinem Arzt und sogar einer Ersatzbatterie für sein mobiles Telefon. Er schien aufgebracht zu sein, noch besorgter als seine Assistentin, vielleicht sogar krank.

»Ich war im Gericht bei einer Verhandlung«, sagte Teddy. »Was ist los?«

»Wo ist mein verdammtes Adressbuch?«

Teddy trat näher und betrachtete den Schreibtisch des Mannes. Er sah eine Ausgabe der Zeitung, die auf der Gesellschaftsseite aufgeschlagen war. Barnett und seine Frau Sally richteten eine Schnitzeljagd für wohltätige Zwecke aus, die letztes Wochenende dem Kinderkrankenhaus zugutekam. Die Story schaffte es zusammen mit ihren Fotos in die Zeitung.

Unter der Zeitung konnte Teddy eine Ausgabe des Philadelphia-Magazines Power 100 sehen. Barnett schaffte es dieses Jahr vom dreizehnten auf den elften Platz und würde es am Ende sicher unter die ersten zehn schaffen. Er war Mitte fünfzig und arbeitete immer noch hart. Der Mann hatte noch eine Menge Zeit, um sein Ziel zu erreichen.

»Ich sollte eigentlich im Gericht sein«, sagte Teddy. »Brooke rief mich an. Sagen Sie mir den Grund dafür.«

»Ich konnte nicht anders. Ich hätte Sie selbst anrufen sollen, Teddy. Ich werde es wiedergutmachen, ich schwöre es.« Bevor Teddy antworten konnte, warf ihm Barnett einen nervösen Blick zu und meinte: »Sie müssen mir einen großen Gefallen tun.«

Barnett fand sein Adressbuch unter dem Magazin und warf es in seine Aktentasche. Als er die Schreibtischschublade aufzog und eine Flasche Extra starkes Paracetamol herausfischte, bemerkte Teddy, dass Barnetts Hände zitterten.

»Jemand wurde ermordet«, sagte er. »Ich brauche Ihre Hilfe.«

Teddy setzte seine Aktentasche auf den Boden und lehnte sich gegen die Armlehne der Couch. Es war ein großes Büro, luxuriös eingerichtet und mit einem Panoramablick im Wert von einer Million Dollar. Aus irgendeinem Grund erschien es gerade ungewöhnlich klein und unbedeutend.

»Ein Mädchen«, fuhr Barnett fort. »Darlene Lewis. Sie war erst achtzehn. Verdammt, Teddy, sie war noch in der Highschool. Ich bin in der Klemme und brauche Ihre Hilfe.«

»Wissen Sie, wer es war?«, fragte Teddy.

»Der Briefträger. Ein Bursche namens Oscar Holmes. Sie haben die Tatwaffe. Es hört sich so an, als ob er bei der Tat erwischt wurde.«

Barnett zitterte. Teddy hatte ihn noch nie zuvor so erlebt und sah ihn aufmerksam an. Mit einem Meter neunzig war Barnett genauso groß wie Teddy, aber kräftiger und etwa fünfzig Pfund schwerer. Trotz des Mehrgewichtes schien Barnett in guter Form und fit zu sein. Der Mann sah sehr gepflegt aus, seine Kleidung war maßgeschneidert – von einem Schneider, den Barnett einmal im Jahr in Mailand besuchte. Sein Haar war eine borstige Mischung aus Braun und Grau, seine Augen himmelblau und strahlend, selbst im düsteren Licht des Konferenzraumes. Aber was Teddy an dem Mann am meisten beeindruckte, war sein Gesicht, das gewöhnlich vor Zuversicht nur so strotzte. Außerdem hatte er einen Charme, den er beliebig an- und ausschalten konnte. Jim Barnett war ein Meister des Rechtsstreites, seine Fähigkeiten als Verhandlungsführer waren berühmt.

Bis jetzt, dachte Teddy. Jetzt sah es so aus, als ob der Mann seine Selbstkontrolle verloren hätte.

»Was für einen Gefallen?«, fragte Teddy.

Barnett öffnete mit Gewalt die Flasche Paracetamol und sah ihn an. »Wir vertreten Holmes«, sagte er.

Es verging ein Augenblick. Dann schüttelte Barnett zwei Filmtabletten heraus und schluckte sie mit was auch immer sich im Kaffeebecher befand.

»Wir machen kein Strafrecht«, sagte Teddy und versuchte, seine Bedenken auszudrücken. »Niemand hier hat Erfahrung damit.«

»Wir werden Hilfe bekommen, wenn wir sie brauchen.«

»Wer ist dieser Bursche? Warum lassen wir uns darauf ein?«

»Das werde ich später erklären«, sagte Barnett. »Das Mädchen wohnte in Chestnut Hill. Sie stammt aus einer guten Familie. Eine nette und alteingesessene Familie. Die Beamten sind immer noch im Haus und untersuchen den Tatort unter, wie sie sagen, ungewöhnlichen Umständen. Ich konnte Brooke nicht hinschicken, weil ich nicht weiß, was das heißen soll. Deshalb kommen Sie ins Spiel. Ich will, dass Sie da hingehen und herausfinden, was da los ist. Ich muss wissen, was das bedeutet.«

Teddy wollte Nein sagen, tat es aber nicht. Er hatte eine Abscheu gegen Strafrecht und alles getan, um es in der Fakultät zu umgehen. Sein Rechtsinteresse drehte sich ganz um Immobilien. Er wollte mit Architekten und Baufirmen arbeiten und sich eine Karriere in Bezug auf etwas aufbauen, das er mit seinen Händen fühlen und berühren konnte. Als er ein Job-angebot von Barnett & Stokes erhielt, nahm er es sofort an. Die Immobilienabteilung der Kanzlei war der Konkurrent jedes anderen Rechtsanwaltsbüros der Stadt und sie machte fast ein Viertel ihrer geschäftlichen Tätigkeit aus.

»Wohin gehen Sie?«, fragte er Barnett.

»Zu den Kerkertürmen. Holmes ist bereits dort. Die Polizei drängt ihn wahrscheinlich gerade dazu, ein Geständnis abzulegen. Ich muss da hin, bevor er es tut.«

Teddy überlegte. Die Kerkertürme war der Spitzname für das Polizeihauptquartier in der Achten, Ecke Race Street. Es klang sonderbar, wenn Barnett diese Bezeichnung so locker aussprach.

»Ich verstehe nicht, warum Sie das tun«, sagte Teddy. »Wenn es wieder ein Gefallen für jemanden ist, warum verweisen Sie ihn nicht auf einen Strafverteidiger, der jeden Tag mit diesen Dingen zu tun hat? Das ist kein Fall von Körperverletzung für einen Präsidenten einer Ölfirma. Da geht es nicht um Geld.«

»Hören Sie, Teddy, ich weiß, was Sie denken. Ich mag es ja auch nicht, um Himmels willen. Aber ich kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Sie fahren zum Tatort hinaus und ich gehe rüber zu den Kerkertürmen. Wenn man Sie nicht hineinlässt, und das wird man wahrscheinlich nicht, dann tun Sie alles was Sie können von der Straße aus. Wenn Sie Ihre Sache dort erledigt haben will ich, dass Sie wieder hierher zurückkommen und sich auf die Anklage vorbereiten. Ich muss heute früh zu Hause sein. Sally hat etwas Bestimmtes vor, wo ich dabei sein muss. Wir sprechen uns heute Abend – halten Sie Ihr Mobiltelefon bereit – dann tauschen wir morgen die Notizen aus und überlegen uns, was wir verdammt noch mal tun werden. Sie sind für mich wie ein Sohn, Teddy. Ich brauche jetzt Ihre Hilfe.«

Die Tür schwang auf und Jill Sykes kam mit einem Notizblock herein. Jill war ein Jahr nach Teddy Studentin an der juristischen Fakultät von Penn State geworden und hatte, ohne jemanden zu kennen, einen Job in der Kanzlei als Rechtsanwaltsgehilfin bekommen, während sie sich auf ihr Anwaltsexamen vorbereitete. Sie hatte einen guten Sinn für Humor und die Fähigkeit, das Wesentliche einer Sache sofort zu erkennen. Obwohl Teddy sie letztes Jahr auf dem Campus gesehen hatte und sie sogar attraktiv fand, trafen sie sich erst, als sie von der Kanzlei angeheuert wurde. In den letzten drei Monaten waren sie gute Freunde geworden.

»Danke«, sagte Barnett zu ihr. »Haben Sie die Adresse?«

Sie nickte, riss ein Blatt Papier von ihrem Block und gab es Teddy mit einem Seitenblick. Es war Darlene Lewis’ Adresse in Chestnut Hill. Der Tatort.

Barnett steckte das Fläschchen Paracetamol in seine Jackentasche und wandte sich an Teddy: »Gehen Sie jetzt los. Und seien Sie vorsichtig. Ich nehme an, dass der Staatsanwalt dort sein wird. Wie ich es sehe, werden wir auf ein Schuldbekenntnis hinarbeiten und dafür eine mildere Strafe aushandeln. Ich will um jeden Preis Schlagzeilen vermeiden. Seien Sie höflich und glauben Sie nicht, was Sie in der Stadt hören: Alan Andrews ist Adolf Hitler, Joseph Stalin und Osama bin Laden in Pimmelgröße als flachwichsendes Arschloch zusammengerollt. Er ist auf der politischen Überholspur. Wir müssen den Ball flachhalten, verstehen Sie?«

Barnett hatte wieder seinen Charme aufgesetzt. Teddy nickte, packte seine Aktentasche und ging zur Tür hinaus.