NEUNZEHN

Teddy betrat den Besuchsraum, stellte seine Aktentasche auf dem Boden ab und nahm an dem kleinen Tisch Platz. Seine Eskorte sagte ihm, Holmes wäre auf dem Weg hierher, schloss dann die Tür und ging weg.

Er sah auf seine Uhr. Es war gerade neun Uhr vorbei. Er hätte die freie Zeit eigentlich gerne genutzt, um sich mit dem Büro in Verbindung zu setzen, aber sein Handy war ihm am Empfang abgenommen worden, als seine Aktentasche durchsucht wurde.

Die Tür öffnete sich. Er drehte sich um und sah, wie Holmes in seinem orangefarbenen Overall und den Turnschuhen eintrat. Er sah noch schlimmer aus als zwei Abende zuvor. Sein Gesicht hatte etwas Hartes an sich, als ob die Panik sich eingefressen hätte und ihn nicht losließ. Und er sah erschöpft und strubbelig aus, als hätte er nicht geschlafen. Teddy schob einen Stuhl vom Tisch weg, aber Holmes schüttelte den Kopf und ächzte, ohne den Stuhl zu beachten. Er schien auf den größeren Besuchsraum auf der anderen Seite der zweiten Tür fixiert zu sein, wo Insassen sich gerade mit ihren Familien trafen. »Nicht hier drinnen«, sagte er. »Ich will dort draußen bei den anderen sein.«

Holmes ging durch die Tür. Teddy nahm seine Aktentasche und folgte seinem Klienten in den Besuchsraum. Als Holmes an einer freien Couch vorbei und direkt auf die hintere Wand zuging, wusste er, dass Holmes sich die Gemälde anschauen wollte. Teddy hatte sich schon gewundert, warum fünfzig Kunstwerke im Hauptbesuchsraum des Curran-Fromhold-Gefängnisses ausgestellt waren und hatte den stellvertretenden Gefängnisdirektor beim letzten Mal auf dem Weg hinaus gefragt. Sie waren Teil der Einprozentregel, die von der Stadt eingehalten wurde. Teddy war durch sein Interesse an Immobilien bereits vertraut mit der Anforderung, hatte aber nicht erwartet, dass sie bis ins Gefängnis reichte. Wenn man plante, innerhalb der Stadtgrenzen etwas zu bauen, musste ein Prozent des Baubudgets für die öffentliche Kunst vorgesehen sein, egal, wie hoch es war. Die Einprozentregel hatte die Stadt verwandelt. Offensichtlich gab es keine Ausnahmen.

Teddy behielt Holmes im Auge, während der große Mann sorgfältig das erste Gemälde studierte und dann zum nächsten wanderte. Obwohl die Gemälde von verschiedener Qualität waren, schien Holmes vor ihnen zu verweilen, ohne einen Unterschied zu machen.

»Wie halten Sie es aus?«, fragte er.

»Albträume«, sagte Holmes mit einer Stimme, die kaum zu hören war. »Schlechte Träume. Da ist ein Mann im Zellenblock, der die ganze Nacht weint. Ich glaube, er ist noch ein Junge.«

»Wollen Sie darüber sprechen?«

Holmes schüttelte den Kopf, ohne etwas zu sagen. Seine Augen wanderten schon zum nächsten Bild.

»Was ist mir Ihrer Schwester? Haben Sie schon mit ihr gesprochen?«

Holmes rührte sich ein wenig und schüttelte wieder den Kopf.

Teddy war überrascht. »Sie haben noch keine Besucher gehabt?«

»Nein«, sagte er. »Nur Sie.«

»Was ist mit Ihren Nachbarn?«

Holmes hielt einen Augenblick inne, als ob die Frage schmerzte. »Nur Sie«, wiederholte er noch ruhiger.

Teddy trat zurück, als Holmes die Reihe entlangging. Er nahm an, dass es fünfzehn Minuten dauern würde, bis Holmes durch war. Es machte ihm nichts aus, denn so hatte er die Möglichkeit, seinen ersten Eindruck von diesem Mann zu überdenken. Vieles war seit der Nacht passiert, als Teddy Holmes getroffen hatte. Da war sein Klient ihm noch als echter Mörder erschienen und passte genau ins Bild. Er sah immer noch bedrohlich aus, seine Hände waren wegen der Schnittwunden, die er am Tag von Darlene Lewis’ Ermordung erhielt, noch fest verbunden und die Fingerabdrücke, die Teddy mit eigenen Augen auf dem Körper des Mädchens gesehen hatte, passten eindeutig. Als Teddy sich vorzustellen versuchte, wie Holmes dem kleinen Mädchen, das im Treppenhaus gegenüber wohnte, das Malen beibrachte, sie von der Schule abholte und ihr wie ein Vater Abendessen machte, überkam ihn dasselbe Gefühl wie letzten Abend: der Gedanke, dass er etwas übersah und nicht das Ganze erfasste; die Möglichkeit, dass es irgendwie eine andere Erklärung geben könnte, obwohl der physische Beweis eindeutig Holmes belastete.

Holmes erreichte schließlich das letzte Gemälde. Als er sich wegdrehte, fanden sie einen Platz, an dem sie sich hinsetzen konnten und von wo aus Holmes die Gemälde im Blick hatte. Er starrte sie an, als ob er sie brauchen würde, als ob er sich an etwas festhalten wollte, das ihm im Leben davor etwas bedeutet hatte.

»Wir müssen über den einen Tag reden«, sagte Teddy.

Holmes blieb still und schien sich vor dieser Aussicht zu fürchten.

»Darlene Lewis«, fuhr Teddy unerschüttert fort. »Sie sagten, Sie könnten sich an nichts erinnern. Sie rannten weg und dann fanden Sie sich zu Hause wieder.«

»Ich habe Albträume. Das habe ich Ihnen schon gesagt. Ich wache schreiend auf und dann höre ich dieses Kind in seiner Zelle weinen. Es fühlt sich an, als ob es hier spuken würde.«

Teddy nickte und ermunterte den Mann weiterzusprechen.

»Ich kann fast ihr Gesicht sehen, wenn Sie das meinen«, fuhr Holmes fort, »ich kann es fast sehen, obwohl ich alles tue, um es nicht zu sehen. Es ist, als ob es direkt vor dem Aufwachen zu mir kommen würde. Sie ist nicht mehr schön. Sie ist nicht einmal eine Sie. Es verfolgt mich wie ein Gespenst und lacht mich aus. Es ist ein wirklich böser Traum. Ich bin froh, wenn ich dann aufwache.« Holmes zitterte und versuchte die Vision abzustreifen.

»Was ist mit Ihren Händen? Wenn Sie sich nicht erinnern können, wie Sie geschnitten wurden, was glauben Sie denn, wie es passiert ist?«

Holmes schüttelte frustriert den Kopf, unfähig, Worte zu finden.

»Es ist wichtig, Holmes.«

»Warum?«, fragte er. »Und wenn es wichtiger ist, mich nicht zu erinnern? Dass ich mich nie erinnere?«

Holmes wurde laut. Ein Wachmann sah herüber. Teddy wandte sich wieder seinem Klienten zu und sah, wie Furcht in seinen Augen aufwallte. Er entschied, dass er es für jetzt gut sein lassen würde und zog eine Mappe aus seiner Tasche, die den Zeitungsartikel über Valerie Kramps Verschwinden enthielt. Holmes nahm das Blatt Papier und zuckte zusammen, als er auf das Foto starrte und sah, wie sehr Valerie Kramp Darlene Lewis ähnlich sah. Teddy beobachtete ihn aufmerksam und suchte nach einem Anzeichen, dass er das Mädchen erkannte. Aber als Holmes anfing, den Artikel zu lesen, blieb sein Gesicht ausdruckslos, sogar stumpf. Als er fertig war, wanderten seine Augen zum Datum und blieben dort hängen.

»Ist sie auch tot?«, fragte Holmes.

Teddy nickte.

Holmes Blick fiel wieder auf Kramps Bild zurück. »Werden sie sagen, dass ich es getan habe?«

»Ich weiß es nicht. Es ist noch zu früh. Die Beweise liegen noch nicht vor.«

Holmes gab den Artikel zurück und war unfähig, sich auf dem Stuhl niederzulassen. »Sie sehen gleich aus, sie sind es aber nicht«, sagte er.

»Wie denn?«

»Ich weiß es nicht. Sie sind einfach anders. Auf dem Papier steht, dass diese hier eine Künstlerin sein wollte.«

»Was ist mit dem Datum? Ich bin gestern Abend in Ihrer Wohnung gewesen und habe keinen Kalender gesehen. Haben Sie einen Terminkalender?«

»Nein.«

»Es war ein Mittwoch. Am 26. Oktober.«

Holmes zuckte hilflos mit den Schultern. »Dann muss ich bei der Arbeit gewesen sein.«

»Es passierte nach der Arbeit. Wo ist Ihr Scheckheft? Vielleicht hilft Ihnen das, sich zu erinnern.«

»Es ist auf der Küchentheke bei meinen Rechnungen.«

Teddy konnte sich nicht erinnern, das Scheckheft in der Küche gesehen zu haben. Entweder hatte die Polizei es weggeräumt, als sie die Installation auseinandernahm, oder sie hatte es aus irgendeinem Grund mitgenommen. Er wollte daran denken, Carolyn Powell anzurufen, sobald er hier fertig war. Ein Scheck, der auf einen Zahnarzt oder Doktor oder sogar für ein Lebensmittelgeschäft oder ein Geschäft für Künstlerbedarf ausgestellt worden war, würde mehr bewirken, als dem Gedächtnis des Mannes auf die Sprünge zu helfen. »Wie sieht es mit Kreditkarten aus?«, fragte Teddy.

»Ich habe nur eine, aber die habe ich nie benutzt. Ich habe sie nur für Notfälle.«

»Was ist mit dem kleinen Mädchen, das im Gang gegenüber wohnt? Sie sagt, dass Sie sie von der Schule abholen.«

»Mittwochs nicht. Da hat sie Musikunterricht. Sie spielt Schlagzeug. Da holt ihre Mutter sie selbst ab.«

Teddy stand auf und warf noch einmal einen Blick auf Valerie Kramps Foto, als er nach seiner Aktentasche griff. Zu erwarten, dass Holmes sich erinnerte, was er vor fast zwei Monaten gemacht hatte, schien hoffnungslos. Als Teddy letzte Nacht nach Hause gekommen war, hatte er versuchsweise den 26. Oktober für sich rekonstruiert. Er hatte im September im Büro angefangen und einen wöchentlichen Terminkalender geführt. Trotzdem hatte er nur herausbekommen, dass er vormittags in der Bibliothek war, um vergangene Fälle zu recherchieren, und mit Barnett zu Mittag gegessen hatte. Der Nachmittag und der Abend waren leer geblieben. Wie konnte er da irgendetwas von Holmes erwarten?

Holmes erhob sich langsam. Teddy konnte erkennen, dass der Mann nicht wünschte, dass sein einziger Besucher ging und er in seine Zelle zurück musste.

»Wie ist die Zweite gestorben?«, flüsterte Holmes.

»Es ist ein anderer Fall.«

»Wie ist es passiert?«

»Die Autopsie ist erst heute Nachmittag«, sagte Teddy, »aber sie wurde aufgeschnitten.«

Holmes schien zu schwanken, als er es aufnahm.

Nach einer Weile gingen sie wieder in den Besuchsraum drei zurück.

»Würden Sie einer Hypnose zustimmen?«, fragte Teddy.

»Wovon reden Sie?«

»Vom Tag, an dem Darlene Lewis starb. Wir bringen einen Arzt her. Wir setzen Sie unter Hypnose. Dann können Sie sich vielleicht genügend entspannen, um sich zu erinnern, was geschah.«

Holmes blieb stehen und hatte wieder diesen wilden Blick – Furcht und die Panik. Teddy bemerkte, wie der Wachmann auf sie zukam, der Holmes wieder in seinen Zellenblock bringen wollte. Auch Holmes sah ihn kommen, seine Stimme war flehend: »Nein«, sagte er. »Bitte. Sie war nur ein Mädchen. Ich will mich nicht daran erinnern, was passiert ist. Ich will nicht wissen, was ich getan habe.«

Das war eindeutig und Teddy starrte in Holmes’ tote Augen. Die Albträume hatten gewonnen. Der Wachmann zog Holmes am Arm weg. Über die Wangen des Mannes liefen Tränen und er ließ den Kopf hängen.

Teddy kam näher und flüsterte seinem Klienten ins Ohr: »Hören Sie mir zu«, sagte er. »Sie müssen sich zusammenreißen und mit der Situation klarkommen. Es besteht die Möglichkeit, dass noch jemand anders dort war. Hören Sie mich, Holmes? Deshalb müssen Sie sich erinnern. Wir brauchen Ihre Hilfe. Es besteht die Möglichkeit, dass noch jemand anders dort war.«

Holmes reagierte nicht. Er starrte auf das Bild von Valerie Kramp in Teddys Hand. Als er endlich seinen Kopf hob, war sein Gesicht ausdruckslos, entfernt, abgegrenzt. Der Wachmann führte Holmes weg. Als Teddy sie weggehen sah, bezweifelte er, dass Holmes ihn gehört hatte. Bezweifelte, dass das, was er gesagt hatte, angekommen war. Der Mann glaubte, er hätte Darlene Lewis ermordet, und vielleicht sogar Valerie Kramp. Sein Verstand war völlig durcheinander.