EINUNDSIEBZIG
Teddy entdeckte den Übertragungswagen, als er in die Lakeview Road einbog. Er hatte sich einen alten Ford Waggon vom Freund seiner Mutter, Quint Adler, ausgeborgt. Trotz seines Wohlstandes fuhr Quint alte Autos. Das war etwas, das Teddy an diesem Mann immer mochte, vielleicht weil es ihn an seinen Vater erinnerte. Quint hatte nicht das Gefühl, dass er durch seinen Besitz zeigen musste, wer er war. Tatsächlich verbargen beide Männer ihre Identitäten vor der Welt.
Teddy fand einen Parkplatz, ließ jedoch den Motor laufen, während er sich die neuesten Informationen vom Nachrichtensender KYW anhörte. Die Schockwellen von dem, was die Daily News und der Inquirer an diesem Morgen als die E.-T.-Morde bezeichneten, fraßen sich durch die Stadt, strapazierten die Nerven der Leute und erschütterten ihr Vertrauen. Eine Fotografie des Hautgemäldes erschien in beiden Zeitungen neben Porträts von Holmes und Trisco und noch einem Bild des Staatsanwalts, als Vega ihm seine Rechte vorlas. Auf der anderen Seite war ein Bild von Teddy und Nash, wie sie mit Rosemary Gibb auf der Rolltrage aus dem Haus gingen. Eine Grafik war abgedruckt, die die Spenden auflisteten, die Andrews von der Familie Trisco bekommen hatte.
Die zwei Reporter, die gerade im Radio interviewt wurden, meinten, dass sie Blut geleckt und die ganze Nacht durchgearbeitet hätten. Was Teddy und Jill im Internet gefunden hatte, war nur der Anfang. Anscheinend stammten mehr als fünfzig Prozent der Spenden, die für die Kampagne des Staatsanwalts eingingen, von Mitarbeitern der verschiedenen Trisco-Gesellschaften. Einige Leute bestätigten, was alle vermutet hatten: Sie waren gezwungen worden, Schecks an Andrews auszustellen, die später von der Gesellschaft in Form von Boni ersetzt wurden. Genaue Einzelheiten würden in der morgigen Ausgabe der Daily News veröffentlicht.
Eddie jr. und seine Frau mit dem steinernen Gesicht hatten keine Zeit, den Tod ihres berüchtigten Sohnes zu betrauern. Sie saßen jetzt selbst in der Klemme. Zusammen mit Andrews waren sie jetzt der neueste Abschaum in einer Stadt, die nicht wirklich welchen wollte.
Teddy schaltete das Radio ab und griff mit seiner rechten Hand herum, um die Tür an der Fahrerseite zu öffnen. Als er sich bewegte, biss sich ein stechender Schmerz in seine Schulter, dann entspannte er sich. Er stieg aus dem Auto, zündete sich mittlerweile bereits wie ein echter Raucher eine Zigarette an und ging auf die Presse zu. Die beiden Polizisten, die hinter der Tatortabsperrung arbeiteten, sahen ihn kommen und halfen ihm hindurch. Reporter riefen Fragen, Fotografen schossen Bilder und baten ihn zu lächeln.
Er ging die Zufahrt hinunter und war nicht sicher, wie er mit der Presse umgehen sollte. Sie brauchten die Story und er hatte eine zu erzählen. Trisco war tot und Andrews eingesperrt. Trotzdem hatte er nicht das Gefühl, dass es vorbei war. Sie waren immer noch dabei Dinge aufzuwischen. Jede neue Entdeckung hinterließ einen schlechten Geschmack im Mund, öffnete Erinnerungen an seine Kindheit wie Venusmuscheln, die auf einen heißen Grill geworfen werden.
In der Entfernung sah er Powell, die mit einer Gruppe von Männern auf der Bootsrampe stand. Eine der Nutznießer der letzten Nacht war Powell, die umgehend wieder in das Büro des Staatsanwalts zurückgeholt worden war. Sie trug hier ganz eindeutig die Verantwortung. Als Teddy am Haus vorbeiging, sah er drei Vans von der Gerichtsmedizin, die rückwärts an der Scheune geparkt waren wie Müllautos, die auf ihre höllische Nutzlast warteten. Kriminaltechniker gingen in Haus und Scheune aus und ein. Ein Fotograf mit Igelfrisur machte Aufnahmen der Bremsflüssigkeit im Schnee, während zwei Techniker an der Seite mit ihren Spurensicherungskoffern warteten, um loszulegen.
Er wandte sich wieder dem See zu und folgte dem Tatortabsperrband bis zum Fuße des Hügels. Das Eis war mit Kettensägen vom Ufer weggeschnitten worden. Taucher stiegen in ihren Neoprenanzügen tapfer in das eiskalte Wasser. Die Operation war eine gemeinsame Anstrengung zwischen der städtischen, lokalen und Staatspolizei.
Teddy hielt Ausschau nach Vega und Ellwood, konnte sie aber nicht sehen. Von den Männern, die bei Powell standen, erkannte Teddy nur zwei. Sie hatten sich vorgestern Abend in Nashs Büro getroffen. Beide Männer arbeiteten für die FBI-Außenstelle in der Stadt. Die Untersuchung verlief nun eingleisig. Die Agenten nickten. Die anderen schauten ihn mit einer gewissen Neugierde an. Jeder wusste, wer er war.
Powell drehte sich um und sah ihn an. Sie war in diesen Ski-Parka gehüllt und trug Jeans und Lederstiefel. Er wusste, dass sie wieder eine Nacht nicht geschlafen hatte. Dennoch waren ihre blaugrauen Augen hell und fest und er bemerkte die Andeutung eines müden Lächelns. Powell sah gut aus – immer, überall und egal unter welchen Umständen.
»Sie haben dich gehen lassen?«, fragte sie.
Teddy nickte. »Ich sehe Vega und Ellwood nicht.«
»Unsere Durchsuchungsbefehle sind durch. Vega ist in Andrews’ Haus drüben. Wir haben ein weiteres Team, das durch das Trisco-Anwesen in Radnor geht. Ellwood ist mit der Kamera im Wasser. Er taucht.«
Teddy folgte ihrem Blick zu einem kleinen Fernseher, der im Schnee lag. Er hatte ihn nicht bemerkt, weil der Monitor in eine blaue Segeltuchtasche gepackt war, mit einem Sonnenschutz, der dem Bildschirm etwas Schatten spenden sollte. Der Monitor war an einen Videorekorder angeschlossen. Ein gelbes Kabel führte vom hinteren Teil des Rekorders ins Wasser.
Er kniete mit Powell und den anderen zusammen nieder und starrte auf etwas, das wie ein leerer Bildschirm aussah. Sein erster Gedanke war, dass er wünschte, es wäre ein böser Traum gewesen. Als er aber auf den See blickte, sah er den Einschnitt im Eis, wo sein Wagen eingebrochen war. Sein Puls wurde schneller und er drehte sich wieder dem Monitor zu, da er eine Bewegung auf dem Bildschirm wahrnahm. Ellwood schwenkte die Kamera durch das trübe Wasser und die Häuser am Grund wurden deutlicher. Als die Gesichter in den Fenstern auftauchten, die Modelle, die Trisco für seine Malerei benutzt hatte, schwankte die Kamera und Teddy bemerkte, dass niemand am Kai mehr sprach. Andere Taucher schwammen in der Aufnahme hin und her und scheuchten die Fische von den Netzen weg, als sie die Leichen losschnitten und anfingen, sie ans Ufer zu ziehen.
Die Körper waren nicht nur in den Fenstern – mehrere Frauen waren an Stühle gebunden. Andere waren in den Küchen an die Herde gebunden oder lagen in der Badewanne. Trisco hatte mehr getan, als die Opfer nur hier abzulegen, er hatte den Unterwasserschauplatz bevölkert, die Leichen positioniert, als ob sie Puppen wären. Teddy stellte sich vor, wie Trisco seinen Spielplatz besucht hatte und so oft er konnte durch die Räume schwamm.
»Wie viele sind dort?«, fragte Teddy Powell.
»Dreiundzwanzig«, sagte sie mit trübem Blick. »Bis jetzt.«
Teddy rechnete nach: Darlene Lewis war der zwölfte Mordfall, Harris Carmichael Nummer dreizehn. Die vorigen elf Morde könnten in der Vermisstenliste isoliert werden, weil sie ein ähnliches Aussehen hatten. Trisco hatte sie als Modelle gewählt, weil sie wie Variationen seiner Mutter aussahen. Aber Eddie sammelte auch Tattoos und Haut für sein Gemälde. Bei der zweiten Gruppe hatte das körperliche Aussehen keine Rolle gespielt. Man hatte keinen Trend entdecken können. Trisco hätte vor jedem Tattoostudio oder Stripklub herumhängen oder seine Opfer, wie in Darlene Lewis’ Fall, per Computer im Web finden können.
»Die meisten Tattoo-Künstler haben Aufzeichnungen über ihre Arbeit«, sagte Powell. »Wenn wir uns noch mal die vermissten Personen anschauen, werden wir, glaube ich, eine bessere Vorstellung davon bekommen, wer sie sind. Vielleicht sogar eine Liste mit Namen.«
»Was ist mit Valerie Kramp?«, fragte er. »Was glaubst du, warum er sie im Fluss abgelegt hat, anstatt hier?«
»Wir arbeiten an einem zeitlichen Ablauf«, sagte sie. »Der See friert vor dem Fluss zu. Sie war noch nicht lange im Wasser. Entweder hatte er ein Problem mit dem Eis oder er wurde einfach nur faul und wollte nicht mehr so weit fahren.«
Teddy wandte sich wieder dem Monitor zu. Er sah einen Taucher in der Übertragung, der Ellwood herbeiwinkte. Die Netze verschwanden und Teddys Wagen tauchte in der Mitte von etwas auf, das einmal eine Straße war. Teddy verzog das Gesicht, als er auf den Bildschirm starrte. Der Corolla lag verkehrt herum neben einer Ampel und einem Stoppschild. Der Kofferraum war offen. Auf die Reifen deutend, griff der Taucher nach einem Schlauch und winkte Ellwood näher. Dann deutete er eine schneidende Bewegung an, als ob er ein Messer in seiner Hand hielt. Es war der Bremsschlauch. Jemand hatte ihn mit einem Messer aufgeschlitzt.
Teddy hatte genug gesehen und erhob sich.
Powell folgte ihm von der Bootsrampe in den Garten, die Augen auf ihn gerichtet. »Vega hat vor einer Stunde angerufen«, sagte sie kaum hörbar. »Er hat etwas bei Andrews zu Hause gefunden.«
»Das Schnapsglas?«
Sie schüttelte den Kopf. »Papiere. Aufzeichnungen von Zahlungen in einem Notizheft.«
»An wen?«
»Michael Jackson«, sagte sie. »Die Zahlungen waren nicht hoch, aber sie reichen weit zurück und jetzt wird so manches klar.«
Teddy nahm es hin, ohne etwas zu sagen. Er dachte immer noch an Valerie Kramps Leiche im Fluss beim Bootshaus. An die Frau, die ihn angerufen und dort hingeführt hatte, Dawn Bingle.
»Jackson ist nicht der einzige Name auf der Liste«, sagte Powell. »Es gibt noch einen.«
Da war es, hing dunkel und schwer wie das Bild seines Wagens am Grund des Sees zwischen ihnen.
»Ist es eine Frau?«
Powell nickte.
»Kenne ich sie?«
»Das glaube ich nicht«, sagte sie. »Aber ich nehme an, Nash kennt sie. Sie arbeitet im Labor. Sie ist eine forensische Wissenschaftlerin. Ihr Name ist Vera Handover.«
Etwas im Glitzern von Powells Augen sagte ihm alles, was er wissen musste. Die fünf Fälle, an denen Nash gearbeitet hatte, als sie sich zum ersten Mal trafen – jeder war ein Todesurteil-Fall, bei dem der Staatsanwalt unrecht haben könnte. Er erinnerte sich, wie Nash ihm von den mangelnden Beweisen erzählte. In manchen Fällen waren diese falsch behandelt, in anderen verloren oder zerstört worden.
»Glaubst du, sie ist diejenige, die mich angerufen hat?«, fragte Teddy.
»Sie ist bereits in Gewahrsam. Du musst kommen und dir ihre Stimme anhören.«
Teddy schaute auf den See und sah Ellwood mit der Kamera auftauchen. Er wirkte verstört wegen dem, was er gerade gesehen hatte.
Teddy wandte sich wieder Powell zu. »Ist dir klar, was passiert?«, fragte er. »Alles, was Trisco getan hat, wird Andrews zur Last gelegt werden.«
Powell nickte. »Ich würde sagen, er braucht einen guten Anwalt.«
Teddy sah sie an und merkte, dass sie nicht wirklich an Andrews Anwalt dachte. Etwas hatte sich in ihrem Gesicht verändert. Die Wärme war weg und Teddy nahm an, dass sie an Vergeltung dachte.
Die Nadel.
Wenn sie mit Andrews fertig war, würde ihm wahrscheinlich kein Rechtsanwalt mehr helfen können.