SIEBZEHN
Teddy öffnete den Brief und begann zu lesen. Die Worte waren in schwerfälligen Großbuchstaben von Hand mit einem Filzstift auf die Seite geschrieben:
Liebes Arschloch,
Ihr Scheiß-Anwälte seid doch alle gleich. Du bist ein Arschloch, wenn du diesen Mörder-Briefträger verteidigst. Er verdient auf die gleiche Weise zu sterben wie die hübschen Mädchen, denen er das angetan hat. Und du auch, du Drecksau. Ich beobachte dich. Ich bleib in deiner Nähe. Ich weiß, wo du bist.
Geladen und entsichert und mit freundlichen Grüßen
Colt 45
Teddy ließ den Brief auf seinen Schreibtisch fallen und wünschte, er hätte ihn nicht berührt. Er nahm einen Stift, drehte damit den Umschlag um und prüfte den Absender: 45 Somebody Street, was so viel wie Irgendwostraße hieß. Er musste nicht nachschauen, tat es aber trotzdem. Das Straßenverzeichnis war auf dem Buffet neben seinem Wörterbuch und dem Almanach. Er blätterte durch das Verzeichnis und suchte nach der Somebody Street, konnte sie aber nicht finden, weil es sie nicht gab.
Es war erst sieben Uhr dreißig und der neue Tag fing bereits gut an.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, beobachtete, wie einer der Jungen von der Postabteilung den Wagen den Gang entlangschob und fragte sich, ob die Todesdrohung, die er gerade erhalten hatte, irgendetwas damit zu tun hatte, dass er zum Bootshaus gelockt worden war. Sein erster Gedanke war, dass die Mitteilung von einem wütenden Spinner geschrieben wurde, aber die Worte Ich beobachte dich stachen heraus. Es schien, als ob eine Menge Leute, die er nicht kannte, ihn beobachten würden.
Jill kam zur Tür herein. Sie trug eine Skijacke, ihr Gesicht war von der Kälte ganz rot. Ihre Tasche hing um ihre Schulter und sie hielt einen Becher Kaffee zum Mitnehmen in ihren behandschuhten Händen. »Du bist schon früh da«, sagte sie.
Teddy nickte und versuchte sogar zu lächeln. »Ich muss in einer halben Stunde weg, aber ich komme wieder.« Er wollte sie nicht beunruhigen, indem er ihr die Mitteilung oder den Umschlag zeigte. Während sie ihre Jacke ablegte, schob er den Brief mit dem Umschlag und seinem Stift in die Mordakte, klappte den Ordner zu und steckte ihn in seine Aktentasche. »Hast du zehn Minuten Zeit?«, fragte er.
Sie nickte, brach den Deckel vom Kaffee auf und nahm vorsichtig den ersten Schluck.
»Valerie Kramp«, sagte er. »Ich muss im Internet suchen, was es über sie dort gibt.«
»Die Frau, die man im Fluss gefunden hat?«
Er nickte.
Sie hielt einen Moment inne und nahm es auf, als ob auch ihr Tag schon einen guten Anfang nehmen würde. Dann stellte sie ihren Kaffee auf dem Tisch ab und setzte sich bereitwillig vor den Computer. Als sie ihr Passwort eingab, rollte Teddy seinen Bürostuhl herüber und nahm neben ihr Platz.
»Willst du eine globale Suche?«, fragte sie, »oder sollen wir nur die Zeitungsarchive durchsuchen?«
»Ich will alles«, sagte er.
Jill tippte Valerie Kramps Name in das Suchfenster und drückte auf Eingabe. Schnell erschienen dreißig oder noch mehr Auflistungen auf dem Bildschirm. Jill scrollte die Seite hinunter und siebte Eintragungen über eine andere Frau mit demselben Namen aus, die als Umweltaktivistin in Oregon arbeitet. Als sie fertig war, blieben nur noch fünf übrig. Die ersten drei Links führten zu Vermissten-Organisationen, die Familien Hilfe und Beratung anboten, um mit ihrem Verlust fertig zu werden. Aber der vierte Link führte zu einem Zeitungsartikel im Philadelphia Inquirer vom 29. Oktober, drei Tage nach Valerie Kramps Verschwinden.
Teddy sah sich das Bild des Mädchens an und las die Story: Valerie Kramp aus Manayunk, zwanzig Jahre alt und Studentin an der Kunstakademie von Philadelphia, wurde offiziell vermisst. Kramp teilte sich ein Apartment mit einer Zimmergenossin, die alarmiert war, als Kramp von ihrem täglichen Jogging auf dem Fahrradweg entlang des Schuylkill nicht zurückkehrte. Die Zimmergenossin rief Kramps Eltern an und die informierten die Polizei. Ende der Story.
Jill druckte den Artikel aus und ging dann wieder auf die Suchliste zurück. Teddy konnte den verbleibenden Eintrag nicht zuordnen und fragte nach.
»Es sieht wie eine Newsgroup aus«, sagte Jill. »Wahrscheinlich hat sie jemand unter Valerie Kramps Namen eingesetzt.«
»Sehen wir uns das mal an«, sagte er.
Jill klickte auf den Link und es erschienen einige Hundert Einträge. Fünfzehn Minuten später hatten sie alle gelesen. Die Einträge beliefen sich auf Mitteilungen, die im Verlaufe der letzten sechs Wochen zwischen Kramps Mutter und den Freunden ihrer Tochter hin und her gingen. Mit der fortschreitenden Zeit konnte Teddy den Anstieg von Panik in der Stimmungslage der Mutter spüren, bis vor zwei Wochen, als die Mitteilungen weniger wurden und sich Hoffnungslosigkeit breitmachte.
Teddy fand die ganze Sache beunruhigend, als er darüber nachdachte; quälend und vielleicht sogar makaber. Die Mitteilungen wurden in der Newsgroup gepostet, bevor jemand wusste, was wirklich geschehen war. Bevor jemand wusste, dass Valerie Kramp tot war. Nach dem, was er gerade gelesen hatte, war es offensichtlich, dass sie aus einer Familie mit engen Bindungen kam und keinen Grund hatte wegzulaufen. Das Geld auf ihrem Sparbuch war nicht angerührt und ihr Auto auf dem Platz gefunden worden, wo sie es zum Joggen geparkt hatte. Laut ihrer Zimmergenossin hatte Kramp nicht von persönlichen Problemen mit Freunden gesprochen oder irgendwelche Andeutungen gemacht, dass sie von Zuhause weg wollte. Obwohl die Polizei sie als vermisst betrachtete und ihr Name und Foto in der Datenbank des National Crime Information Centers registriert war, hatte man ihr Verschwinden nicht als mögliche Entführung oder Mord untersucht. Freunde und Familie wurden interviewt, der Fahrradweg wurde mithilfe der Leichensuchhunde abgeklappert, eine Zeugin, die sie beim Joggen gesehen hatte, wurde gefunden, aber es gab keine Beweise, die auf einen gewaltsamen Tod hinwiesen.
Teddy stand auf und zog den Mantel an.
Jill wandte sich ihm zu, ihre braunen Augen musterten sanft sein Gesicht. »Sie hatten aufgehört, nach ihr zu suchen«, sagte sie.
Er schüttelte den Gedanken ab und schnappte sich seine Aktentasche, Frust machte sich in seiner Brust breit. Es lief auf Personalmangel hinaus, dachte er. Und das Fehlen einer einzigen realen Spur wurde durch die Tatsache, dass jeden Tag Erwachsene als vermisst gemeldet werden, noch schlimmer. In Valerie Kramps Fall wurde sie erst gefunden, nachdem der Krieg schon vorbei war. Sie kamen zu spät.