FÜNFUNDDREISSIG

Zwei Blocks von der Walnut Street entfernt gab es eine Buchhandlung. Teddy klappte sein Handy auf, gab seine Büronummer ein und weihte Jill in alles ein, während er sich auf seinem Weg in die Innenstadt durch den Verkehr schlängelte. Sie bot ihm ihre Hilfe an und war einverstanden, zwei Ausgaben von Inferno und Ekstase zusammen mit einer Pizza, zu besorgen. Wenn zwei Leute das Buch lasen, könnten sie es in der Hälfte der Zeit durchhaben.

Teddy legte auf, zog die Visitenkarte von Detective Ferarro aus der Tasche und gab dessen Nummer bei der Einheit für vermisste Personen ein. Der Detective nahm den Anruf an seinem Schreibtisch entgegen und erkannte Teddys Stimme wieder.

»Ich muss wissen, ob es an den Körpern irgendwelche Merkmale gibt«, sagte Teddy.

»Welche Art von Merkmalen an welchen Körpern?«, fragte Ferarro.

»Wir können bei Rosemary Gibb anfangen, aber ich meine die Akten der zehn Mädchen, die Sie an das Morddezernat geschickt haben. Die Familien haben Ihnen Bilder und physische Beschreibungen gegeben. Ich weiß, dass Sie danach gefragt haben. Hat Rosemary Gibbs Mutter irgendwelche Merkmale am Körper ihrer Tochter beschrieben, die sie von anderen unterscheiden würde? Geburtsmale, Muttermale oder Tattoos?«

Es gab eine lange Pause. Teddy dachte, die Verbindung wäre unterbrochen. Als der Detective endlich sprach, bemerkte Teddy die Besorgnis in der Stimme des Beamten und wusste, dass er seine Aufmerksamkeit hatte: »Was wollen Sie damit, Teddy? Es hört sich so an, als ob sie eine Leiche hätten.«

»Ich bin auf dem Weg ins Büro. Ich fragte mich nur wegen der Merkmale. Mir fiel bei den Vermisstenanzeigen auf, dass diesbezüglich nichts erwähnt wurde.«

»Wenn sie irgendwelche besonderen Merkmale hätten«, sagte Ferarro, »wären sie beim FBI registriert und in der Vermisstenanzeige angeführt worden. Rosemary Gibb hatte kein Geburtsmal oder Tattoo.«

»Haben Sie das von ihrer Mutter?«, fragte Teddy.

»Ja, warum?«

»Weil die Möglichkeit besteht, dass Rosemary ein Tattoo haben könnte, wo man es nicht sieht.«

»Sie vergessen, dass wir ihre Freundin im Fitnessstudio befragt haben. Sie hat Rosemary in der Dusche gesehen. Es gibt keine Tattoos.«

»Was ist mit den anderen?«

»Niemand erwähnte, dass sie welche hätten. Sie haben Recht, wenn Sie meinten, dass wir nachfragen. Das tun wir immer.«

Teddy fuhr in die Garage und verlor dabei die Verbindung zu Ferarro. Das Misstrauen des Detectives zu wecken, war ein positiver Schritt und Grund genug gewesen, diesen Anruf zu machen und ihn kurz zu halten. Es war in Rosemarys Interesse. So blieb ihre Akte ganz oben und könnte Ferarro zu neuen Ideen anregen. Vielleicht würde dem Detective etwas auffallen, was ihn dazu bewog, nochmals die Straßen abzusuchen.

Teddy fand einen Parkplatz und eilte zum Aufzug. Er fand Jill mit zwei Taschenbuchausgaben des gewünschten Titels und einer großen Pizza in seinem Büro. Teddy nahm sich eines der Bücher, während er sich setzte. Inferno und Ekstase war die Romanfassung von Michelangelos Leben. Das überraschte ihn und an Jills Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass auch sie verblüfft war. Er hatte ein Buch über Verbrechen erwartet, etwas, das ein Licht auf jenen Mann werfen würde, den sie suchten. Stattdessen war es ein Roman über das Leben eines Künstlers. Noch schlimmer: Das Buch war dick und die Schrift klein.

»Was ist hier los?«, fragte Jill.

Teddy legte das Buch weg und nahm sich ein Stück Pizza. »Nash scheint zu glauben, es sei wichtig.«

»Was hat Michelangelo mit Oscar Holmes zu tun?«

Teddy zuckte mit den Achseln. »Er gab mir ein Rätsel auf. Welche beiden Dinge gedeihen in der Stadt am besten?«

Sie dachte darüber nach, während sie in ein Stück Pizza biss. Auch ihr fiel nichts dazu ein. »Nash ist merkwürdig, Teddy. Das habe ich dir zuvor schon gesagt.«

Sie öffnete ihre Handtasche, zog ein Referat heraus, das sie in der Fakultät geschrieben hatte, und gab es ihm. Sie hatte es in ihrem ersten Jahr für Nash geschrieben, als Strafrecht Pflichtfach war. »Es geht um die Verteidigung des Würgers von Venice Beach«, sagte sie.«

»Wie ging der Fall für Nash aus?«

»Es kommt drauf an, wen man fragt. Weißt du, wo Venice Beach ist?«

»Sicher«, sagte er. »Direkt unterhalb von Santa Monica in Kalifornien.«

»Genau. Es ist nicht in Italien, sondern in Südkalifornien. Es gibt einen Kanal, der sich ein paar Blocks vom Strand entfernt durch die Stadt windet. Die Häuser entlang des Kanals sind teuer. Und traumhaft.«

Teddy riss ein zweites Stück von der Pizza ab und fragte sich, worauf Jill hinaus wollte.

»Einmal im Monat, über ein halbes Jahr lang«, sagte sie, »wachten die Leute, die entlang des Kanals lebten, morgens auf und fanden eine Leiche vor ihren Häusern im Wasser treiben. Es waren immer junge Frauen, vergewaltigt und erwürgt. Die Polizei tat sich schwer, die Leichen zu identifizieren. Es gab keine Hinweise und alle waren in Panik. Nach sechs Monaten hörten die Morde auf.«

»Wie haben sie den Burschen gefunden?«, fragte Teddy.

»Die Morde fingen wieder an. Nur wurden die Leichen diesmal in den Hügeln entlang des Mulholland Drive nördlich von Beverly Hills gefunden. Ein Detective aus Hollywood hat es herausbekommen. Er suchte nach jugendlichen Ausreißern, die scheinbar von den Straßen verschwanden. Er hatte ein Haus in den Hügeln, das er nach dem Erdbeben wieder aufgebaut hatte, und es störte ihn, dass jemand Leichen in seiner Nachbarschaft ablegte. Er arbeitete auf eigene Faust an dem Fall und entdeckte, dass eine Familie von den Kanälen in Venice zum Mulholland Drive umgezogen war. Das Datum und die Orte, an denen die Leichen gefunden wurden, passten zur Zeit des Umzugs. Es stellte sich heraus, dass der Mörder ein zweiundzwanzigjähriger Junge war, der immer noch zu Hause wohnte. Er war psychotisch und hasste seine Eltern. Deshalb legte er die Leichen in der Nähe des Hauses ab, um seine Eltern zu schocken.«

»Nash hat den Jungen freibekommen?«

»Sein Vater war ein leitender Angestellter bei einem der Filmstudios. Sie hatten viel Geld. Nash hat nicht so sehr den Jungen verteidigt, sondern eher den Detective angegriffen, der ihn überführt hatte. Nash nahm sich den Charakter des Mannes vor. Der Detective war von seinen Eltern verlassen worden und wuchs in Armut auf. Nash sagte, der Detective folgte nicht den Beweisen, sondern zielte aus einer tief sitzenden Eifersucht heraus auf den Jungen ab. Er beschuldigte den Detective, mit den Beweisen falsch umgegangen zu sein und sagte, dem Rest könnte man nicht vertrauen. Wegen der Unruhen und Polizeiskandale kaufte ihm die Geschworenen das ab und entschied sich für einen Freispruch.

»Was ist mit dem Jungen passiert?«, fragte Teddy.

»Er wurde auf freien Fuß gesetzt. Drei Tage später fand man ihn im Kanal treiben. Erwürgt.«

»Das klingt, als ob er es verdient hätte. Wer war es? Der Detective?«

Jill schüttelte ihren Kopf. »Nein. Er bearbeitete einen Fall in Florida. Er und sein Partner hatten Los Angeles verlassen, bevor die Verhandlung vorüber war. Sie waren eintausendfünfhundert Kilometer entfernt, als es passierte. Niemand weiß, wer den Jungen ermordet hat. Der Fall ist immer noch ungeklärt.«

»Was glaubst du, wer ihn ermordet hat?«

Sie senkte ihr Pizzastück, unfähig zu essen. »Ich weiß nicht, wer den Mord begangen hat. Vielleicht war es der Bruder oder Vater von einem der Opfer oder ein Polizist, der es nicht mehr hinnehmen konnte. Darum geht es nicht. Ich sage nur, dass Nash Spiele spielt, Teddy. Ich konnte sehen, dass er wusste, dass der Junge schuldig war. Jeder im Seminar konnte das. Nash hat ihn nicht freibekommen, weil es das Richtige war. Er hat ihn freibekommen, weil er es konnte. Nachdem er den Fall gewonnen hatte, war ihm völlig egal, was mit dem Jungen passierte. Sein Interesse hatte dem Spiel gegolten und das war vorbei.«

Teddy schaute auf die Uhr. Es war nach sechs. Jills Paranoia half ihnen nicht weiter. »Wir haben etwas zu lesen«, sagte er.

Sie sah ihn an und nickte, dann musste sie still lächeln, als ob sie wüsste, dass ihre Worte ihn nicht beeindruckt hatten. »Ich hole den Kaffee«, sagte sie.

Sie kochten zusammen eine frische Kanne. Als sie wieder ins Büro zurückkehrten, setzte sich Jill auf die Couch und fing auf Seite eins zu lesen an. Teddy setzte sich hinter seinen Schreibtisch und schlug Inferno und Ekstase auf Seite dreihundert auf, wo er anfing.

Das Lesen ging schnell. Da Teddy immer schon ein Interesse an Kunst hatte, fand er den Roman über Michelangelos Leben faszinierend. Dennoch beunruhigte ihn Jills Geschichte über die Morde in L.A. und seine Gedanken schweiften oft ab. Teddy hatte versucht, ihr eine Chance zu geben und hatte sich ihre Geschichte angehört, weil er Jill mochte und sie bewunderte und sie Freunde waren. Dennoch, als er sie auf der Couch betrachtete, musste er unwillkürlich denken, dass sie irgendwie ein Opfer war, ein Maßstab, wie gut die Medien es geschafft hatten das, was passierte, zu beeinflussen und ihren unsichtbaren, elektrischen Finger auf Holmes zu richten. Es war für Teddy klar, dass Jill dachte, Holmes wäre schuldig. Es war ihm klar, dass sie Angst davor hatte, sie könnten einen Weg finden, ihn freizubekommen. Die Medien waren ein weiterer Spieler in diesem Durcheinander, dachte Teddy. Sie formten die Story in den Köpfen der Leute und lenkten sie mitsamt der Polizei in die falsche Richtung. Jills Ängste schienen absurd, aber genauso absurd war es, dieses Buch jetzt zu lesen, obwohl er wusste, dass er eigentlich nach Rosemary Gibb suchen sollte. Warum hatte Nash darauf bestanden? Was war die Idee, die er bestätigt haben wollte? Welche beiden Dinge gedeihen in der Stadt am besten?

»Seite zweihundertneun«, schrie Jill.

Teddy blickte auf und sah die schreckliche Angst in ihrem Gesicht.

»Zweihundertneun«, sagte sie und hielt den Atem an.

Er fand die Seite und fing an zu lesen. Es war die Geschichte von Michelangelos Bemühungen, Herkules als jungen Mann zu meißeln. Tag für Tag starrte er auf den rohen Stein, nicht in der Lage, den Zauber zu finden. Er fühlte sich unfähig, sogar des Themas nicht würdig. Wie könnte er den Stein angehen, ohne vorher zu wissen, was im Innern des Mannes war? Jeden Mannes? Er hatte die Idee, für seine Studien eine Leiche vom Friedhof zu stehlen, sah aber ein, dass er das nicht vollbringen konnte, ohne erwischt zu werden. Einige Tage vergingen, bis er eine neue Idee hatte: die Totenhalle. Ein Ort, den man die Leichenkammer nannte.

Teddys Augen leuchteten auf. Der Autor verglich es mit einem Zeichen Gottes. Michelangelo schlich sich jede Nacht mit seinem Messer und einer Kerze in die Leichenkammer. Er schlitzte die Leichen mit einem Schnitt von der Brust nach unten auf, beseitigte die Rippen, untersuchte ihre Muskeln und Organe und fühlte das Gewebe in seinen Händen, bis er verstand, woraus ein menschliches Wesen gemacht war.

Welche beiden Dinge gedeihen in der Stadt am besten? Nash arbeitete ein Profil des Mörders aus. Er hatte Recht. Er hatte die ganze Zeit Recht.

»Scheiße«, sagte Teddy. Er warf das Buch hin und nahm das Telefon. Nash war immer noch in seinem Büro und klang müde, fast so, als ob er auf den Anruf gewartet hätte.

»Rechtsanwälte und Künstler«, sagte Teddy. »Das ist es, was in der Stadt am besten gedeiht. Der Mörder ist ein Künstler. Deshalb sehen die Gesichter alle gleich aus. Er arbeitet an einem Gemälde oder an einer Skulptur.«

Er sah Jill an, die vor dem Schreibtisch stand. Die Ermittlungen waren wieder einen Schritt weitergekommen und er konnte erkennen, dass sie es ebenfalls wusste.

»So scheint es«, sagte Nash am Telefon. »Aber ich wollte zuerst wissen, was sie darüber denken. Er wies Darlene Lewis wegen ihrer Tattoos ab und er schnitt Valerie Kramp auf, weil er in ihr Inneres schauen wollte.«

»Aber Michelangelo hat es aufgrund seiner geschichtlichen Zeit getan«, sagte Teddy. »Er hatte nicht die Materialen, die heute verfügbar sind. Er hat bei null angefangen.«

»Das stimmt«, sagte Nash. »Und er hat an Kadavern gearbeitet, sie seziert wie ein Wissenschaftler und zum ersten Mal etwas über Anatomie gelernt. Der Mann, nach dem wir suchen, ist nicht Michelangelo, obwohl er das vielleicht glaubt. Der Mann, nach dem wir suchen, befindet sich jenseits der Grenze des Erlaubten.«

Teddy kam Holmes behelfsmäßiges Atelier in den Sinn. »Holmes ist ein Künstler«, platzte er heraus.

»Das haben Sie zuvor schon erwähnt.«

»Ich habe mir seine Werke aber nicht so genau angesehen.«

»Wenn es Sie beruhigt, sollten Sie dort nochmals vorbeischauen«, sagte Nash. »Aber richten Sie es sich so ein, dass Sie morgen um dreizehn Uhr in meinem Büro sind. Ein Kriminalpsychiater wird bei mir sein. Er kommt aus Washington und arbeitet für das FBI. Ich möchte bis zum Abend ein grobes Profil erstellt haben.«

Teddy legte den Hörer auf. Etwas von der Vorstellung, dass ein Künstler zu einem Serienmörder wurde, fuhr ihm in die Knochen. Die zwei gingen auf dem Gehsteig vielleicht aneinander vorbei, aber sie gingen in entgegengesetzte Richtungen.

Jill räusperte sich und schien durcheinander. »Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe. Ich meinte nicht, dass es ein Spiel sei. Ich hatte es nicht verstanden.«

»Mach dir keine Gedanken«, sagte er, sah auf die Uhr und wählte Carolyn Powells Nummer bei der Staatsanwaltschaft. Ein Mann nahm den Hörer ab. Michael Jackson, nicht der Tänzer, sondern der Detective mit der alten Waffe. »Ich bin froh, dass Sie da sind«, sagte Teddy, »aber ich muss zuerst mit Powell sprechen.«

»Sie ist gerade hinausgegangen, Junge. Mal sehen, ob ich sie noch erwische.«

Teddy wartete eine Weile und sah, dass Jill mit noch einem weiteren Stück Pizza zur Couch zurückkehrte. Sie las wieder im Buch.

Er hörte das Telefon klicken und Carolyns Stimme. »Was gibt’s, Teddy?«

»Ich muss mir nochmals Holmes, Apartment ansehen.«

»Ich habe einen Anruf von Ferarro wegen der vermissten Personen bekommen«, sagte sie. »Er glaubt, dass sich da etwas zusammenbraut.«

»Gut«, sagte er. »Weil sich da tatsächlich etwas zusammenbraut.«

»Was hast du?«

»Nichts, was deine Meinung ändern würde. Noch nicht, jedenfalls. Ich kann nur sagen, dass Ferarro ihr helfen sollte und nicht anders herum.«

Es gab eine lange Pause.

Teddy ließ sich nicht beirren. »Jackson war am Telefon, deshalb weiß ich, dass er da ist. Kann ich heute Abend in Holmes’ Apartment, oder was?«

»Er wird in fünfzehn Minuten dort sein«, sagte sie. Dann legte sie ohne einen Abschiedsgruß auf.