SIEBENUNDDREISSIG

Die seltsamen Blicke und das lange Anstarren fingen in dem Augenblick an, als Teddy aus dem Aufzug stieg. Die Empfangsdame an der Rezeption verzichtete auf ihre üblichen Scherze und blieb schweigsam. Als er den Gang zur Kochnische hinunterging, konnte er spüren, dass sich jeder abwandte.

Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, ging zu seinem Büro und wunderte sich, was los war. Er ließ seine Aktentasche auf die Couch fallen, warf die Morgenzeitung auf den Schreibtisch und setzte sich. Der Kaffee schmeckte abgestanden, obwohl es erst acht Uhr war. Der heiße Koffeinstoß fühlte sich dennoch beruhigend an. Er schlürfte die Brühe in dem Versuch wach zu werden.

Es war wieder eine schlaflose Nacht gewesen. Zwischen Albträumen von einem wahnsinnigen Künstler, der seine Models mit einem rasierklingenscharfen Messer sezierte, und Träumen von Sex mit Carolyn Powell, war die Vorstellung von einer ruhigen Nachtruhe absurd.

Teddy stieß den Inquirer beiseite und nahm sich seine Ausgabe der Daily News. Als er die Zeitung aufklappte und den ersten Blick auf die Titelseite erhaschte, fühlte er, wie sein Puls höher schlug. Er setzte den Becher ab.

Jemand aus der Staatsanwaltschaft hatte Details des Tatortes an die Presse weitergegeben. Noch schlimmer: Jemand war an Holmes herangekommen. Teddys Augen wanderten über das Bild von Holmes, das die ganze erste Seite ausfüllte – ein weiterer verzerrter und besonders gräulicher Schnappschuss von Holmes als Monster. Anstatt einer Überschrift hatten sich die Redakteure für das Zitat Ich esse nicht einmal Fleisch! entschieden und es Holmes zugeschrieben, womit sie ihn als Veggie-Metzger etikettierten. Es war erreicht: Holmes war jetzt ein Serienmörder mit einem Spitznamen. Der Veggie-Metzger.

Teddys Herz blieb fast stehen. Er blätterte die Seite um und versuchte ruhig zu bleiben, während seine Augen die Schlagzeilen aufnahmen. Holmes war vor der ganzen Welt als Kannibale gebrandmarkt. Da war ein alter Schnappschuss von Holmes hinter der Ladentheke seiner Metzgerei zu sehen, wie er ein langes Messer vor drei alten Damen mit großen, weit geöffneten Augen wetzte. Noch ein Foto von Darlene Lewis in einem Bikini am Pool. Dann ein drittes, wie der Leichnam des Mädchens in einem Leichensack aus der Haustür ihres Hauses geschoben wurde.

Teddy fing an zu lesen, die Worte rasten mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Holmes hatte Darlene Lewis aufgeschnitten und sie aufgegessen, teilte eine Quelle, die nahe an der Ermittlung dran war, dem Blatt mit. Als Valerie Kramps Leiche aus dem eisigen Wasser an der Boathouse Row gefischt wurde, stellte der Gerichtsmediziner fest, dass die inneren Organe durcheinandergebracht worden waren, behauptete eine andere, nicht namentlich genannte Quelle. Als Holmes mit den offensichtlichen Anschuldigungen konfrontiert wurde, sagte er zu seiner Verteidigung, dass er ihr Fleisch nicht gegessen haben könne, weil er Vegetarier sei.

Teddy blätterte die Seite um. Er war so nervös, dass seine Hand zitterte. Die Worte DAS HAUTSPIEL sprangen ihm ins Auge. Unter der Überschrift war ein Foto von Jim Barnett. Es war dasselbe Foto, das im Philadelphia-Magazin Power, Ausgabe 100, abgedruckt war. Ein Reporter hatte in Holmes’ Vergangenheit gewühlt und entdeckt, dass Barnett und Holmes verschwägert waren. Das Geheimnis war keins mehr. Barnett würde seinen Traum, es in diesem Jahr auf die Top-Ten-Liste zu schaffen, nicht erreichen.

Teddy warf die Zeitung in den Papierkorb und dachte, dass er jetzt lieber krank wäre. Er hörte jemanden in sein Büro kommen, drehte sich um und erhob sich. Es war Larry Stokes, Mitbegründer der Firma, der ihn wütend anstarrte.

»Was haben Sie getan?«, schimpfte Stokes.

Teddy erstarrte. Er sah Jill im Gang unten, die warnend mit den Händen winkte. Er blickte wieder auf Stokes. Der Mann schäumte, seine Augen waren voller Gehässigkeit, aber auch voller Angst – Jills Warnung kam einen Augenblick zu spät.

»Sie geben mir die Schuld dafür?«, meinte Teddy.

»Und ob ich das tue«, sagte Stokes. »Es hat mich ein ganzes Leben gekostet, um den Ruf dieser Firma aufzubauen. Schauen Sie, was Sie in nur drei Monaten getan haben. Barnett sagte, wir würden keine Verteidigung aufbauen, es würde keine Schlagzeilen geben. Sie tun offensichtlich nicht das, was man Ihnen gesagt hat.«

Teddy schwieg, seine Wut stieg aber. Er wusste, wenn er sagen würde, was er dachte, würde ihn dieser Idiot sofort feuern.

»Er will Sie sofort sehen«, sagte Stokes. »Ich habe gerade mit ihm telefoniert.«

Teddy setzte sich auf seinen Bürostuhl.

»Nicht später«, schrie Stokes. »Sofort. Er ist in Zimmer drei-vierzehn.«

Teddy packte seine Aktentasche und verließ das Zimmer. Als er an Jill vorbeiging, trat sie einen Schritt zurück und zuckte zusammen. Bevor er am Ende des Ganges um die Ecke bog, drehte er sich noch mal um und sah, wie Stokes ihm von der Tür aus immer noch wütend nachschaute.

»Raus mit Ihnen«, sagte der Mann, auf den Absätzen wippend.

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Er fand Barnetts Zimmer im Bryn Mawr Hospital. Die Rollläden waren heruntergelassen, der Mann lag in der Dunkelheit, mit einer Ausgabe der Daily News an seiner Seite und drei Nadeln im Arm. Barnetts Beine waren immer noch durch ein Gewirr von Stahlrohren fixiert, sein Gesicht war eher weiß als blass. Nach einer Weile spürte Barnett Teddys Gegenwart und wandte seinen Blick von der Decke ab. Seine Augen waren hohl und sahen krank aus. Teddy spürte von Barnett keinen Ärger ausgehen, nur Verzweiflung und schreckliche Angst. Als er die Medikamente prüfte, die neben seinem Bett hingen, wurde ihm klar, dass der Mann auf Morphium war.

»Meine Güte, Teddy«, flüsterte er.

Teddy zog einen Stuhl zum Bett heran und setzte sich. Barnett nahm seine Hand und drückte sie, ohne sie loslassen zu wollen. Teddy war es nicht unangenehm, Barnetts Hand zu halten. Die Geste war ein Akt der Freundschaft, etwas, das ein Vater und sein Sohn tun würden.

»Haben Sie sich je Scheiße gefühlt?«, fragte Barnett gequält.

»Ja.«

»Das hier ist noch schlimmer.«

»Der Arzt sagt, dass es gut wird.«

»Der Arzt ist voller Scheiße.« Barnett lächelte und ließ Teddys Hand los, um den Schlauch zu richten, der Sauerstoff in seine Nasenlöcher führte. Als er sich bewegte, stöhnte er und versuchte zu verschnaufen.

»Was zum Teufel ist passiert?«, fragte er nach einer Weile.

»Es gab eine undichte Stelle«, sagte Teddy.

»Eine undichte Stelle? Wenn ein Damm bricht, ist es keine undichte Stelle. Es ist das Ende. Was glauben Sie, wie die Chancen jetzt stehen, dass Holmes vor Gericht eine faire Behandlung bekommt?«

Die Antwort war negativ. Die Geschworenen waren jetzt voreingenommen. Wenn es vor Gericht ging, war der Veggie-Metzger tot.

Teddy warf wieder einen Blick auf das Morphium und bezweifelte, dass Barnett in der Verfassung war, um mit den neuesten Daten über den Falles fertig zu werden. Er versuchte es trotzdem und informierte ihn darüber, was seit seinem Unfall passiert war. Barnett schien besonders erschüttert über die Tatsache zu sein, dass der Staatsanwalt den Bereich der Untersuchung ausgeweitet hatte und jetzt zehn weitere vermisste Frauen mit einbezog. Dennoch bemerkte Teddy den Hoffnungsschimmer in den Augen des Mannes, als er erwähnte, dass Nash glaubte, Holmes wäre unschuldig. Die Hoffnung verflog aber genauso schnell, als Teddy ihre Theorie hochbrachte, dass sie nach einem Künstler suchten.

Als Teddy fertig war, nahm Barnett die Ausgabe der Daily News auf und legte sie auf seinen Schoß. »Genau das hoffte ich zu vermeiden, Teddy.«

»Nash scheint zu glauben, dass wir Fortschritte machen.«

Barnett seufzte und schüttelte den Kopf. »Ihr habt immer noch keine Beweise«, sagte er. »Ihr lasst euch immer noch auf Vermutungen ein und baut auf eine Theorie, die hoffnungsvoll klingt. Holmes ist ein Künstler, aber vielleicht ist er nicht der Künstler, nach dem ihr sucht. Rosemary Gibb wird vermisst und ist vielleicht das Opfer desselben Mannes, von dem ihr keinen Beweis habt, dass er überhaupt existiert oder auch nicht.« Barnett wurde vielleicht Morphium gespritzt, aber es hatte seine Urteilsfähigkeit überhaupt nicht beeinträchtigt. »Ich will Ihnen eine Frage stellen«, sagte Barnett. »Stellen Sie sich vor, wir sind vor Gericht und Sie gehören nicht der Verteidigung an. Stattdessen sitzen Sie bei diesem Fall auf der Geschworenenbank.«

Teddy nickt und hörte bereitwillig zu.

»Die Anklagevertretung präsentiert ihren Fall«, sagte Barnett. »Eine junge Frau wurde brutal ermordet. Ein Mann wird gesehen, wie er von ihrem Haus wegläuft. Die Polizei findet die Mordwaffe im Auto des Mannes. Die DNA verbindet den Mann mit der Mordwaffe und die Waffe mit dem Opfer. Die DNA verbindet den Mann aber auch mit einem anderen Mord, der vor einiger Zeit passiert ist, und es gibt zehn weitere vermisste Frauen, die fast gleich aussehen wie die ersten beiden Opfer. Blutige Kleidungsstücke werden im Müll des Mannes gefunden. Der Mann war von Anfang ein komischer Kauz. Jeder der Geschworenen kann es mit eigenen Augen sehen, einschließlich Ihnen. Und noch besser: Der komische Kauz gibt offen zu, dass er am Tatort war, sich aber nicht erinnern kann, was passiert ist. Die Anklagevertretung füllt die Lücken mit Fotografien der Opfer, einem Schnappschuss des Beschuldigten mit dem Gesicht voller Blut, mit Fingerabdrücken, die an der Leiche gefunden wurden und mit Schaubildern der DNA-Resultate, die eine Übereinstimmung beweisen und statistisch gesehen sicher sind. Können Sie mir soweit folgen?«

Teddy nickte zögernd. Er wusste, worauf Barnett hinauswollte. Er hatte sich das auch schon selber ausgemalt.

»So, jetzt ist die Verteidigung an der Reihe«, sagte Barnett. »Denken Sie daran: Sie sind immer noch Mitglied der Geschworenen. Sie leben nicht in einem Vakuum, deshalb haben Sie schon vor der Verhandlung etwas über den Fall gehört, über den Veggie-Metzger-Fall. Sie erinnern sich daran, über die Morde gelesen zu haben, weil der Veggie-Metzger ein Kannibale ist und Leute frisst. Sie haben die Storys im Fernsehen gesehen, haben sich aber noch keine Meinung gebildet, weil sie entweder vom Hals aufwärts tot oder ein verdammt guter Lügner sind. Die Verteidigung tritt vor. Die Verteidigung sagt, der Veggie-Metzger kann es nicht getan haben, weil er sich um dieses kleine Mädchen aus der Nachbarschaft kümmerte. Der Veggie-Metzger kann es nicht getan haben, weil Serienmörder gewöhnlich nicht vom Tatort wegrennen. Während die Verteidigung zugibt, dass der Mann, der für diese grausamen Taten verantwortlich ist, ein Künstler sein muss, kann es aber trotzdem nicht der Veggie-Metzger gewesen sein, weil der Landschaften malt. Die Verteidigung zeigt Ihnen einen Roman über das Leben von Michelangelo. Sie liest sogar einen Abschnitt aus dem Buch vor. Und wissen Sie was – die Verteidigung hat noch mehr im Ärmel. Es gibt noch ein Opfer da draußen. Die glücksbringende Dreizehn. Noch ein Mädchen, das irgendwie den anderen ähnlich sieht und verschwand, nachdem der Veggie-Metzger verhaftet wurde. Das beweist natürlich, dass der Veggie-Metzger nicht der wahre Mörder sein kann. Obwohl er verrückt aussieht, ist er nicht wirklich ein Kannibale. Er war vielleicht ein Metzger, aber das hat er jetzt alles hinter sich. Die Verteidigung zeigt Ihnen eine Ausgabe dieser Zeitung, deutet auf die erste Seite und stellt die Frage: Wie kann der Veggie-Metzger es gewesen sein, wenn er nicht einmal Fleisch isst?«

Das war eine Vorstellung, von der Teddy wusste, dass er sie nie vergessen würde. Eine Zusammenfassung der Fakten und Argumente, die so vollständig und präzise waren, dass nichts ausgelassen wurde. Barnett sank auf das Bett zurück und stöhnte. Es hatte ihn eine beträchtliche körperliche Anstrengung gekostet, aber er hatte seinen Standpunkt dargelegt und war seinem Ruf als Meister der Endphase eines Verfahrens gerecht geworden. Sie wären ansonsten trotz hohem Zeitaufwand nirgendwo angekommen.

»Schicken Sie mir eine Kopie des Profils«, flüsterte Barnett, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. »Jemand soll es heute Abend herbringen, wenn ihr fertig seid.«

Als Teddy sprechen wollte, winkte Barnett ab und schloss seine Augen. Er sagte, er brauche etwas Ruhe. Es sah aus, als ob seine geistigen Qualen noch größer wären als die Schmerzen, die von seinen gebrochen Beinen kamen. Teddy schob den Stuhl vom Bett weg und ging aus dem Zimmer.