NEUNUNDSECHZIG
Andrews war demaskiert. Trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen wusste jeder, wer beziehungsweise was Andrews war und was er getan hatte, wie tief er in den Schlund menschlicher Abgründe gerutscht war.
Teddy lag auf der Trage und beobachtete, wie Powell und Nash sich Triscos Hautgemälde näherten, während ein Sanitäter seine Schulter behandelte und zwei andere Rosemary aus dem Schnee bargen. Er sah, wie ihre Augen über die Leinwand wanderten, dann innehielten und ihre Gesichter vor Angst und Schrecken erröteten. Die Messlatte war neu angelegt worden. Er konnte erkennen, dass sie das dachten. Trisco hatte den Maßstab des Undenkbaren neu definiert, hatte ihn glatt um einen oder zwei Kilometer nach oben verschoben. Powell und Nash sahen es jedoch zum ersten Mal, fühlten die Provokation, fragten sich, was als Nächstes kommen würde.
Nash sah Teddy einen Moment lang an, als ob er gerade gealtert wäre, dann wandte er sich wieder der Leinwand zu. Teddy konnte hören, wie Vega und Ellwood im nächsten Raum eine kleine Armee von Kriminaltechnikern dirigierten. Als er einen Blick über seine Schulter warf, sah er, wie der Gerichtsmediziner die Überreste von Edward Trisco einpackte. Triscos Augen waren noch geöffnet und er hielt die Gasmaske in der Hand. Da war jedoch etwas Seltsames in seinem Gesicht, Teddy konnte nicht genau sagen, was. Vielleicht war es die Beleuchtung, aber Trisco erinnerte ihn an eine Karikatur eines menschlichen Wesens und wirkte nicht real. Wie ein kaputtes Spielzeug, das ohne Batterie auf dem Boden lag.
Der Sanitäter bat Teddy nach vorne zu schauen, was er auch tat. Die Wunde schmerzte nicht. Die Kugel hatte seine Schulter gestreift. Obwohl er genügend Blut verloren hatte, um geschwächt zu sein, hatte er mehr als Glück gehabt. Vega hatte das Magazin von Andrews’ Waffe geleert: die Kugeln waren Hohlspitzgeschosse. Wenn die Kugel zwei Zentimeter tiefer eingedrungen wäre, hätte sie seine Brust herausgerissen.
Teddy warf einen Blick zum Staatsanwalt hinüber. Er saß auf dem Boden, die Hände hinter dem Rücken – in Handschellen. Die Schrotkugeln, die seine Rückseite übersäten, wurden von den Sanitätern nicht als ernst betrachtet und würden erst später entfernt werden. Seine Augen waren von der Gehirnerschütterung aber immer noch stumpf. Hinter dem leeren Gesicht konnte Teddy jedoch erkennen, dass der Mann kochte.
Andrews blieb dabei, dass es sich um einen Selbstmord handelte. Er hätte den Schuss gehört, sei dem Geräusch in den Raum gefolgt und hätte Trisco am Boden gefunden. Er hätte die Waffe sofort aufgehoben, weil Edward nicht tot war und immer noch gefährlich erschien. Genau da hätte Teddy mit der Pumpgun den Raum betreten. Teddy wollte die Waffe nicht herunternehmen. Um sein Leben bangend, hätte Andrews zur Selbstverteidigung einen Schuss abgegeben und sei geflohen. Die Seriennummer war von der Waffe weggefeilt worden und somit konnte nicht bestimmt werden, wem sie gehörte. Andrews Story hörte sich einigermaßen glaubhaft an, bis Ellwood hinausging und den Wagen des Staatsanwalts durchsuchte. Im Handschuhfach fand er eine Schachtel mit Munition. Hohlspitzgeschosse. Danach verlangte Andrews einen Anwalt und wurde still.
Die Kellerfenster leuchteten auf. Teddy vermutete, dass es die Lichter von Kameras waren und die Presse eingetroffen war. Andrews musste es auch bemerkt haben, denn er starrte nach draußen und sah plötzlich verängstigt aus.
Nach ein paar Minuten betraten Vega und Ellwood den Raum und tauschten Blicke aus. Teddy merkte, dass sie auf die Presse gewartet hatten, bevor sie Andrews in ihren Wagen hinausführten. Sie wollten es auf Video aufgezeichnet. Sie wollten das Bild in den Fernsehnachrichten. Andrews wäre mit einem einzigen, entscheidenden Schlag ruiniert. Er wäre in der Öffentlichkeit blamiert und alle könnten es sehen. Teddy hatte keine Zweifel, dass das Video monatelang immer und immer wieder abgespielt werden würde.
»Das können Sie nicht tun«, schrie Andrews, als sie sich ihm näherten.
»Natürlich können wir das«, sagte Vega. »Gehen wir.«
»Aber die stehen da draußen mit ihren Kameras.«
Ellwood lächelte. »Ja«, sagte er. »Sie werden ein Rockstar sein.«
Andrews schrie auf, als sie ihn an den Schultern packten. Sein Gesicht wurde rot und er fing an zu stottern und grunzende Geräusche zu machen. Er wehrte sich gegen sie, so gut er konnte, duckte sich mit gefesselten Händen von ihnen weg. Als er sich weigerte zu gehen oder überhaupt zu stehen, hatte keiner der beiden Detectives viel Geduld. Stattdessen stemmten sie ihn vom Boden hoch und führten ihn ab. Als sie die Treppe erreichten, fing Andrews an zu heulen.
Teddy fragte sich, ob der Staatsanwalt, der seinen Vater abgeführt hatte, je dafür hatte geradestehen müssen. Er musste das sehen, beschloss er. Er zog die Hand des Sanitäters von seiner Schulter weg, erhob sich von der Trage und folgte den Detectives nach oben. Dann ging er durch das Wohnzimmer zum Fenster und starrte hinaus.
Es war mehr als eine lokale Angelegenheit – die Kameras, die auf den Staatsanwalt warteten, waren zu zahlreich. Ein Polizeifahrzeug stand mit blinkendem Blaulicht direkt vor dem Haus und wartete. Der Wagen sah aus, als ob er extra für diesen Anlass gewaschen und gewachst worden wäre. Teddy bemerkte, dass das polizeiliche Absperrband näher heranverlegt worden war, damit niemandem etwas entging.
Ellwood öffnete die Haustür und sah seinen Partner an. Als sie hinaustraten, wurden die Videokameras für die Nahaufnahmen herangefahren und Blitzlichter leuchteten auf. Das Lichtbombardement war so heftig, dass alles zu beben schien. Andrews versuchte den Kopf zu senken, aber es half nichts: Vega und Ellwood hatten ihn an den Schultern gepackt und schoben ihn auf eine Art und Weise vor sich her, die ihn aufrecht hielt.
Als sie das Auto erreichten, zögerten die Detectives, bevor sie die rückwärtige Tür öffneten. Sie drehten ihren Verdächtigen zu einem ernst schauenden Mann mit Schnurrbart, der in Zivil gekleidet war. Eine neue Welle von Furcht explodierte über Andrews Gesicht. Vega zog eine Karte aus der Tasche. Mikrofone ragten aus der Menge heraus. Sie lasen ihm seine Rechte vor allen vor, wurde Teddy klar. Langsam und mit entsprechend lauter Stimme, dass jeder es hören konnte.
Während Andrews zuhörte, erloschen seine Augen und erreichten ihren Tiefstand, wie ein leerer Himmel nach einer Sternschnuppe. Er war erledigt; ausgelöscht, nachdem er in die Atmosphäre gerast war; verglüht wie ein kleiner Felsbrocken, der nicht genug Masse hatte, um den Boden zu erreichen.